Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 464/2004
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I 464/04

Urteil vom 17. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Hadorn

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

1. S.________, 1993,

2. R.________, 1993,
Beschwerdegegnerinnen, vertreten durch ihre
Mutter

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 19. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit zwei Verfügungen vom 12. und 23. Mai 2003 lehnte die IV-Stelle des
Kantons Solothurn ein Gesuch der Zwillingsschwestern R.________ und
S.________ (beide geb. am 12. Januar 1993) um medizinische Massnahmen zur
Behandlung eines Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Diese Verfügungen
bestätigte die IV-Stelle mit Einspracheentscheiden vom 21. August 2003.

B.
Die gegen beide Verfügungen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 19. Juli 2004
insofern gut, als es die Sache im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle
zurückwies.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Die IV-Stelle und beide Schwestern verzichten auf eine Vernehmlassung, wobei
die IV-Stelle die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen zum
Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen zur Behandlung von
Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 13 IVG; Art. 1 GgV), insbesondere
bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), und die hiezu ergangene
Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige Urteile) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zutreffend sind auch die Ausführungen zum
Anspruch auf medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG. Ergänzend ist
auf Art. 8 Abs. 2 ATSG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen
Fassung; vgl. altArt. 5 Abs. 2 IVG) hinzuweisen, wonach nicht erwerbstätige
Minderjährige als invalid gelten, wenn die Beeinträchtigung ihrer
körperlichen oder geistigen Gesundheit voraussichtlich eine ganze oder
teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird.

2.
Die Vorinstanz hat richtig entschieden, dass die Invalidenversicherung unter
Ziff. 404 GgV Anhang keine Leistungen zu erbringen hat. Auf die
entsprechenden Erwägungen im kantonalen Entscheid wird verwiesen. Streitig
und zu prüfen ist einzig, ob sich nähere Abklärungen aufdrängen, da ein
Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen unter Art. 12 Abs. 1 IVG
in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG in Frage kommen könnte.

2.1 Nach der Rechtsprechung können medizinische Massnahmen bei Jugendlichen
schon dann überwiegend der Eingliederung dienen und von der
Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine
Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte,
wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt
würden (BGE 105 V 20; AHI 2003 S. 104 f., 2000 S. 64). Umgekehrt kommen
medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung auch bei Minderjährigen
nicht in Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen Krankheiten richten,
welche nach heutiger Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne
kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden können. Es darf
keine Therapie von unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit
hinweg in Frage stehen, bei der sich hinsichtlich des damit erreichbaren
Erfolges keine zuverlässige Prognose stellen lässt (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b;
jüngst bestätigt im Urteil B. vom 16. Juli 2004, I 52/04, mit zahlreichen
Hinweisen).

2.2 Gemäss Bericht von Dr. med. T.________, Kinderarzt FMH, vom 21. März 2003
stehe bei S.________ eine Behandlung von unbestimmter Dauer an. Es seien
regelmässige neuromotorisch-neuropsychologische Kontrollen von unbestimmter
Dauer, eine medikamentöse Stimulanzientherapie von ebenfalls unbestimmter
Dauer sowie eine Psychomotoriktherapie von voraussichtlich zwei Jahren
vorgesehen. Zu R.________ führt der selbe Arzt im Bericht vom 24. April 2003
aus, es seien regelmässige ärztliche Kontrollen und Stimulanzientherapien
nötig, so lange die Therapiebedürftigkeit bestehe, was voraussichtlich
mehrere Jahre der Fall sein werde. Ausserdem sei eine Psychotherapie nötig,
deren Dauer noch unbestimmt sei. Beide Schwestern erhalten das Medikament
Ritalin.

2.3 Auf Grund der Angaben von Dr. med. T.________ ist erstellt, dass bei
beiden Beschwerdegegnerinnen eine über längere Zeit andauernde Therapie zu
erwarten ist. Die Behandlung mit Ritalin bewirkt nach wissenschaftlichen
Erkenntnissen kurzfristig eine Besserung der Aufmerksamkeitsleistungen und
eine Abnahme der Hyperaktivität. Langfristig sind Stimulanzien ohne Gewöhnung
und Abhängigkeit weiterhin wirksam, wobei allerdings die Wirkung rein
symptomatisch bleibt, sodass eine anhaltende Besserung nach Absetzen der
Medikation auf Nachreifungsprozesse zurückgeführt werden muss (AHI 2003 S.
106 Erw. 4a mit Hinweisen). Vor diesem medizinischen Hintergrund sind auch
die Prognosen ungewiss, da klinische oder wissenschaftlich sichere Faktoren,
welche für individuelle Patienten eine Vorhersage gestatten würden, nicht
existieren (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b). Somit sind die für die
Beschwerdegegnerinnen vorgesehenen Massnahmen nicht geeignet, den Eintritt
eines stabilen Zustandes, wodurch Berufsbildung oder Erwerbsfähigkeit oder
beide beeinträchtigt würden, zu verhindern (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b). Bei
dieser Sachlage steht fest, dass ein Leistungsanspruch auf Grund von Art. 12
IVG zu verneinen ist (vgl. AHI 2000 S. 67 Erw. 4b mit Hinweis), weshalb sich
weitere Abklärungen erübrigen. Die streitigen Massnahmen gehören zum Bereich
der Krankenversicherung. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in
vergleichbaren Fällen von POS mit längerer Behandlungsdauer im selben Sinn
entschieden (erwähntes Urteil B, Urteile B. vom 27. Oktober 2003, I 484/02
und F. vom 14. Oktober 2003, I 298/03).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 19. Juli 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und der IV-Stelle des Kantons Solothurn zugestellt.
Luzern, 17. Dezember 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: