Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 505/2004
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I 505/04

Urteil vom 22. Juni 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Grunder

M.________, 1959, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Marco Biaggi,
Picassoplatz 8, 4010 Basel,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 9. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
M.________, geb. 1959, war seit 1985 als Strassenbauer bei der Firma
Y.________ AG angestellt, welche das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 20.
Juni 1996 aus wirtschaftlichen Gründen auflöste. Seit 28. August 1996 ist er
mit Unterbrüchen teils vollständig, teils zu 50% arbeitsunfähig und geht
seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Am 8. Juli 1998 meldete sich
M.________ zum Leistungsbezug (Umschulung) bei der Invalidenversicherung an.
Dr. med. J.________, FMH Innere Medizin spez. Endokrinologie-Diabetologie,
diagnostizierte ein chronifiziertes Panvertebralsyndrom und chronische
Prurigo (Berichte vom 8. August 1998 und 14. April 1999, je mit weiteren
medizinischen Unterlagen). Die ab 1. April 1999 durchgeführten beruflichen
Massnahmen (Umschulung zum Taxichauffeur; Reinigungsdienst) wurden im
September 1999 abgebrochen. Die IV-Stelle Basel-Stadt nahm in der Folge
weitere medizinische Abklärungen vor (unter anderem  Berichte der Klinik
Z.________ vom 17. September 1999, der Rheumatologischen Klinik Z.________
vom 12. Dezember 2000, und des Spitals V.________, Dermatologische Klinik und
Poliklinik Medizin II, vom 11. Juli 2002) und veranlasste eine
rheumatologische Begutachtung (Expertise des Spitals Z.________ vom 29. April
2002). In Bestätigung der Verfügung vom 26. März 2003 verneinte die IV-Stelle
mit Einspracheentscheid vom 6. November 2003 einen Anspruch auf berufliche
Massnahmen und Invalidenrente.

B.
Hiegegen liess M.________ Beschwerde einreichen und beantragen, es sei die
Sache an die Verwaltung zur Neubeurteilung zurückzu-weisen. Das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wies die Beschwerde ab (Entscheid vom
9. Juni 2004) .

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde wiederholt M.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren. Im Weiteren ersucht er um unentgeltliche
Rechtspflege.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 und die dazugehörige
Verordnung (ATSV) vom 11. September 2002 in Kraft getreten. Weil der
Einspracheentscheid der Invalidenversicherung zwar nach dem 31. Dezember 2002
erlassen worden ist, darin aber auch Sachverhalte beurteilt werden, die vor
dem 1. Januar 2003 eingetreten sind, ist entsprechend dem von der Praxis
entwickelten intertemporalrechtlichen Grundsatz, wonach in zeitlicher
Hinsicht diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des
zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw.
1 und 356 Erw. 1, je mit Hinweisen), der Beurteilung der streitigen
Verhältnisse bis zum 31. Dezember 2002 altes Recht und ab 1. Januar 2003
neues Recht (ATSG) zugrunde zu legen (BGE 130 V 445). Die Umschreibungen der
Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Art. 6 - 8 ATSG)
sowie die Bestimmung über die Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG)
entsprechen indessen den bisherigen, von der Rechtsprechung entwickelten
Begriffen und Grundsätzen (vgl. BGE 130 V 343).

2.
Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde richten sich zunächst
gegen die vorinstanzliche Ermittlung der hypothetischen Vergleichseinkommen,
die der Bestimmung des Invaliditätsgrades zu Grunde zu legen sind.

2.1 Das kantonale Gericht hat das Erwerbseinkommen, das der Beschwerdeführer
erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (Valideneinkommen; Art.
16 ATSG), auf Fr. 59'886.30 festgesetzt. Dieser Betrag entspricht - was
unbestritten ist - dem bei der Firma Y.________ vor Eintritt der
Arbeitsunfähigkeit erzielten Lohn im Jahr 1996, angepasst an die
Nominallohnentwicklung bis ins Jahr 2000.

2.1.1 Im Hinblick auf eine allenfalls mitzuberücksichtigende berufliche
Weiterentwicklung (BGE 96 V 29; RKUV 2005 Nr. U 533 S. 42 Erw. 3.3, 1993 Nr.
U 168 S. 100 Erw. 3b; AHI 1998 S. 171 Erw. 5a) wendet der Beschwerdeführer
wie schon im vorinstanzlichen Verfahren ein, er wäre ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung als Vorarbeiter im Baugewerbe erwerbstätig und würde
dementsprechend besser verdienen. Er begründet diesen Standpunkt im
Wesentlichen mit Hinweis auf seinen beruflichen Werdegang bei der Firma
Y.________ vom Hilfsarbeiter zum Strassenbauer der Kategorie A, die im Rahmen
der Ausbildung zum Vorarbeiter bereits absolvierten Kurse von 1993 und 1995
sowie das vorinstanzlich eingereichte Schreiben des ehemaligen Vorgesetzten
vom 19. Januar 2004.

2.1.2 Im erwähnten Schreiben wird retrospektiv einzig bestätigt, dass der
Beschwerdeführer 1994 und 1995 als Nachfolger des "Chefpoliers im
Strassenbau" vorgesehen war. Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
eingeräumt wird, baute die Firma Y.________ wegen wirtschaftlicher
Schwierigkeiten im Jahre 1996 Personal ab. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis
am 20. Juni 1996 noch bevor der Beschwerdeführer Ende August 1996
arbeitsunfähig geworden war. Unter diesen Umständen steht fest, dass sich der
geltend gemachte Werdegang vom Strassenbauer der Kategorie A zum Vorarbeiter
von vorneweg nicht hat realisieren lassen. Dieser Umstand ist insofern von
Bedeutung, als die berufliche Laufbahn nicht nur von persönlichen
Qualifikationen, sondern regelmässig auch von nicht beeinflussbaren äusseren
Umständen wie etwa der Arbeitsmarktsituation oder der Bedarfslage im
konkreten Arbeitgeberbetrieb abhängt (nicht veröffentlichtes Urteil R. vom
22. Oktober 1991, U 25/91). Mit Blick auf die berufliche Entwicklung bei der
ehemaligen Arbeitgeberin und die begonnene Weiterbildung zum Vorarbeiter
erscheint ein beruflicher Aufstieg in einer anderen Unternehmung, namentlich
der B.________ AG, welche die Firma Y.________ gemäss Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde übernommen hat, zwar als möglich, ist aber
nicht als überwiegend wahrscheinlich zu bezeichnen. Nach dem Gesagten hat die
Vorinstanz die geltend gemachte berufliche Weiterentwicklung bei der
Bemessung des Valideneinkommens zu Recht nicht berücksichtigt.

2.2 Zu prüfen ist auf Grund der Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde weiter, ob die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG)
als einem massgeblichen Faktor für die Bemessung des Invalideneinkommens
vollständig abgeklärt worden ist.

2.2.1 Es ist unbestritten und steht auf Grund der medizinischen Unterlagen,
insbesondere des Gutachtens des Spitals Z.________ vom 29. April 2002, fest,
dass der Beschwerdeführer im angestamm-ten Beruf als Bauarbeiter nicht mehr,
hingegen in einer leichten bis mittelschweren, nicht besonders
rückenbelastenden Tätigkeit, welche abwechselnd im Stehen und Sitzen
verrichtet werden kann, vollständig arbeitsfähig ist. Sodann ist zu
berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer seit der Kindheit an einer
funktionellen Monokelsituation rechts leidet, wodurch er für Feinstarbeit in
der Nähe (z.B. feinmechanische Aufgaben), Arbeiten in der Höhe und zum Führen
von Motorfahrzeugen mit Personen oder schwerem Gütertransport nicht geeignet
ist (Bericht der Universitätsaugenklinik vom 17. September 1999). Das
räumliche Sehvermögen ist allerdings nicht eingeschränkt. Der
Beschwerdeführer macht geltend, zur Einschätzung der erwerblichen
Verhältnisse hätten Verwaltung oder Vorinstanz Unterlagen und eine
Stellungnahme eines Berufsberaters beschaffen müssen.

2.2.2 Bei der Bestimmung des Invalideneinkommens ist von einer ausgeglichenen
Arbeitsmarktlage (Art. 8 und Art. 16 ATSG; alt Art. 28 Abs. 2 IVG)
auszugehen. Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes beinhaltet ein
gewisses Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften,
aber auch einen Arbeitsmarkt, der einen Fächer verschiedenster Tätigkeiten
aufweist (BGE 110 V 276 Erw. 4b), und zwar sowohl bezüglich der dafür
verlangten beruflichen und intellektuellen Voraussetzungen wie auch
hinsichtlich des körperlichen Einsatzes. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
in Industrie und Gewerbe körperlich anstrengende Arbeiten zunehmend durch
Maschinen verrichtet werden, während den Ueberwachungsfunktionen - wie auch
im Dienstleistungsbereich - grosse und wachsende Bedeutung zukommt (ZAK 1991
S. 321 Erw. 3b). Auf einem in diesem Sinne ausgeglichenen Arbeitsmarkt stehen
dem Beschwerdeführer zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten offen (z.B.
Bedienungs-, Ueberwachungs- und Wartungsarbeiten an Maschinen). Von den
beantragten Abklärungen in beruflich-erwerblicher Hinsicht ist abzusehen. Es
obliegt zwar grundsätzlich der Verwaltung, konkrete Arbeitsmöglichkeiten zu
bezeichnen, welche auf Grund der ärztlichen Angaben und unter
Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten des Versicherten in Frage kommen
(BGE 107 V 20 Erw. 2b). An die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und
Verdienstaussichten sind jedoch nicht übermässige Anforderungen zu stellen.
Die Sachverhaltsabklärung hat vielmehr nur soweit zu gehen, als im Einzelfall
eine zuverlässige  Ermittlung des Invaliditätsgrades gewährleistet ist (AHI
1998 S. 290 Erw. 3b), was hier der Fall ist.

Nachdem der Beschwerdeführer seit Eintritt des Gesundheitsschadens keine
Erwerbstätigkeit mehr aufgenommen hat, können nach der Rechtsprechung
Tabellenlöhne gemäss den vom Bundesamt für Statistik periodisch
herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) herangezogen werden (BGE 129 V
475 Erw. 4.2.1, 126 V 76 Erw. 3b mit Hinweisen; RKUV 1999 Nr. U 343 S. 412 f.
Erw. 4b/aa). Der vom kantonalen Gericht gestützt auf die LSE 2000 ermittelte
Wert von Fr. 55'640.- ist zutreffend und wird nicht beanstandet. Nicht zu
prüfen ist der vorinstanzlich vorgenommene invaliditätsbedingte Abzug von
20%, weil selbst bei einer Herabsetzung des Invalideneinkommens mit dem
maximal zulässigen Satz von 25% (BGE 126 V 79 Erw. 5b/aa-cc) ein unter 40%
liegender Invaliditätsgrad resultiert. Es kann daher offen bleiben, ob
Verwaltung oder Vorinstanz hinsichtlich des invaliditätsbedingten Abzugs ihre
Begründungspflicht verletzt haben. Ferner ist es im Ergebnis auch ohne
Belang, dass die Vorinstanz das Valideneinkommen aufgrund der allgemeinen
Zahlen und nicht derjenigen für das Baugewerbe der Nominallohnentwicklung
angepasst hat.

3.
Schliesslich ist der Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen zu
prüfen. Auf die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hinsichtlich
des Eingliederungswillens, dessen Vorliegen das kantonale Gericht in
Bestätigung des Einspracheentscheids vom 6. November 2003 verneint hat, ist
nicht einzugehen, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.

3.1 Was den geltend gemachten Umschulungsanspruch anbelangt, liegt die
Voraussetzung einer erheblichen Invalidität in Form einer Erwerbseinbusse von
etwa 20% (BGE 124 V 110 f. Erw. 2a und b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 130 V
490 Erw. 4.2) vor. Dem Beschwerdeführer ist insoweit zuzustimmen, dass weder
das Fehlen einer Berufsausbildung noch die bisherige Tätigkeit als
Strassenbauer einen Anspruch auf Umschulung grundsätzlich ausschliessen
(Urteil E. vom 16. Dezember 2003 [I 537/03] Erw. 5.2), ein Grundsatz, der
auch der Vorinstanz nicht entgangen ist. Indessen stehen ihm gemäss dem in
Erw. 2.2 hievor Gesagten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, der für die
Beurteilung des Umschulungsanspruchs analog anwendbar ist (ZAK 1973 S. 576
Erw. 4; Urteil L. vom 13. Juli 2004 [I 849/02] Erw. 4), genügend zumutbare
Einsatzmöglichkeiten offen, die er ohne Einschränkung zu erfüllen vermöchte.
Es ist nicht zu erkennen, inwiefern die Ausübung solcher Tätigkeiten eine
Umschulung voraussetzen sollte (Urteile K. vom 3. März 2005 [I 554/04] Erw.
5; R. vom 16. Dezember 2004 [I 485/04] Erw. 6.3). Das kantonale Gericht hat
daher zu Recht einen Umschulungsanspruch verneint.

3.2 Ein Anspruch auf Arbeitsvermittlung scheitert schon daran, dass der
Beschwerdeführer bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle jedenfalls
nicht aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist (vgl. BGE 116 V 81 Erw.
6a mit Hinweis; AHI 2000 S. 69 Erw. 2b), mithin zwischen dem
Gesundheitsschaden und der Notwendigkeit der Arbeitsvermittlung ein
Kausalzusammenhang fehlt. Die Arbeitsfähigkeit ist einzig insoweit
beeinträchtigt, als weiterhin leichte bis mittelschwere Arbeiten vollzeitlich
ausübbar sind, weshalb es praxisgemäss zur Begründung eines Anspruchs auf
Arbeitsvermittlung zusätzlich einer spezifischen Einschränkung
gesundheitlicher Art bedarf (AHI 2003 S. 268, insbesondere 270 f. Erw. 2c und
d mit Hinweisen). An dieser Voraussetzung fehlt es vorliegend, wie die
Vorinstanz richtig festgestellt hat.

4.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher
als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt
Marco Biaggi, Basel, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 22. Juni 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: