Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 46/2004
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I 46/04

Urteil vom 24. Februar 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Hadorn

P.________, 1964, Beschwerdeführerin, ver-
treten durch Fürsprecher Beat Kurt, Advokatur-
büro Ilmenhof, Schlösslistrasse 9A, 3008 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 7. Januar 2004)

Sachverhalt:
Mit Verfügung vom 31. Oktober 2003 hob die IV-Stelle Bern die P.________
(geb. 1964) seit dem 1. Mai 1995 ausgerichtete halbe Härtefallrente auf Ende
Dezember 2003 auf. Zugleich entzog sie einer allfälligen Einsprache die
aufschiebende Wirkung. Diese Verfügung bestätigte die IV-Stelle mit
Einspracheentscheid vom 19. November 2003. Dabei wurde auch einer allfälligen
Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen.
Hiegegen liess P.________ Beschwerde führen und unter anderem die
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen. Dieses Begehren wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Zwischenentscheid vom 7. Januar
2004 ab.

P. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die
aufschiebende Wirkung sei wieder herzustellen. Ferner ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die Verordnung über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) vom 11. September
2002 in Kraft getreten. Mit ihnen sind unter anderem auch im
Invalidenversicherungsrecht verschiedene materiell- und verfahrensrechtliche
Bestimmungen geändert worden. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Urteil E. vom 20. März 2003, I 238/02, festgehalten hat, gilt in
materiellrechtlicher Hinsicht der allgemeine übergangsrechtliche Grundsatz,
dass der Beurteilung jene Rechtsnormen zu Grunde zu legen sind, die gegolten
haben, als sich der zu den materiellen Rechtsfolgen führende Sachverhalt
verwirklicht hat (vgl. dazu BGE 127 V 467 Erw. 1, 126 V 136 Erw. 4b, je mit
Hinweisen). Die verfahrensrechtlichen Neuerungen sind mangels gegenteiliger
Übergangsbestimmungen mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem
Umfang anwendbar (vgl. BGE 129 V 115 Erw. 2.2, 117 V 93 Erw. 6b, 112 V 360
Erw. 4a; RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b). Die in ATSG und ATSV
enthaltenen und die gestützt darauf in den Spezialgesetzen auf den 1. Januar
2003 geänderten Verfahrensbestimmungen gelangen daher bereits vorliegend zur
Anwendung.

1.2 Das ATSG enthält keine eigenen Vorschriften zur aufschiebenden Wirkung.
Nach Art. 55 Abs. 1 ATSG bestimmen sich in den Art. 27 bis 54 oder in den
Einzelgesetzen nicht abschliessend geregelte Verfahrensbereiche nach dem
Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 1968 (VwVG; SR 172.021). Art. 56
ATSG, welcher das Beschwerderecht betrifft, enthält ebenfalls keine Regelung
zu einer allfälligen aufschiebenden Wirkung der Beschwerde (Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar, S. 562 Rz 16 zu Art. 56 mit Hinweis auf die Materialien; BGE
129 V 378 Erw. 4.3 in fine). Auch Art. 61 ATSG, welcher den Prozess vor den
kantonalen Versicherungsgerichten regelt, verweist bezüglich der
aufschiebenden Wirkung bloss auf Art. 1 Abs. 3 VwVG. Nach dieser Bestimmung
sind auf das Verfahren letzter kantonaler Instanzen, die gestützt auf
öffentliches Recht des Bundes nicht endgültig verfügen, unter anderem Art. 55
Abs. 2 und 4 über den Entzug der aufschiebenden Wirkung anwendbar.
Vorbehalten bleibt Art. 97 AHVG betreffend den Entzug der aufschiebenden
Wirkung von Beschwerden gegen Verfügungen der Ausgleichskasse. Diese
Vorschrift ist über Art. 66 IVG (in der am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen
Fassung; vgl. den auf Ende 2002 aufgehobenen altArt. 81 IVG ) auch im Bereich
der Invalidenversicherung anwendbar (zum Ganzen: Kieser, a.a.O., S. 564 Rz 21
zu Art. 56).

1.3 Daraus ergibt sich, dass ATSG und ATSV inhaltlich keine neuen
Bestimmungen, etwa zur Frage, unter welchen Bedingungen die aufschiebende
Wirkung entzogen werden kann oder wieder hergestellt werden muss, eingeführt
haben. Vielmehr sind auf Verwaltungsstufe spezialgesetzliche Vorschriften
(Art. 97 AHVG, Art. 66 IVG) anwendbar. Die IV-Stelle war demnach befugt,
einer allfälligen Einsprache gegen ihre rentenaufhebende Verfügung vom 31.
Oktober 2003 sowie einer gegen den Einspracheentscheid vom 19. November 2003
gerichteten Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Da ATSG und
ATSV auch für das Verfahren vor dem kantonalen Gericht keine weiteren Regeln
zur aufschiebenden Wirkung enthalten, bleiben VwVG, kantonales
Verfahrensrecht und die bisher zum Entzug bzw. der Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung ergangene Rechtsprechung hier ebenfalls weiterhin
anwendbar. Sodann ergibt sich auf Grund von ATSG und ATSV auch für den
Prozess über den Entzug der aufschiebenden Wirkung vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht keine Änderung, richtet sich dieser doch laut Art. 62
Abs. 1 ATSG immer noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG; SR 173.110). Eine Änderung der
Rechtsprechung drängt sich sodann nicht auf (vgl. BGE 129 V 376 Erw. 4.3,
wonach auch unter dem ATSG daran festgehalten wird, dass der mit der
revisionsweise verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente oder
Hilflosenentschädigung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die Verwaltung auch für den Zeitraum
dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen Verwaltungsverfügung
andauert).

2.
2.1 Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung.
Als Verfügungen gelten gemäss Art. 5 Abs. 2 VwVG auch Zwischenverfügungen im
Sinne von Art. 45 VwVG, zu welchen Entscheide über die aufschiebende Wirkung
gehören (Art. 45 Abs. 2 lit. g und Art. 55 VwVG). Solche Verfügungen sind
nach Art. 45 Abs. 1 VwVG nur dann selbstständig anfechtbar, wenn sie einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Für das
letztinstanzliche Beschwerdeverfahren ist ferner zu beachten, dass gemäss
Art. 129 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 101 lit. a OG die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Zwischenverfügungen nur zulässig ist,
wenn sie auch gegen die Endverfügung offensteht (BGE 124 V 85 Erw. 2 mit
Hinweisen).

2.2 Beim Entscheid der Vorinstanz vom 7. Januar 2004 handelt es sich um eine
Zwischenverfügung im Sinne von Art. 45 VwVG. Der Rechtsmittelzug für die
Anfechtung von Zwischenverfügungen folgt nach dem Grundsatz der Einheit des
Verfahrens dem Rechtsweg, der für die Anfechtung von Endverfügungen
massgebend ist (BGE 124 V 85 Erw. 2, 116 V 133 mit Hinweisen). Da
Endverfügungen der Vorinstanz im Bereich der Invalidenversicherung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht
unterliegen, ist deren Zwischenentscheid gemäss Art. 45 Abs. 1 VwVG unter der
Voraussetzung selbstständig anfechtbar, dass sie für die Beschwerdeführerin
einen nicht wieder gut zu machenden Nachteil bewirken kann. Nach der
Rechtsprechung liegt ein derartiger Nachteil insbesondere dann vor, wenn die
plötzliche Einstellung finanzieller Unterstützung eine Person aus dem
wirtschaftlichen Gleichgewicht bringen und zu kostspieligen oder sonstwie
unzumutbaren Massnahmen zwingen würde (BGE 119 V 487 Erw. 2b). Vorliegend
geht es um die Aufhebung einer halben Invalidenrente. Der dadurch drohende
Nachteil kann bejaht werden, weshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
einzutreten ist.

3.
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu der beim Entzug der aufschiebenden
Wirkung vorzunehmenden Interessenabwägung (BGE 124 V 88 Erw. 6a; vgl. auch
BGE 105 V 269 Erw. 3) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, würde die
Beschwerdeführerin bei Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bis zum
Abschluss des Hauptverfahrens weiterhin eine halbe Rente beziehen und müsste
im Unterliegensfall materiell zu Unrecht bezogene Leistungen zurückerstatten,
wobei sie sich nicht mit dem Hinweis auf den guten Glauben gegen die
Rückforderung wehren könnte (BGE 105 V 269 Erw. 3). Dabei liegt das Risiko
auf der Hand, dass diese Leistungen nicht mehr erhältlich sein werden.
Demgegenüber vermag die Beschwerdeführerin ein eigenes Interesse nur mit der
eventuellen Notwendigkeit, während der Dauer des Beschwerdeverfahrens die
Fürsorge in Anspruch nehmen zu müssen, sowie der fehlenden Verzinslichkeit
einer allfälligen Nachzahlung geltend zu machen. Die Rechtsprechung hat das
Interesse der Verwaltung an der Vermeidung möglicherweise nicht mehr
einbringlicher Rückforderungen gegenüber demjenigen von Versicherten, nicht
in eine vorübergehende finanzielle Notlage zu geraten, oft als vorrangig
gewichtet, insbesondere wenn auf Grund der Akten nicht mit grosser
Wahrscheinlichkeit feststand, dass die versicherte Person im Hauptprozess
obsiegen werde (BGE 105 V 269 Erw. 3; AHI 2000 S. 185 Erw. 5 mit Hinweisen).

4.2 Vorliegend steht entgegen den Behauptungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde angesichts der medizinischen Akten nicht fest,
dass die Beschwerdeführerin im Hauptverfahren obsiegen wird. Ob die
Rentenaufhebung richtig war, wird erst die eingehende Prüfung dieser
Unterlagen ergeben. Unter solchen Umständen entspricht das Ergebnis der
vorinstanzlichen Interessenabwägung der geltenden Rechtsprechung. Die übrigen
Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen daran nichts zu
ändern.

5.
Das Verfahren um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in einem
Leistungsprozess ist kostenfrei (BGE 121 V 178 Erw. 4a). Die unentgeltliche
Verbeiständung kann gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen
(BGE 125 V 202 Erw. 4b) erfüllt sind. Die Beschwerdeführerin wird jedoch auf
Art. 152 Abs. 3 OG hingewiesen, wonach sie dem Gericht Ersatz zu leisten
haben wird, falls sie dereinst dazu im Stande sein sollte.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Beat
Kurt, Bern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen  Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.-- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 24. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: