Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 416/2004
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I 416/04

Urteil vom 29. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Scartazzini

D.________, 1975, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Peter Sutter, Niedern 117, 9043 Trogen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 29. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1975 geborene D.________ musste sich am 26. Januar 2000 wegen Auftreten
eines Riesentumors HWK 5 an der Klinik für Orthopädische Chirurgie des
Spitals X.________ einer Korporektomie C5, einem Wirbelkörperersatz mit
Titankorb und Auffüllung mit Palacos sowie einer ventralen Spondylodese mit
Morscherplatte C4 unterziehen. Zuvor hatte er eine Anlehre als Fahrzeugmaler
absolviert, war vom 1. Oktober 1996 bis 31. März 1999 als Autolackierer tätig
gewesen und arbeitete vom 31. Mai bis zum 26. August 1999 im Paketeversand
bei der Firma T._________. Im April 2000 gelangte er an die
Invalidenversicherung und ersuchte um Berufsberatung, Umschulung auf eine
neue Tätigkeit und Arbeitsvermittlung. Auf Grund zahlreicher Arztberichte und
Abklärungsergebnisse bezüglich der beruflichen
Wiedereingliederungsmöglichkeiten, insbesondere nach einem durchgeführten,
aber  misslungenen Arbeitsversuch sowie nach einem für die Zeit vom 12.
August 2002 bis 11. August 2004 zugesprochenen Anspruch auf Umschulung zum
Büroangestellten im Bürozentrum Y.________ (Verfügung vom 3. Juli 2002),
welcher Eingliederungsversuch Ende Januar 2003 ohne Erfolg abgebrochen wurde,
prüfte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die Frage der allfälligen
Ausrichtung einer Invalidenrente. Mit Verfügung vom 4. Juni 2003 eröffnete
sie dem Versicherten, bei einem Invaliditätsgrad von 50 % stehe ihm ab 1.
Juni 2003 eine halbe Rente, einschliesslich der Zusatzrente für die Ehefrau
und Kinderrente zu. Mit weiteren Verfügungen vom 19. Juni 2003 wurde
bestimmt, dass D.________ für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Oktober 2001,
vom 1. November 2001 bis 31. März 2002, vom 1. Dezember bis 31. Dezember 2002
und vom 1. Februar bis 31. Mai 2003 ebenfalls eine halbe Rente der
Invalidenversicherung beanspruchen könne. Die gegen die Verfügung vom 4. Juni
2003 gerichtete Einsprache wies die Verwaltung mit Einspracheentscheid vom

17. September 2003 ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde mit den Anträgen, es sei dem  Versicherten
eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zur
Vornahme weiterer Abklärungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, hiess
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 29. April
2004 insoweit teilweise gut, als dem Beschwerdeführer vom 1. Januar bis 31.
August 2001 eine ganze Rente zugesprochen wurde. In verfahrensrechtlicher
Hinsicht hielt das Gericht fest, die Verfügung vom 4. Juni 2003 befasse sich
nur mit der Zusprache einer halben Rente ab 1. Juni 2003, während die übrige
Zeit ab 1. Februar 2001 grundsätzlich mit den nicht ausdrücklich
angefochtenen Verfügungen vom 19. Juni 2003 abgedeckt würde. Da sich aber
auch der angefochtene Einspracheentscheid sinngemäss mit der Ausrichtung
einer Rente ab 1. Februar 2001 befasse, könne davon ausgegangen werden, dass
die Verfügungen vom 19. Juni 2003 als mit angefochten zu gelten hätten und
sich der Beurteilungsspielraum des Richters sowohl auf die Verfügung vom 4.
Juni als auch jene vom 19. Juni 2003 erstrecke.

C.
D. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und unter Kosten- und
Entschädigungsfolge beantragen, in entsprechender Aufhebung des kantonalen
Entscheides sei ihm mit Wirkung ab 1. September 2001 eine ganze Rente
zuzusprechen. Eventuell sei die Angelegenheit zur Vornahme weiterer
Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 7 und 8 ATSG; BGE 116 V 249
Erw. 1b), zu den Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28
Abs. 1 [in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung] und 1bis IVG
[in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003]) und zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; zu Art. 28 Abs. 2 IVG [in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2002] vgl. BGE 104 V 136 f. Erw. 2a und b; AHI
2000 S. 309 Erw. 1a in fine mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1 mit
Hinweisen), namentlich zur Verwendung von Tabellenlöhnen bei der Ermittlung
des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch realisierbaren
Einkommens (Invalideneinkommen; BGE 126 V 76 f. Erw. 3b mit Hinweis; AHI 2002
S. 67 Erw. 3b) und zum in diesem Zusammenhang gegebenenfalls vorzunehmenden
behinderungsbedingten Abzug (AHI 1999 S. 181 Erw. 3b; siehe auch BGE 126 V 78
ff. Erw. 5; AHI 2002 S. 67 ff. Erw. 4) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt
für die Rechtsprechung zur Aufgabe des Arztes und der Ärztin bei der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 f. Erw. 4 mit Hinweisen) und zum
Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit
Hinweis; AHI 2000 S. 152 Erw. 2c). Darauf wird verwiesen.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer bis längstens zum Erlass
des Einspracheentscheides vom 17. September 2003, welcher
rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der richterlichen
Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis; vgl. auch BGE
129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen), Anspruch auf
eine ganze Invalidenrente hat. Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor
dem In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs
auf eine Rente der Invalidenversicherung sind die allgemeinen
intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei
einer Änderung der gesetzlichen  Grundlagen - grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen
führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit
bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach
den neuen Normen zu prüfen (noch nicht in der Amtlichen Sammlung publiziertes
Urteil M. vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 1 mit Hinweisen). Keine Anwendung
finden demgegenüber die per 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des
Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision)
sowie die damit einhergehenden Anpassungen des ATSG.

2.
2.1 Die Vorinstanz stützte ihren Entscheid auf zahlreiche Arztberichte und im
Rahmen der beruflichen Massnahmen zur Wiedereingliederung des
Beschwerdeführers in den Arbeitsprozess auf mehrere Berichte des
Berufsberaters der IV-Stelle. Am 23. Mai 2000 hatte Dr. med. E.________
festgestellt, dem Versicherten seien körperlich leichte, den Schulter- und
Nackenbereich nicht belastende Tätigkeiten in vollem Umfang zuzumuten. Dieser
Arzt bestätigte seinen Standpunkt in Berichten vom 1. Februar 2001 und 22.
Mai 2001. Den von Dr. med. F.________ und Dr. med. L.________ erstellten
Berichten der Klinik für Orthopädische Chirurgie des Spitals X.________ vom
27. Oktober 2000 und 2. Dezember 2002 ist zu entnehmen, der Versicherte sei
in einer Tätigkeit in wechselnder Position mit Verteilung der Arbeitszeit auf
Vormittag und Nachmittag zu 50 % arbeitsfähig. Schliesslich führte auch Dr.
med. W.________ vom RAD Ostschweiz in einer Aktennotiz vom 17. Januar 2003
aus, in einer angepassten Tätigkeit betrage die Arbeitsfähigkeit 50 %.
Bereits in einem Bericht des Berufsberaters vom 5. Juli 2002 wurde dargelegt,
gemäss Abklärung im Bürozentrum Y.________ in St. Gallen könne eine Bürolehre
in einem geschützten Rahmen befürwortet werden. Dies geht hauptsächlich aus
einem Bericht vom 31. Januar 2003 hervor, in welchem die Arbeitsfähigkeit des
Versicherten auf dem freien Arbeitsmarkt ebenfalls auf 50 % eingeschätzt und
zudem die Prüfung des Anspruchs auf eine Teilrente befürwortet wurde. Die
Umschulung wurde für die Zeit vom 12. August 2002 bis 11. August 2004
zugesprochen, wobei die sodann in Angriff genommene Bürolehre jedoch
schmerzbedingt auf Ende Januar 2003 abgebrochen wurde (Bericht vom 6./7.
Februar 2003).

2.2  Demgegenüber wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht,
der Invaliditätsgrad sei zu leichtfertig ermittelt und zu wenig abgeklärt
worden. Insbesondere habe man sich nicht bemüht, die verbleibende
Leistungsfähigkeit des Versicherten anhand aktueller ärztlicher Beurteilungen
zu ermitteln, wobei hauptsächlich den Erfahrungen des Arbeitsversuchs im
Bürozentrum Y.________ ungenügend Rechnung getragen worden sei. Für die zum
Einkommensvergleich notwendigen Daten hätte dies durch Einholung von
aktuellen Berichten bei Dr. med. E.________ und Frau Dr. med. L.________
nachgeholt werden müssen, und zwar spätestens nachdem die Frage der
beruflichen Wiedereingliederung erfolglos verlaufen war.

2.3  Die bereits im vorinstanzlichen Verfahren vorgebrachte Rüge vermag im
Sinne der zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid, auf welche
verwiesen wird, dagegen nicht aufzukommen. Insbesondere ist festzuhalten,
dass der Versicherte am 2. Dezember 2002, kurz bevor die gesamthaft nur
während sechs Monaten laufende Eingliederungsmassnahme der Bürolehre
abgebrochen wurde, durch Frau Dr. med. L.________ medizinisch untersucht
worden war. Dabei geht aus ihrem Bericht gegenüber den früheren
Feststellungen keine Veränderung des Gesundheitszustandes hervor, noch wurde
eine solche seitens des Versicherten in diesem Zusammenhang geltend gemacht.
Eine weitere ärztliche Stellungnahme wurde im Zeitraum der abgebrochenen
Eingliederungsmassnahme auch von Dr. med. W.________ abgegeben, der am 17.
Januar 2003 die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit ebenfalls auf
50 % einschätzte. Diese medizinischen Ergebnisse stimmen mit den in
beruflicher Hinsicht durchgeführten Abklärungen überein und werden vom
Beschwerdeführer auch nicht beanstandet. So ist dem Abschlussbericht des
Bürozentrums Y.________ vom 31. Januar 2003 zu entnehmen, dass die
Leistungsfähigkeit bezogen auf eine Tätigkeit im offenen Arbeitsmarkt auf 50
% einzuschätzen sei. Vom 13. November bis zum 9. Dezember 2002 sowie vom 7.
bis zum 13. und vom 16. bis zum 31. Januar 2003 hatte der Versicherte die
Schule nicht besucht, war krankgeschrieben oder hatte unentschuldigt gefehlt.
Entgegen der Darlegung des Beschwerdeführers, der Versuch, eine Bürolehre zu
absolvieren sei aus somatischen Gründen gescheitert, wurde im genannten
Abschlussbericht ausgeführt, trotz der kognitiven Fähigkeiten sei es
fraglich, ob der Versicherte gewillt und in der Lage wäre, dieses Ziel mit
der nötigen Ernsthaftigkeit zu verfolgen, die geforderte Präsenz zu
gewährleisten sowie seine Kritikfähigkeit merklich zu verbessern. In einem
weiteren durch den Berufsberater erstellten Bericht vom 6./7. Februar 2003
wurde sodann festgestellt, D.________ habe sich nicht um eine Offerte für
einen Arbeitsplatz gekümmert, der höhenverstellbar gewesen wäre, noch habe er
Erleichterungen, welche eine wechselnde Tätigkeit ermöglicht hätten, aktiv
verfolgt. Aus berufsberaterischer Sicht würden die Eingliederungschancen auf
Grund der nicht invaliditätsbedingten Einschränkungen (Arbeitshaltung,
Sozial- und Selbstkompetenz) als eher ungünstig beurteilt. Daraus folgt, dass
die ärztlichen Beurteilungen in Bezug auf die verbliebene Arbeitsunfähigkeit
zuverlässig und aktuell sind und dass den Erfahrungen des Arbeitsversuchs im
Bürozentrum Y.________ genügend Rechnung getragen wurde. Was in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die vorinstanzlichen Erwägungen
vorgetragen wird, vermag den kantonalen Entscheid somit nicht zu entkräften.
Dieser ist daher rechtens.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Eidgenössischen Ausgleichskasse und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: