Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 500/2004
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I 500/04

Urteil vom 6. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Schmutz

B.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Adrian
Fiechter, Poststrasse 6, 9443 Widnau,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 15. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1968 geborene, seit Mai 1998 vollzeitlich bei der Firma G.________ AG in
der Montage tätig gewesene B.________ meldete sich am 20. Dezember 2001 unter
Hinweis auf starke Schmerzen am ganzen Körper, Lähmungserscheinungen,
ständige Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen
(Fibromyalgie) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach den
Erkenntnissen einer polydisziplinären medizinischen Untersuchung durch die
MEDAS X.________ litt die Versicherte unter einem primären
Fibromyalgiesyndrom und es bestand ein Verdacht auf eine undifferenzierte
Somatisierungsstörung bei histrionischer Persönlichkeitsstörung. Die Ärzte
bezeichneten sie aus internistisch-rheumatologischer Sicht für leichte bis
höchstens mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Vermeidung repetitiven
Hebens von Lasten über 12,5 Kilogramm für voll arbeitsfähig und aus
psychiatrischer Sicht um 20 % eingeschränkt (Gutachten vom 19. Juni 2003).
Gestützt auf dieses Ergebnis lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen das
Leistungsbegehren mit Verfügung vom 17. Juli 2003 und Einspracheentscheid vom
21. November 2003 mangels einer invalidisierenden Erwerbsunfähigkeit ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung einer
mindestens halben Invalidenrente ab 19. Februar 2001 und einer ganzen Rente
ab 17. Mai 2001 wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
Entscheid vom 15. Juni 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ ihr vorinstanzlich
gestelltes Rechtsbegehren erneuern. Eventualiter beantragt sie die Einholung
einer interdisziplinären Oberexpertise und subeventualiter die Rückweisung
der Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG auf
den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der
Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln
heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei einer Änderung der gesetzlichen
Grundlagen - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei
Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge
ist - abweichend vom Entscheid der Vorinstanz - der Rentenanspruch für die
Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt
nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445, Erw. 1 mit Hinweisen). Da die
im ATSG enthaltenen Formulierungen der Arbeitsunfähigkeit, der
Erwerbsunfähigkeit, der Invalidität, der Einkommensvergleichsmethode und der
Revision (der Invalidenrente und anderer Dauerleistungen) den bisherigen von
der Rechtsprechung dazu entwickelten Begriffen in der Invalidenversicherung
entsprechen (BGE 130 V 343 f. Erw. 2 - 3.6), ergibt sich für die vorliegende
Beurteilung des Leistungsanspruches jedoch inhaltlich keine Änderung.

2.
2.1 Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente,
insbesondere das Ausmass der körperlich und psychisch bedingten
Arbeitsunfähigkeit.

2.2 Das kantonale Gericht hat richtig ausgeführt, dass in Art. 6 ATSG der
Begriff der Arbeitsfähigkeit gesetzlich definiert ist und in Art. 16 ATSG die
Bestimmung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten geregelt
wird. Arbeitsunfähigkeit ist nach Art. 6 ATSG die durch eine Beeinträchtigung
der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder
teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare
Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in
einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt. Invalidität ist
gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG (in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 4 Abs. 1
aIVG) die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder
teilweise Erwerbsunfähigkeit. Zur Bestimmung des Invaliditätsgrades gemäss
Art. 16 ATSG (vgl. auch Art. 28 Abs. 2 IVG und Art. 28 Abs. 2 aIVG sowie BGE
104 V 136 Erw. 2a und b), für den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1
und 1bis IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung)
sowie die Rechtsprechung zur Bedeutung ärztlicher Berichte und Gutachten für
die Bestimmung des Invaliditätsgrades (BGE 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw.
3c, 105 V 158 Erw. 1) und zu den Grundsätzen der Beweiswürdigung (BGE 125 V
352 Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c, je mit Hinweisen) wird auf die
zutreffenden Angaben im Einspracheentscheid der Verwaltung verwiesen.

2.3 Zu ergänzen ist, dass auch die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in
Kraft getretenen 4. IVG-Revision nicht anwendbar sind, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Einspracheentscheids (hier: 21. November 2003)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

3.
Zu den geistigen Gesundheitsschäden, welche in gleicher Weise wie die
körperlichen eine Invalidität im Sinne von Art. 8 Abs. 1 ATSG und 4 Abs. 1
IVG zu bewirken vermögen, gehören neben den eigentlichen Geisteskrankheiten
auch seelische Abwegigkeiten mit Krankheitswert. Nicht als Auswirkungen einer
krankhaften seelischen Verfassung und damit invalidenversicherungsrechtlich
nicht als relevant gelten Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit, welche die
versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in
ausreichendem Masse zu verrichten, zu vermeiden vermöchte, wobei das Mass des
Forderbaren weitgehend objektiv bestimmt werden muss (BGE 127 V 298 Erw. 4c
in fine, 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen). Die - nur in
Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen
Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt
jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen
Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder
aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und
Konstanz erfüllter Kriterien voraus.

4.
4.1 Die Gutachter der MEDAS attestierten der Beschwerdeführerin eine
Arbeitsfähigkeit von 80 % in der bisherigen Tätigkeit als Monteurin. Sie
stützten sich dabei auf den Bericht über die im Rahmen eines psychiatrischen
Konsiliums am 19. März 2003 durchgeführte Untersuchung durch Dr. med.
L.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach dessen
Aussagen sollen die bei der Versicherten bestehenden diffusen, schwer
fassbaren und wahrscheinlich nicht objektivierbaren Beschwerden den Verdacht
auf eine undifferenzierte Somatisierungsstörung nahe legen, aber eher zum
Bild ihrer zu Grunde liegenden histrionischen Persönlichkeitsstörung passen.
Aus internistisch-rheumatologischer Sicht bezeichneten die MEDAS-Gutachter
die Beschwerdeführerin für leichte bis höchstens mittelschwere körperliche
Tätigkeiten unter Vermeidung repetitiven Hebens von Lasten über 12,5
Kilogramm als voll arbeitsfähig. Gesamthaft schätzten sie darum die
Arbeitsfähigkeit für leichte bis höchstens mittelschwere frauenspezifische
Tätigkeiten auf 80 %.

4.2 Ab dem 16. Oktober 2003 und somit nach Erstellung des MEDAS-Gutachtens
begab sich die Beschwerdeführerin zu Dr. med. S.________, Spezialarzt FMH für
Psychiatrie und Psychotherapie, in Behandlung. Dieser erklärte in einem
Schreiben vom 19. April 2004 an ihren Rechtsvertreter, er halte die Patientin
durch ihre psychischen Beschwerden zumindest zu 60 % arbeitsunfähig. In Bezug
auf die Fibromyalgie sei die Arbeitsunfähigkeit noch höher. Zu dem im
MEDAS-Gutachten geäusserten Verdacht auf das Vorliegen einer
undifferenzierten Somatisierungsstörung gab er an, er glaube nicht, dass nur
eine solche vorliege, sondern, dass die Patientin unter einer Depression
leide. Er diagnostizierte eine depressive Störung (zur Zeit mittelgradige
depressive Episode auf dem Boden einer kombinierten Persönlichkeitsstörung
[ängstliche und histrionische Persönlichkeit]) und eine generalisierte
Angststörung (Fibromyalgie) mit Niedergeschlagenheit, intensiven Ängsten,
starken Schmerzen, Schlaflosigkeit und Müdigkeit, Schuld- und
Versagensgefühlen.

4.3 Der Rheumatologe Dr. med. A.________ gab in einem Bericht an den Hausarzt
vom 9. September 2003 an, die Arbeitsunfähigkeitschätzung der MEDAS sei ihm
kaum nachvollziehbar. Die Beschwerdeführerin sei auch für eine optimal
adaptierte Tätigkeit zu mindestens 80 % arbeitsunfähig.

5.
Der Psychiater Dr. med. S.________ diagnostizierte in seinem Schreiben vom
19. April 2004 zwar neu eine depressive Störung (mittelgradige depressive
Episode; vgl. Erw. 4.2 hievor), damit ist das Vorliegen einer psychisch
ausgewiesenen Komorbidität in der in Erwägung 3 umschriebenen Ausprägung
jedoch nicht überzeugend dargetan. Der Arzt relativierte seine Aussage selber
stark, wenn er nach einer Behandlungsdauer von gut einem halben Jahr darauf
hinwies, er "glaube", es liege statt einer Schmerzstörung eine depressive
Störung vor. Hinzu kommt, dass nach dem massgebenden Zeitpunkt des
Einspracheentscheids am 21. November 2003 eingetretene Sachverhaltsänderungen
vorliegend nicht berücksichtigt werden könnten (vgl. Erw. 2.3 hiervor).
Zu möglichen Gründen dafür, warum die Einschätzungen der behandelnden Ärzte
zur Zumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung stark von denjenigen
der MEDAS-Gutachter abweichen (Einwirkung durch Krankheits- und
Arbeitsunfähigkeitsüberzeugungen oder bewusste und unbewusste
Beeinflussungsversuche der Patientin), hat sich die Vorinstanz in den
Erwägungen zu ihrem Entscheid ausführlich geäussert. Es kann offen bleiben,
ob solche Mechanismen hier zum Tragen kamen, denn es sind keine triftigen
Gründe dafür gegeben, die Frage der Zumutbarkeit der weiteren
Arbeitstätigkeit abweichend von den Einschätzungen der MEDAS-Gutachter zu
beantworten.

Das einlässliche Gutachten erfüllt die von Rechtsprechung (BGE 125 V 352 Erw.
3a mit Hinweis) und Lehre (Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der
Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, namentlich
für den Einkommensvergleich in der Invaliditätsbemessung, in:
Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen
2003, S. 27 ff., S. 47 f.) an die Beweiskraft von Arztberichten gestellten
Anforderungen.

Die Beschwerdeführerin beschränkt sich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
im Wesentlichen darauf, die vorinstanzliche Beweiswürdigung, speziell die
gegenseitige Abwägung des Beweiswertes der ärztlichen Berichte und des
MEDAS-Gutachtens, anzugreifen. Hingegen setzt sie sich inhaltlich nur am
Rande mit ihm auseinander. Sie bringt dagegen lediglich vor, dass allein
schon der Umstand, dass sämtliche behandelnden Ärzte hinsichtlich der
Arbeitsfähigkeit übereinstimmend zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt seien
als die MEDAS, lasse es als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des
Gutachtens in Frage zu stellen. Dies reicht aber nach dem Gesagten nicht aus.

Verwaltung und Vorinstanz sind somit in korrekter Würdigung des medizinischen
Sachverhaltes zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin für
leichte bis höchstens mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Vermeidung
repetitiven Hebens von Lasten über 12,5 Kilogramm lediglich um 20 %
eingeschränkt ist, und deshalb keine invalidisierende Erwerbsunfähigkeit
vorliegt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 6. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: