Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 486/2004
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I 486/04

Urteil vom 14. Dezember 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Widmer

P.________, 1967, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Karin
Caviezel, Reichsgasse 65, 7000 Chur,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 11. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene P.________ arbeitete seit Januar 1995 als Handlanger im
Maler- und Gipsergeschäft X.________. Am 17. Juli 1998 zog er sich bei einem
Sturz eine Distorsion des linken Handgelenks zu. Für die Folgen dieses
Unfalls erbrachte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die
gesetzlichen Leistungen. Nebst einer Integritätsentschädigung von 17,5 %
sprach sie dem Versicherten mit Verfügung vom 11. Oktober 2000 ab 1. November
2000 eine Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 15 %
zu, woran sie mit Einspracheentscheid vom 6. März 2001 festhielt.

Am 3. November 1999 hatte sich P.________ bei der Invalidenversicherung zum
Rentenbezug angemeldet. Gestützt auf ein Gutachten des Servizio Accertamento
medico dell'assicurazione invalidità  (medizinische Abklärungsstelle der
Invalidenversicherung; im Folgenden: MEDAS), vom 6. April 2001 und die
Ergebnisse eines Aufenthalts des Versicherten in der beruflichen
Abklärungsstelle, Stiftung Y.________ (BEFAS), vom 18. Februar bis 22. März
2002 gelangte die IV-Stelle des Kantons Graubünden zum Schluss, dass
P.________ ab 1. Juli 1999 Anspruch auf eine bis 31. August 1999 befristete
ganze Invalidenrente habe; ab 1. September 1999 sei ihm eine
leidensangepasste Tätigkeit wieder in vollem Umfang zumutbar, weshalb ab
diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Invalidenrente
nicht mehr erfüllt seien. Am 9. Juli 2003 erliess sie die entsprechende
Verfügung, welche sie auf Einsprache hin mit Entscheid vom 29. Januar 2004
bestätigte.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher P.________ unter Beilage
von Berichten des Dr. med. E.________ vom 30. Mai 2002 und des Dr. med.
R.________ vom 1. März 2004 die Aufhebung des Einspracheentscheides und die
Zusprechung einer halben Invalidenrente ab 1. September 1999 hatte beantragen
lassen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden ab (Entscheid vom
11. Mai 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt P.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern; eventuell sei die Sache zur Einholung
eines polydisziplinären Gutachtens und zu neuer Verfügung an die Verwaltung
zurückzuweisen. Ferner ersucht er um die Bewilligung der unentgeltlichen
Verbeiständung. Er reicht u.a. einen Bericht des Dr. med. B.________ vom 26.
August 2004 ein.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im IV-Bereich geändert worden. Bei der
Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG entstandenen
Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung sind die allgemeinen
intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei
einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen - grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen
führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit
bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach
den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445).

2.
Gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen
Fassung) hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Invalidenrente, wenn er
mindestens zu zwei Dritteln, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50 %
und auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40 % invalid ist (Abs. 1);
in Härtefällen besteht bei einem Invaliditätsgrad von 40 % Anspruch auf eine
halbe Rente (Abs. 1bis). Nach Art. 28 Abs. 2 IVG (in der bis Ende 2002 gültig
gewesenen Fassung (seit 1. Januar 2003: Art. 16 ATSG) wird für die Bemessung
der Invalidität das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der
Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch
eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen
könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte,
wenn er nicht invalid geworden wäre. Nach Art. 41 IVG (in der vorliegend
massgebenden, bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) ist die Rente
für die Zukunft entsprechend zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben, wenn
sich der Grad der Invalidität eines Rentenbezügers in einer für den Anspruch
erheblichen Weise ändert. Bei einer Verbesserung der Erwerbsfähigkeit ist die
anspruchsbeeinflussende Änderung für die Herabsetzung oder Aufhebung der
Leistung von dem Zeitpunkt an zu berücksichtigen, in dem angenommen werden
kann, dass sie voraussichtlich längere Zeit dauern wird. Sie ist in jedem
Fall zu berücksichtigen, nachdem sie ohne wesentliche Unterbrechung drei
Monate angedauert hat und voraussichtlich weiterhin andauern wird (Art. 88a
Abs. 1 IVV). Diese Bestimmung gilt nicht nur bei einer Rentenrevision im
Sinne von Art. 41 IVG, sondern ist sinngemäss auch dann anwendbar, wenn
rückwirkend eine abgestufte oder befristete Rente zugesprochen wird (ZAK 1984
S. 133), weil noch vor Erlass der ersten Rentenverfügung eine
anspruchsbeeinflussende Änderung eingetreten ist mit der Folge, dass dann
gleichzeitig die Änderung mitberücksichtigt wird (BGE 109 V 126 f. Erw. 4a).

3.
3.1 Mit Verfügung vom 9. Juli 2003, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 29.
Januar 2004, hat die IV-Stelle dem Beschwerdeführer nach Ablauf der
einjährigen Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG ab 1. Juli 1999 eine bis 31.
August 1999 befristete ganze Invalidenrente zugesprochen mit der Begründung,
dieser sei nach vorgängiger Arbeitsunfähigkeit von 100 % ab 30. August 1999
in einer leidensangepassten Tätigkeit wieder voll einsatzfähig gewesen. Nach
Massgabe des analog anwendbaren Art. 88a Abs. 1 IVV ist dieses Vorgehen
unzulässig. Vielmehr konnte die ganze Rente frühestens mit Wirkung ab 1.
Dezember 1999 aufgehoben werden, falls die den Rentenanspruch ausschliessende
Verbesserung der Erwerbsfähigkeit bis zu jenem Zeitpunkt angehalten hatte und
anzunehmen ist, dass sie darüber hinaus angedauert hat.

3.2 Die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente für die Monate Juli und
August 1999 lässt sich mit Rücksicht auf die seit dem Unfall vom 17. Juli
1998 gemäss Gutachten der MEDAS vom 6. April 2001 bis 29. August 1999
ausgewiesene volle (vom 22. März bis 20. Juni 1999 hälftige)
Arbeitsunfähigkeit und die bei Rentenbeginn bestehende Einschränkung der
Erwerbsfähigkeit von über zwei Dritteln nicht beanstanden. Zu prüfen ist, ob
in der Folge eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist, welche
die Aufhebung der ganzen Rente ab 1. Dezember 1999 (Erw. 3.1 hievor)
begründet, oder ob der Versicherte entsprechend den Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab diesem Zeitpunkt weiterhin Anspruch auf eine
(halbe) Invalidenrente hat.

3.3 Gestützt auf das Gutachten der MEDAS vom 6. April 2001 ist davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer ab 30. August 1999 in seiner bisherigen
Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig war. Ab dem gleichen Datum war er laut
Einschätzung der Experten der MEDAS für eine mittelschwere, seiner
Behinderung angepasste Arbeit voll einsatzfähig. Die knapp ein Jahr nach der
Begutachtung in der MEDAS durchgeführte Abklärung in der BEFAS ergab
ebenfalls, dass der Beschwerdeführer in der Lage wäre, eine leichte bis
mittelschwere Arbeit, bei welcher die linke obere Extremität nicht repetitiv
kraftvoll, durch Vibrationen, Schläge oder hämmernde Bewegungen belastet
wird, zu 100 % auszuüben (Bericht vom 11. April 2002). Auf Grund dieser
übereinstimmenden Angaben seitens der MEDAS und aus arbeitsmedizinischer
Sicht kann ohne weiteres als erstellt gelten, dass der Versicherte ab 1.
Dezember 1999 mit Rücksicht auf seinen Gesundheitsschaden zumutbarerweise
vollzeitlich eine angepasste Erwerbstätigkeit hätte verrichten können. Mit
einer solchen Arbeit hätte er Einkünfte in der Höhe von mindestens Fr. 39
420.- im Jahr, d.h. über 60 % des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität
(Valideneinkommen), erzielen können, welches auf Grund der Angaben der
früheren Arbeitgeberfirma für das Jahr 2002 auf Fr. 65 698.- zu veranschlagen
ist (Prozentvergleich; BGE 114 V 313 Erw. 3a mit Hinweisen). Ab Dezember 1999
sind demnach die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Invalidenrente
zufolge Verbesserung des Gesundheitszustandes mit entsprechenden Auswirkungen
auf die Erwerbsfähigkeit nicht mehr gegeben.

3.4 Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die vom kantonalen Gericht
bestätigte Befristung der Invalidenrente vorgebrachten Einwendungen sind
nicht stichhaltig. Der letztinstanzlich aufgelegte Bericht des Dr. med.
B.________, datiert vom 26. August 2004, und bezieht sich damit nicht auf den
für die richterliche Beurteilung praxisgemäss (BGE 116 V 248 Erw. 1a; RKUV
2001 Nr. U 419 S. 101 Erw. 2a) massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des
Einspracheentscheides (29. Januar 2004), weshalb die Angaben dieses Arztes,
der eine lediglich hälftige Arbeitsfähigkeit für leichte Tätigkeiten
attestiert, nicht berücksichtigt werden können.

Da sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür finden, dass der Beschwerdeführer
bereits zwischen April 2001, als er in der MEDAS u.a. auch psychiatrisch
untersucht wurde, und Januar 2004 (Einspracheentscheid betreffend Bestätigung
der verfügten Rentenbefristung) aus den von Dr. med. B.________ im Bericht
vom 26. August 2004 erwähnten psychischen Gründen zusätzlich in seiner
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt war, ist von weiteren Beweismassnahmen,
insbesondere der Anordnung einer neuerlichen polydisziplinären Expertise, wie
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eventualiter beantragt, abzusehen. Denn
die Tatsache, dass die Begutachtung in der MEDAS rund 2 Jahre vor
Verfügungserlass und 2 3/4 Jahre vor Erlass des Einspracheentscheides
stattfand, steht deren Aussagekraft mindestens so lange nicht entgegen, als
klare Hinweise auf eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation seit
der polydisziplinären Untersuchung fehlen. Im vorliegenden Fall kommt - wie
schon erwähnt - hinzu, dass die von der MEDAS abgegebene Stellungnahme zur
Arbeitsunfähigkeit und zu den dem Beschwerdeführer zumutbaren
Arbeitsleistungen 1 Jahr später im Bericht der BEFAS (vom 11. April 2002)
namentlich auch aus arbeitsmedizinischer Sicht vollumfänglich bestätigt
wurde.

Schliesslich kann entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers beim
Invalideneinkommen nicht auf den von ihm zwischen September 1999 und Februar
2002 in seinem angestammten Beruf mit einem Pensum von 50 % verdienten Lohn
abgestellt werden. Die Voraussetzungen, unter denen der tatsächlich erzielte
Lohn als Invalidenlohn gilt (BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1), sind schon deshalb
nicht erfüllt, weil der Versicherte seine verbliebene Arbeitsfähigkeit nicht
in zumutbarer Weise voll ausschöpfte, sondern die aus gesundheitlicher Sicht
auf Dauer unzumutbare Tätigkeit als Gipser in reduziertem Umfang fortsetzte.
Von einem besonders stabilen Arbeitsverhältnis im Sinne der Rechtsprechung
kann nicht die Rede sein.

4.
Das Verfahren ist kostenlose (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat der mit Bezug auf die Monate September bis November 1999 obsiegende
Beschwerdeführer Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung (Art. 159
Abs. 3 OG). Soweit er unterliegt, ist dem Versicherten die unentgeltliche
Verbeiständung zu gewähren, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 OG) und
Praxis (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen)
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu imstande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 11. Mai 2004 und
der angefochtene Einspracheentscheid vom 29. Januar 2004 dahin abgeändert,
dass dem Beschwerdeführer für die Zeit vom 1. September bis 30. November 1999
eine ganze Invalidenrente zugesprochen wird. Im Übrigen wird die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwältin
Karin Caviezel, Chur, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wird über eine Neuverlegung der
Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden, der Ausgleichskasse der Migros-Betriebe und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 14. Dezember 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: