Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 462/2004
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I 462/04

Urteil vom 15. Februar 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin
Schüpfer

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

I.________, 1976, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas
Gabathuler, Schifflände 22, 8024 Zürich,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 19. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Der im Jahre 1976 geborene I.________ meldete sich am 8. Januar 2001 bei der
Invalidenversicherung zur Berufsberatung und Umschulung auf eine neue
Tätigkeit an, da er wegen einer Allergie seinen erlernten Beruf als Coiffeur
nicht mehr ausüben könne. Die IV-Stelle des Kantons Zürich holte unter
anderem einen Bericht der Dermatologischen Klinik des Spitals X.________ vom
19. Januar 2001 ein und klärte die beruflichen Verhältnisse ab. Eine mit
Verfügung vom 22. Oktober 2001 zugesprochene Umschulung zum
Lastwagenchauffeur Kat. C wurde abgebrochen, nachdem beim Versicherten
gesundheitliche Probleme auftraten. Gemäss Bericht des Dr. med. H.________,
Innere Medizin FMH, vom 20. August 2002 kann I.________ nur körperlich wenig
belastende Tätigkeiten, die nicht mit Heben von Gewichten und stereotypen
Handbewegungen verbunden sind, verrichten. In der Folge gewährte die
IV-Stelle dem Versicherten berufliche Massnahmen in Form einer vom 27. Januar
bis 26. April 2003 dauernden beruflichen Evaluation in der Abklärungs- und
Ausbildungsstätte Y.________. Im darüber erstellten Bericht vom 25. April
2003 wird die Absolvierung einer auf zwei Jahre verkürzten Berufslehre als
Elektropraktiker, Fachrichtung Elektronikmontage, im Lehrbetrieb Y.________
empfohlen. Gestützt auf ein Schreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung
(nachfolgend: BSV) vom 8. Mai 2003 wies die IV-Stelle das Gesuch um
Kostengutsprache für die beantragte Umschulung mit Verfügung vom 20. Mai 2003
ab. Daran wurde auf Einsprache hin mit Entscheid vom 1. September 2003
festgehalten.

B.
In Gutheissung der von I.________ hiegegen geführten Beschwerde hob das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Einspracheentscheid vom 1.
September 2003 auf und stellte fest, der Versicherte habe Anspruch auf
Kostenübernahme der Ausbildung zum Elektropraktiker in der Abklärungs- und
Ausbildungsstätte Y.________ (Entscheid vom 19. Juli 2004).

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
ersucht um Wiederherstellung des Einspracheentscheides vom 1. September 2003.

I. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, IV-Stelle, unter
Hinweis auf die Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung Gutheissung
beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist letztinstanzlich lediglich noch - wie sich
insbesondere der Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde entnehmen lässt
-, ob ein Anspruch des Versicherten auf Umschulungsmassnahmen in der
Abklärungs- und Ausbildungsstätte Y.________, demnach in geschütztem Rahmen,
besteht.

2.
Im angefochtenen Entscheid wird richtig ausgeführt, dass in zeitlicher
Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der
Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben, und das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles regelmässig auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
(hier: 1. September 2003) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 129 V 4
Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen).
Im Weiteren werden die Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG in der vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003
gültig gewesenen Fassung) und der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 ATSG), dem Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen
(Art. 8 Abs. 1 IVG), insbesondere solcher beruflicher Art (Art. 8 Abs. 3 lit.
b in Verbindung mit Art. 15 ff. IVG) sowie die Grundsätze zur Abgrenzung von
Massnahmen gemäss Art. 16 und Art. 17 IVG richtig wiedergegeben. Darauf wird
verwiesen.

3.
Das Beschwerde führende Bundesamt, der Versicherte und die IV-Stelle gehen
mit der Vorinstanz einig, dass der Beschwerdegegner Anspruch auf berufliche
Massnahmen im Sinne von Art. 16 Abs. 2 lit. b IVG hat. Wie das kantonale
Gericht richtig und umfassend darlegt, besteht der Anspruch des Versicherten
auf Ersatz der infolge seiner Invalidität entstehenden zusätzlichen Kosten
für eine berufliche Neuausbildung, welche einer erstmaligen beruflichen
Ausbildung gleichgestellt ist. Strittig ist dagegen, was dieser Anspruch im
konkreten Fall beinhaltet. Das BSV bringt vor, es müssten nur Massnahmen
gewährt werden, die das Eingliederungsziel auf einfache und zweckmässige
Weise anstrebten. Zwischen deren Dauer und Kosten einerseits und dem
wirtschaftlichen Erfolg andererseits müsse ein vernünftiges Verhältnis
bestehen. Da Ausbildungen wenn möglich in der freien Wirtschaft erfolgen
sollten, seien sie nur in jenen Fällen in geschütztem Rahmen zu absolvieren,
wo dies aus behinderungsbedingten Gründen notwendig sei. Entsprechend könnten
Leistungen im geschützten Rahmen nur soweit erbracht werden, als dieser eine
unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss einer Massnahme
darstelle. Vorliegend sei der Gesundheitsschaden des Versicherten nicht
derart, dass diese Notwendigkeit bestehe.

4.
Der Anspruch auf konkrete berufliche Massnahmen unterliegt den allgemeinen
Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 IVG, namentlich der Geeignetheit,
Erforderlichkeit, und Eingliederungswirksamkeit. Diese unbestimmten
Rechtsbegriffe können durch die Verwaltung durch Weisungen zwar konkretisiert
werden. Solche sind für das Gericht indessen nicht verbindliche
Auslegungshilfen und damit keine genügende Grundlage, um zusätzliche
einschränkende materiellrechtliche Anspruchserfordernisse aufzustellen, die
im Gesetz nicht enthalten sind (vgl. BGE 129 V 68 Erw. 1.1.1 mit Hinweisen).

Folgte man der Argumentation des Beschwerdeführers, wäre für eine Ausbildung
im Rahmen einer beruflichen Massnahme gemäss Art. 16 IVG in einer Institution
wie der Abklärungs- und Ausbildungsstätte Y.________ immer vorausgesetzt,
dass ein Gesundheitsschaden vorliegt, welcher eine Ausbildung in der freien
Wirtschaft ausschliesst. Eine derartige Einschränkung lässt sich dem Gesetz
hingegen nicht entnehmen. Vielmehr gilt es jeden Einzelfall ohne weitere
Limitierungen zu prüfen und zu beurteilen.

5.
Vorliegend ist zu untersuchen, wie der Anspruch auf eine berufliche
Neuausbildung verwirklicht werden kann. Während der Versicherte, die
Vorinstanz und die verantwortlichen Abklärungspersonen in Y.________ davon
ausgehen, dass der Leistungsanspruch praktisch einzig zu erfüllen ist, wenn
eine - um ein Jahr verkürzte - Lehre als Elektropraktiker, Fachrichtung
Elektronikmontage, in Y.________ absolviert wird, argumentiert das Beschwerde
führende Bundesamt, die Ausbildung habe in der freien Wirtschaft zu erfolgen.
Falls kein entsprechener Ausbildungsplatz gefunden werde, seien dafür
entweder invaliditätsfremde Gründe - insbesondere das Alter des Versicherten
- verantwortlich, was von der Invalidenversicherung nicht zu berücksichtigen
sei, oder der Beschwerdegegner habe sich für eine Ausbildung zu entscheiden,
für welche in der Wirtschaft auch Lehrstellen angeboten würden.

5.1 Letztere Forderung des Beschwerdeführers ist unter anderem im Lichte der
Berufswahlfreiheit gemäss Art. 27 Abs. 2 BV zu prüfen. Bei der Auslegung
einer Rechtsnorm - hier von Art. 16 Abs. 2 lit. b IVG - und der darin
enthaltenen Begriffe sind die Verfassung und insbesondere die Grundrechte in
der Weise zu berücksichtigen, dass unter verschiedenen möglichen Auslegungen
derjenigen Vorrang zu geben ist, die mit dem in Frage stehenden Grundrecht
vereinbart werden kann. Die Berufswahlfreiheit ist zwar durch die
Schadenminderungspflicht des Versicherten eingeschränkt, indessen nicht
aufgehoben. Welchem Interesse der Vorrang zukommt, kann nicht generell
entschieden werden. Als Richtschnur gilt, dass die Anforderungen an die
Schadenminderungspflicht zulässigerweise dort strenger sind, wo eine erhöhte
Inanspruchnahme der Invalidenversicherung in Frage steht. Dies trifft
insbesondere zu, wenn der Verzicht auf schadenmindernde Vorkehren
Rentenleistungen auslösen würde (vgl. BGE 113 V 32 f.). Diese
Versicherungsleistung steht vorliegend indessen nicht zur Diskussion.

5.2 Aus den Akten ergibt sich, dass im fraglichen Zeitpunkt einzig in
Y.________ eine Ausbildung als Elektropraktiker, Fachrichtung Elektromontage,
angeboten wurde. Aus gesundheitlichen Gründen - Rückenbeschwerden und
Vermeiden von statischen Handgelenksbewegungen - kommt einzig diese
Spezialisierung in Frage. Wie in Erwägung 5.1 ausgeführt, hat der Versicherte
ein Anrecht darauf, seinen Wahlberuf zu erlernen, soweit die dafür zu
erbringenden (Mehr-)Leistungen der Invalidenversicherung in einem
vernünftigen Verhältnis zu den ohnehin geschuldeten stehen, seine
Schadenminderungspflicht es also nicht gebietet, in einem anderen Bereich
eine Neuausbildung zu absolvieren. Von einer Verletzung der
Schadenminderungspflicht kann nicht gesprochen werden, als gar nicht
feststeht, dass der Invalidenversicherung durch die geplante Neuausbildung
einen Schaden erwachsen würde, nachdem bisher kein Kostenvergleich der
Varianten, zweijährige Ausbildung in Y.________ einerseits und dreijährige
Lehre in der freien Wirtschaft andererseits, vorliegt. Dabei gilt es auch zu
berücksichtigen, dass sich der Betroffene zur Berufsberatung an die IV-Stelle
gewandt hatte. Diese empfahl schliesslich sowohl den Abklärungsaufenthalt in
Y.________, als auch die nunmehr streitige Ausbildung. Dieser Umstand ist bei
der Prüfung, ob die Schadenminderungspflicht nicht geboten hätte, eine andere
Ausbildung - auf welche der Versicherte unbestrittenermassen grundsätzlich
Anspruch hat - zu absolvieren, gebührend zu berücksichtigen. Da das BSV
einzig grundsätzliche Bedenken äussert, ist nicht davon auszugehen, dass die
Berufswahlfreiheit im konkreten Fall beschnitten werden darf.

6.
6.1 Das BSV geht davon aus, dass insbesondere das "vorgerückte Alter" des
Versicherten, der im Zeitpunkt des Einspracheentscheides 27 Jahre alt war,
eine Ausbildung im Rahmen der Ausbildungs- und Eingliederungsstätte
Y.________ notwendig macht. Das Alter sei hingegen als invaliditätsfremder
Faktor zu werten, sodass es für Leistungen der Invalidenversicherung ausser
Betracht zu fallen habe.

6.2 Grundsätzlich ist dieser Auffassung zuzustimmen. Das Lebensalter gibt
demnach weder vorliegend, noch allgemein Anspruch auf eine Ausbildung in
geschütztem Rahmen. Konkret kann aber der Beschwerdegegner, der eine Lehre
als Elektropraktiker absolvieren möchte, aus Invaliditätsgründen - da er
keine schweren Gewichte haben kann und keine stereotypen Bewegungen des
Handgelenks ausführen sollte - aus allen möglichen
Elektropraktiker-Lehrstellen nur eine solche annehmen, welche
behinderungsangepasst ist. Nach Abklärung der IV-Stelle wird der einzige
entsprechende Ausbildungsplatz in der Ausbildungs- und Eingliederungsstätte
Y.________ angeboten. Das Beschwerde führende Bundesamt hat denn auch nicht
dargetan, dass der Versicherte die genannte Ausbildung andernorts absolvieren
könnte. Da die Schadenminderungspflicht nicht gebietet, dass er einen anderen
Beruf wählt, hat der Versicherte somit Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung gemäss Art. 16 Abs. 2 lit. b IVG in der Ausbildungs-
und Eingliederungsstätte Y.________. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist
abzuweisen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwerdegegner für das
letztinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(inklusive Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.

Luzern, 15. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: