Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 443/2004
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I 443/04

Urteil vom 2. Dezember 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Ackermann

H.________, 1988, Beschwerdeführer, vertreten
durch seine Mutter,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 15. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
H. ________, geboren am 7. September 1988, hatte von September 1990 bis
August 1992 (unter anderem) Anspruch auf einen Pflegebeitrag für eine
Hilflosigkeit leichten Grades, von September 1992 bis September 1994 für eine
Hilflosigkeit mittleren Grades und ab Oktober 1994 für eine Hilflosigkeit
schweren Grades. Anlässlich einer Revision der Pflegebeiträge nahm die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen diverse Abklärungen vor und sprach mit
Verfügung vom 5. Juli 2002 mit Wirkung ab dem 1. September 2002 nur noch
einen Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit mittleren Grades zu, da H.________
in den Lebensbereichen "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" sowie "Essen" nicht mehr
hilfsbedürftig sei. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 17. Juni 2003
teilweise gut und wies die Sache zur weiteren Abklärung an die Verwaltung
zurück, da die IV-Stelle für den Bereich "Aufstehen/Absitzen/Abliegen" nur
auf telefonische Auskünfte abgestellt habe, während betreffend "Essen" eine
Hilflosigkeit bestehe.
In Nachachtung dieses Entscheides führte die Verwaltung am 8. Oktober 2003
eine Abklärung an Ort und Stelle durch und setzte mit Verfügung vom 23.
Oktober 2003 mit Wirkung ab November 2003 die Pflegebeiträge nurmehr für eine
Hilflosigkeit mittleren Grades fest. Auf erhobene Einsprache hin nahm die
IV-Stelle weitere Abklärungen vor und bestätigte mit Einspracheentscheid vom
12. Februar 2004 ihre Verfügung von Oktober 2003.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 15. Juni 2004 ab. Das Gericht erkannte - entgegen
der Verwaltung - zwar auf eine Hilflosigkeit im Bereich
"Aufstehen/Absitzen/Abliegen", verneinte neu jedoch eine Hilfsbedürftigkeit
im Bereich der Körperpflege.

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides sei
ihm weiterhin ein Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit schweren Grades
zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, da
eine erneute Abklärung ergeben habe, dass H.________ in allen sechs
massgebenden Lebensbereichen hilflos sei und der dauernden Überwachung
bedürfe. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG; Urteile L. vom 2. Juni 2004, I 127/04, sowie D.
vom 1. April 2004, I 815/03, beide zusammengefasst resp. erwähnt in HAVE 2004
S. 241 sowie ZBJV 2004 S. 747), den Anspruch Minderjähriger auf
Pflegebeiträge (Art. 20 Abs. 1 IVG; in Kraft gewesen bis Ende 2003) sowie die
bei der Abgrenzung der drei Hilflosigkeitsgrade zu beachtenden
Unterscheidungskriterien (Art. 36 IVV in der bis Ende 2003 geltenden Fassung;
Urteil D. vom 1. April 2004, I 815/03, zusammengefasst resp. erwähnt in HAVE
2004 S. 241 sowie ZBJV 2004 S. 747) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben (BGE 127 V 467 Erw. 1). Weiter stellt das Sozialversicherungsgericht
bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheids eingetretenen Sachverhalt ab
(RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101). Da der Einspracheentscheid vom 12. Februar 2004
datiert und ein Anspruch auf Pflegebeiträge ab November 2003 streitig ist
(vgl. Erw. 2 hienach), wäre gemäss diesem allgemeinen Grundsatz die auf den
1. Januar 2004 in Kraft getretene 4. IVG-Revision hier massgebend. Die
Schlussbestimmungen dieser Gesetzesnovelle vom 21. März 2003 halten in lit. a
Abs. 1 jedoch fest, dass die nach bisherigem Recht zugesprochenen
Hilflosenentschädigungen, Pflegebeiträge für hilflose Minderjährige und
Beiträge an die Kosten der Hauspflege innert eines Jahres nach
In-Kraft-Treten der Gesetzesänderung zu überprüfen seien. Dieser ex lege
vorgesehenen Revision darf im Rahmen dieses Verfahrens nicht vorgegriffen
werden, vielmehr ist nur deren Grundlage - d.h. der bis Ende 2003 bestehende
Anspruch (vgl. auch die Vergleichsrechnung in lit. a Abs. 4 der
Übergangsbestimmung) - zu überprüfen. Damit besteht hier eine der allgemeinen
Übergangsregelung vorgehende spezielle Norm, weshalb die 4. IVG-Revision
nicht anwendbar ist und folglich die bis Ende 2003 geltenden Bestimmungen
massgebend sind.

2.
Streitig ist, ob der Versicherte auch über November 2003 hinaus Anspruch auf
einen Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit schweren Grades hat.

2.1 Die Vorinstanz hat - im Gegensatz zur Auffassung der Verwaltung im
Einspracheentscheid von Februar 2004 - die Hilflosigkeit im Bereich
"Aufstehen/Abliegen/Absitzen" zwar bejaht, sie jedoch neu im Bereich der
Körperpflege verneint, da die Mutter des Versicherten eine Dritthilfe
verneint habe, das angegebene Putzen der Zahnspange nicht ausreiche und die
Notwendigkeit der Kontrolle, ob Ohren und Hals gründlich gewaschen seien,
nicht im Zusammenhang mit der Behinderung stehe, sondern Folge des
Lebensalters sei. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird demgegenüber
vorgebracht, dass eine Dritthilfe beim Waschen notwendig sei, nicht
Nachlässigkeit, sondern fehlende Gelenkigkeit das Waschen an allen Stellen
verunmögliche und neu auch eine Hilflosigkeit bei der Rasur bestehe. In ihrer
Vernehmlassung anerkennt die IV-Stelle - nicht zuletzt aufgrund einer
erneuten Abklärung im August 2004 - die Hilflosigkeit im Bereich
"Aufstehen/Abliegen/Absitzen", während sie eine Hilfe im Bereich der
Körperpflege bereits bisher als notwendig erachtet hat und auch weiterhin als
nötig ansieht.

2.2 Nach Lage der Akten ist erstellt und auch nicht mehr bestritten, dass der
Versicherte im Bereich "Aufstehen/Abliegen/Absitzen" hilflos ist.

2.3 Betreffend Waschen ist im Abklärungsbericht vom 8. Oktober 2003 die
Frage, ob eine regelmässige Hilfe notwendig sei, mit nein angekreuzt worden,
wobei jedoch zusätzlich vermerkt ist, dass Hals und Ohren nicht immer
gründlich gereinigt würden, da sich der Beschwerdeführer selber wasche. Die
Mutter führt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde diesbezüglich aus, dass
diese Mängel der Reinigung nicht Folge einer Nachlässigkeit seien, sondern
auf einer mangelnden Gelenkigkeit beruhten, was die Verwaltung aufgrund ihrer
Abklärungen bestätigt. Damit ist die Hilflosigkeit auch in diesem Bereich zu
bejahen. Offen bleiben kann deshalb, ob die letztinstanzlich erstmals
erwähnte Hilfsbedürftigkeit beim Rasieren schon im Herbst 2003 notwendig
gewesen ist oder ob der Bartwuchs erst später in einem Umfang eingesetzt hat,
der ein Rasieren (und allenfalls eine diesbezügliche Hilfestellung) notwendig
macht.
Damit ist davon auszugehen, dass der Versicherte in allen alltäglichen
Lebensverrichtungen hilflos ist und der dauernden persönlichen Überwachung
bedarf, weshalb ein Anspruch auf einen Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit
schweren Grades über November 2003 hinaus besteht (Art. 36 Abs. 1 IVV in der
bis Ende 2003 geltenden Fassung).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 15. Juni 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 12. Februar 2004
aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer über November
2003 hinaus Anspruch auf einen Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit schweren
Grades hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 2. Dezember 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: