Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 426/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


I 426/04

Urteil vom 29. September 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

CSS Kranken-Versicherung AG, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin,

betreffend O.________, 1983

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 15. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1983 geborene O.________ leidet seit 1994 an Morbus Perthes rechts, in
dessen Folge sich eine (sekundäre) Coxarthrose rechts entwickelte. Die
Invalidenversicherung sprach ihm verschiedene medizinische Massnahmen zu. Am
18. November 2002 wurde bei O.________  eine Hüfttotalprothesen-Implantation
rechts vorgenommen. Mit Verfügung vom 9. Juni 2003 lehnte die IV-Stelle
Aargau ein Gesuch um Übernahme dieser Kosten ab, wobei sie zur Begründung
ausführte, dass mit der Hüftprothese kein dauerhafter Eingliederungserfolg
erreicht werde. Daran hielt die IV-Stelle auf Einsprache des Versicherten hin
fest (Entscheid vom 17. Juli 2003).

B.
Eine von der CSS Versicherung (heute: CSS Kranken-Versicherung AG;
nachfolgend: CSS) hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau, welches O.________ als Mitinteressierten zum Verfahren
beilud, mit Entscheid vom 15. Juni 2004 in dem Sinne gut, dass es den
Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die IV-Stelle zur Vornahme
weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen sowie zu anschliessend neuem
Entscheid über den Anspruch auf medizinische Massnahmen zurückwies.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Wiederherstellung der
Verfügung vom 9. Juni 2003.

Die CSS schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
beantragt, die Hüftprothesenimplantation sei O.________ als medizinische
Eingliederungsmassnahme zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zur weiteren
Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Die IV-Stelle verzichtet auf eine
Vernehmlassung. Der als Mitinteressierter zum Verfahren beigeladene
O.________ lässt sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen.

D.
Bezug nehmend auf die in der Vernehmlassung der CSS enthaltenen Hinweise auf
die Fortschritte der Medizinaltechnik im Bereich der Hüftendoprothesen hat
das BSV im Nachgang zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde einen Artikel von
Böni/Boos/Dumont et al. (Orthopädie 2001: Langzeitdisziplin par excellence,
in: Schweiz Med Forum Nr. 1/2 vom 9. Januar 2002, S. 10 ff.) eingereicht,
welcher den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnisnahme zugestellt worden ist.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im angefochtenen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen zum
Anspruch von Personen vor vollendetem 20. Altersjahr auf medizinische
Massnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG; Art. 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8
Abs. 2 ATSG) sowie die zu den medizinischen Massnahmen ergangene
Rechtsprechung (BGE 120 V 279 Erw. 3a mit Hinweisen; AHI 2000 S. 64 Erw. 1;
vgl. auch AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 298 Erw. 1a), insbesondere zu den
Voraussetzungen der Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolges (vgl. auch AHI 2000 S. 298 Erw. 1b und 1c) sowie zu
dem für deren Beurteilung massgebenden Sachverhalt (BGE 98 V 34 Erw. 2),
zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben wird auch die Rechtsprechung zur
Übernahme von Coxarthrose-Operationen (insbesondere Total-Endoprothesen) als
medizinische Eingliederungsmassnahme (BGE 101 V 47 Erw. 1b). Darauf wird
verwiesen.

1.2 Zu Recht wird im kantonalen Entscheid sodann festgehalten, dass die am 1.
Januar 2004 in Kraft getretenen Bestimmungen der 4. IV-Revision keine
Anwendung finden, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des
streitigen Einspracheentscheides (hier: 17. Juli 2003) eingetretene Rechts-
und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht
berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweis).

2.
2.1 Die IV-Stelle verneinte einen Anspruch auf Übernahme der Totalendoprothese
als medizinische Massnahme unter Berufung auf Rz. 732/932.5 des (als
Verwaltungsweisung für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlichen
[BGE 130 V 172 Erw. 4.3.1, 232 Erw. 2.1, je mit Hinweisen]) Kreisschreibens
über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung
(KSME). Danach stellt das Einsetzen von Endoprothesen unabhängig vom Alter
der Versicherten angesichts der gegenwärtigen Erfahrungen bezüglich
Dauerhaftigkeit des Erfolges keine medizinische Eingliederungsmassnahme dar;
dies gilt auch für die neue Generation der zementfrei verankerten Prothesen.

2.2 Die Vorinstanz hielt dieser von der Verwaltung vertretenen Auffassung
entgegen, dass die Frage, ob das Einsetzen von Totalendoprothesen als
wesentlich und dauernd im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG zu betrachten sei,
nicht generell, sondern für jeden Einzelfall gesondert zu ermitteln sei. An
der Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges beim am Recht stehenden
Versicherten würden sodann weder von Seiten der IV-Stelle Zweifel geäussert
noch ergäben sich solche aus den Akten. Angesichts der medizinischen
Unterlagen sei wohl davon auszugehen, dass der Eingriff hinreichend wirksam
gewesen sei und dem Versicherten ermöglicht habe, seine Ausbildung im Juli
2003 abzuschliessen. Explizite ärztliche Stellungnahmen hinsichtlich der
Frage, inwieweit durch den Eingriff die Erwerbsfähigkeit des Versicherten vor
wesentlicher Beeinträchtigung habe bewahrt werden können, fehlten aber.
Ebenso wenig gehe aus den medizinischen Akten hervor, auf welche
voraussichtliche Zeitspanne die Funktionstüchtigkeit der
Hüfttotalendoprothese rechts beim Versicherten im Hinblick auf dessen
Erwerbstätigkeit zu veranschlagen sei. Die Beurteilung der Dauerhaftigkeit
des Eingliederungserfolges sei dem Versicherungsgericht daher nicht möglich.
Nicht geklärt sei schliesslich auch die Frage, ob der medizinische
Operationserfolg und der invalidenversicherungsrechtlich massgebende
Eingliederungserfolg mit allfälligen gesundheitlichen Risiken (etwa infolge
Fortschreiten des Morbus Perthes oder wegen anderer Nebenbefunde) behaftet
seien. Da damit der relevante Sachverhalt nicht genügend ermittelt sei, sei
die Sache zur ergänzenden Abklärung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

2.3 In seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde verweist das BSV auf den Bericht
der Arbeitsgruppe Schär, welche sich im Jahre 1980 mit dem
Eingliederungserfolg von Hüfttotalendoprothesenoperationen befasst hat. Es
macht geltend, dass die Invalidenversicherung seit diesem Bericht, der nach
mehr als zwanzig Jahren an Aktualität nichts verloren habe, keine
Implantationen von künstlichen Hüftgelenken im Rahmen von Art. 12 IVG mehr
übernommen habe, weil nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von einem
wesentlichen und dauerhaften Eingliederungserfolg ausgegangen werden könne.
Dass diese auf dem Bericht der Arbeitsgruppe basierende Praxis zu Beginn der
Neunzigerjahre noch rechtens gewesen sei, habe das Eidgenössische
Versicherungsgericht in den Urteilen D.S. vom 30. Dezember 1993, I 180/93,
und S. vom 30. März 1994, I 250/93, bestätigt. Bei dieser Sachlage sei von
einer Rückweisung der Akten abzusehen, weil aus ihr keine neuen fundamentalen
Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Im Übrigen sei es nur beschränkt
möglich, die von der Vorinstanz für erforderlich gehaltenen Angaben zur
Prognose im Einzelfall zu machen. Zur Stützung seines Standpunktes reichte
das BSV nach Abschluss des Schriftenwechsels medizinische Literatur
(Böni/Boos/ Dumont et al., Orthopädie 2001: Langzeitdisziplin par excellence,
in: Schweiz Med Forum Nr. 1/2 vom 9. Januar 2002, S. 10 ff.) ein, welche
seiner Auffassung nach aufzeigen, dass die Fortschritte in der
Medizinaltechnik im Bereich der Hüftendoprothesen, auf welche die CSS
vernehmlassungsweise hingewiesen hatte, zu relativieren sind.

3.
3.1 Was die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges von
Hüftgelenksprothesen anbelangt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
in BGE 101 V 43 gestützt auf ein von Prof. Dr. med. T.________  erstattetes
Gutachten entschieden, dass selbst bei sonst günstigen Voraussetzungen ein
unter dem Gesichtspunkt von Art. 12 IVG relevanter Eingliederungserfolg kaum
auf eine fünf Jahre wesentlich übersteigende Dauer prognostiziert werden
dürfe. In BGE 106 V 80 wurde dieser Grundsatz ausdrücklich bestätigt unter
Hinweis auf den Bericht einer vom Eidgenössischen Departement des Innern im
Jahre 1979 eingesetzten, unter dem Vorsitz von Prof. Dr. med. Schär stehenden
Arbeitsgruppe (publiziert in ZAK 1980 S. 201 ff.), gemäss welchem
Endoprothesen-Operationen des Hüftgelenkes in der Regel keine medizinische
Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung sind und die medizinischen
Eingliederungserfolge zwar an sich beachtlich sind, doch die berufliche
Eingliederung wesentlich schlechter verläuft, als es die medizinischen
Ergebnisse erwarten lassen (ZAK 1980 S. 208). An dieser Rechtsprechung hielt
das Gericht in der Folge fest (nicht veröffentlichte Urteile B. vom 27.
September 1991, G. vom 7. März 1985, I 532/94, W. vom 29. April 1983, I
12/83, und T. vom 5. Juli 1982, I 286/81). Im Jahre 1993 lehnte es ein
Abgehen von diesen Grundsätzen und die Einholung eines ergänzenden Gutachtens
bei einem Arzt oder einer Klinik mit langjähriger Erfahrung mit zementfrei
implantierten Prothesen ab, dies mit der Begründung, der Beobachtungszeitraum
für die neuen Implantate sei zu kurz, um über verlässliche, auch statistisch
hinreichend untermauerte Angaben zum Behandlungs- und Eingliederungserfolg zu
verfügen (nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 17. Juni 1993, I 333/92; vgl.
auch nicht veröffentlichtes Urteil D.S. vom 30. Dezember 1993, I 180/93; in
RDAT 1994 II Nr. 90 S. 179 publiziertes Urteil S. vom 30. März 1994, I
250/93).

3.2 Im Urteil S. vom 25. Mai 2004, I 87/03, hat sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht erneut mit der (vom BSV ohne weiteres bejahten) Frage,
ob der Bericht der Arbeitsgruppe Schär von 1980 heute noch Gültigkeit hat,
auseinandergesetzt. Es erwog, dass sich die medizinischen Verhältnisse in
Bezug auf Hüfttotalendoprothesen seit 1975, als gestützt auf das von Prof.
Dr. med. T.________ erstattete Grundsatzgutachten (vom 29. August 1974) das
in BGE 101 V 43 veröffentlichte Urteil S. erging, wesentlich verändert haben
dürften. Der im damaligen Zeitpunkt auf 5 bis 10 Jahre veranschlagte
medizinische Erfolg von Endoprothesen-Operationen (BGE 101 V 51) werde heute
nach vorsichtigen Schätzungen - namentlich auch nach den vom BSV im damaligen
Verfahren eingereichten Unterlagen - mit 10 bis 15 und nach grosszügigeren
Schätzungen mit 15 bis 20 Jahren beziffert. Es könne nicht ohne weiteres
ausgeschlossen werden, dass sich auch die invalidenversicherungsrechtlichen
Eingliederungschancen gleichzeitig verbessert haben könnten. Nachdem das von
Prof. Dr. med. T.________ erstattete Gutachten mittlerweile fast dreissig und
der Bericht der Arbeitsgruppe Schär fünfundzwanzig Jahre zurücklägen und
anzunehmen sei, dass heute verlässliche, auch statistisch hinreichend
untermauerte Angaben zum Behandlungs- und Eingliederungserfolg gemacht werden
könnten, sei der Vorinstanz zuzustimmen, wenn sie weitere medizinische
Abklärungen über den invalidenversicherungsrechtlichen Eingliederungserfolg
der neueren Hüftgelenksprothesen für angezeigt halte.

3.3 Diese Überlegungen gelten auch für den vorliegend zu beurteilenden Fall.
Die Vorinstanz hat die Sache demnach ebenfalls zu Recht an die IV-Stelle zur
Vornahme weiterer Abklärungen zum invalidenversicherungsrechtlichen
Eingliederungserfolg zurückgewiesen. An der Richtigkeit des kantonalen
Rückweisungsentscheides vermag der vom BSV ins Recht gelegte Auszug aus
Schweiz Med Forum Nr. 1/2 vom 9. Januar 2002 (S. 10 ff.) nichts zu ändern.
Denn wie der Eingliederungserfolg von Hüftgelenksprothesen heute zu
beurteilen ist, namentlich ob der von Prof. Dr. med. T.________ im
Grundsatzgutachten vom 29. August 1974 ermittelte Wert, auf den sich auch Rz.
732/932.5 KSME stützt, nach wie vor Gültigkeit hat, lässt sich dem Beitrag
nicht entnehmen, wird doch darin einzig ausgeführt, dass die neuen oder
verbesserten Materialien den Test der Zeit noch nicht bestanden hätten und
gelenkserhaltende Eingriffe an Bedeutung gewinnen würden. Beizupflichten ist
dem BSV einzig insoweit, als es in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend
macht, dass die von der Vorinstanz für erforderlich gehaltene Prognose im
Einzelfall schwierig zu stellen sei. Die Rechtsprechung erachtet es deshalb
als zulässig, "mangels prognostischer Beweiskraft im Einzelfall auf den [...]
statistischen Durchschnittswert" abzustellen (nicht veröffentlichtes Urteil
G. vom 7. März 1985, I 532/84, Erw. 3b).

Nicht zu beanstanden ist sodann auch, dass die Vorinstanz als weiteren Grund
für die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle angeführt hat, dass beim
Versicherten ein krankhafter Nebenbefund vorliegen könnte, der seinerseits
geeignet wäre, die Aktivitätserwartung des Versicherten trotz der Operation
gegenüber dem statistischen Durchschnitt wesentlich herabzusetzen. Denn
selbst wenn die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges gestützt auf die
vorzunehmenden medizinischen Abklärungen grundsätzlich zu bejahen wäre,
stellte sich die Frage, ob ein Nebenbefund im November 2002 einer günstigen
Prognose hinsichtlich Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des mit der
Endoprothesen-Operation erreichbaren Eingliederungserfolges entgegenstand
(vgl. dazu BGE 101 V 48 Erw. 1b mit Hinweisen; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b; SVR
2004 IV Nr. 13 S. 40 Erw. 8.1). Auch in diesem Punkt ist der vorinstanzliche
Entscheid rechtens.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der IV-Stelle des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und
O.________ zugestellt.

Luzern, 29. September 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:
i.V.