Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 407/2004
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I 407/04

Urteil vom 27. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Fessler

V.________, 1944, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy
Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 26. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1944 geborene V.________ war ab 30. August 1989 als Mitarbeiterin
Buchbinderei in der Firma H.________ AG tätig. Vom 16. Oktober 2000 bis 4.
April 2002 blieb sie krankheitsbedingt der Arbeit fern. Nach weiteren
Absenzen gab sie Mitte Februar 2002 ihre Tätigkeit in der Firma definitiv
auf. Im August 2002 ersuchte V.________ die Invalidenversicherung um eine
Rente. Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte die gesundheitlichen und
erwerblichen Verhältnisse sowie die beruflichen
Wiedereingliederungsmöglichkeiten ab. Zum Bericht des Hausarztes der
Gesuchstellerin vom 17. August 2002 und den beigelegten medizinischen
Unterlagen nahm der Regionale Ärztliche Dienst der Verwaltung am 18. Februar
2003 Stellung. Mit Verfügungen vom 19. Mai und 23. Juni 2003 sprach die
IV-Stelle V.________ mit Wirkung ab 1. Februar 2003 eine halbe Invalidenrente
samt Zusatzrente für den Ehemann zu. Mit Einspracheentscheid vom 6. Oktober
2003 bestätigte die Verwaltung die Rente.

B.
Die von V.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. Mai 2004 ab.

C.
V. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und in der Sache
beantragen, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien ihr
die «gesetzlichen Leistungen nach Massgabe einer Arbeitsunfähigkeit von
mindestens 60 % zzgl. einem Verzugszins zu 5 % ab wann rechtens
auszurichten».

Die IV-Stelle äussert sich nicht materiell und stellt keinen bestimmten
Antrag zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und die dazugehörige
Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV) in Kraft getreten. Mit ihnen sind
unter anderem auch im Bereich der Invalidenversicherung verschiedene
materiellrechtliche Bestimmungen geändert worden. Das kantonale Gericht hat
den streitigen Anspruch auf eine Invalidenrente nach IVG ab dem aufgrund der
Akten frühest möglichen Leistungsbeginn (1. Februar 2003) im Lichte der seit
1. Januar 2003 geltenden Rechtsvorschriften geprüft. Dabei hat es die
Begriffe der Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Invalidität sowie der
Einkommensvergleichsmethode nach Art. 6, 7 und 8 Abs. 1 ATSG sowie Art. 16
ATSG im Sinne der bisherigen Rechtsprechung ausgelegt und angewendet. Das ist
richtig (in BGE 130 V noch nicht publiziertes Urteil A. vom 30. April 2004 [I
626/03] Erw. 2-3.6).

2.
Das kantonale Gericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine halbe
Invalidenrente gemäss Einspracheentscheid der IV-Stelle vom 6. Oktober 2003
bestätigt. Es ermittelte auf der Grundlage eines Einkommensvergleichs einen
Invaliditätsgrad von gerundet 51 %. Zur Arbeitsfähigkeit als einem
wesentlichen Faktor für die Bestimmung des Invalideneinkommens im Besonderen
hat die Vorinstanz erwogen, laut Bericht des Hausarztes vom 17. August 2002
sei die bisherige Tätigkeit als Mitarbeiterin Buchbinderei nicht mehr
zumutbar. Eine ganz leichte Tätigkeit, vor allem mit Schonung des
Schulter-Nackenbereichs, könnte im Umfang von ca. 4 Stunden täglich noch
ausgeführt werden. Die Einschätzung des Hausarztes werde vom
rheumatologischen Konsiliararzt des Regionalen Ärztlichen Dienstes als
plausibel und nachvollziehbar bezeichnet. Darauf sei abzustellen. Weitere
Abklärungen erübrigten sich sich, zumal lediglich bemängelt werde, der Grad
der Arbeitsunfähigkeit sei nicht richtig ermittelt worden.

In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine unrichtige und unvollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt. Sowohl IV-Stelle als
auch Vorinstanz stützten sich bei ihrer Beurteilung einzig auf den Bericht
des Hausarztes vom 17. August 2002 sowie die in einer Aktennotiz vom 26.
November 2002 (recte: 18. Februar 2003) festgehaltene Stellungnahme des
Regionalen Ärztlichen Dienstes, erstellt nach Rücksprache mit seinem
rheumatologischen Konsiliararzt. Auf diese Unterlagen könne nicht abgestellt
werden, weil sie widersprüchlich und unvollständig seien. Insbesondere werde
bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit die Schulterproblematik nicht
berücksichtigt. Es komme dazu, dass die fragliche Aktennotiz weder vom
angeblichen Rheumatologen noch von der zuständigen Sachbearbeiterin selber
unterzeichnet worden sei.

3.
3.1 Der Hausarzt äusserte sich in seinem Bericht vom 17. August 2002 zum
Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit. Dabei wies er darauf hin, dass
in den vergangenen Jahren ausser einem MRI der Halswirbelsäule vom 22.
November 2000 keine rheumatologischen Abklärungen stattgefunden hätten.
Letztmals sei die Versicherte 1989 vor mehr als 13 Jahren wegen einer
Periartropathia humeroscapularis behandelt worden. An sich wäre nach so
langer Zeit nochmals eine Untersuchung in der Rheumatologischen Klinik des
Spitals X.________ «mit der Frage nach einer möglichen Teilarbeitsfähigkeit
angebracht». Der Regionale Ärztliche Dienst der IV-Stelle verneinte nach
Rücksprache mit seinem rheumatologischen Konsiliararzt in seiner
Stellungnahme vom 18. Februar 2003 die Notwendigkeit einer solchen Massnahme.
Er bezeichnete die Einschätzung des Hausarztes als plausibel und
nachvollziehbar. Der Dienst kam zum Schluss, dass eine Arbeitsfähigkeit von
50 % in einer angepassten Tätigkeit medizinisch ausgewiesen ist.

3.2  Die Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes vom 18. Februar
2003
wurde in der Begründung der Verfügungen vom 19. Mai und 23. Juni 2003 nicht
erwähnt. Sie wurde der Versicherten auch im Einspracheverfahren nicht zur
Kenntnis gebracht. Erst im Einspracheentscheid vom 6. Oktober 2003 wird
darauf hingewiesen.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist die fragliche
Stellungnahme nicht bloss in einer Aktennotiz festgehalten. Vielmehr handelt
es sich um einen eigentlichen, als intern zu qualifizierenden Arztbericht.
Dies ändert indessen nichts am entscheidwesentlichen Charakter dieses
Dokuments. Die Anfrage beim internen ärztlichen Dienst zeigt, dass die
IV-Stelle allein auf die hausärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit
nicht abgestellt hätte.

Ob die Stellungnahme vom 18. Februar 2003 einem Amtsbericht im Sinne von Art.
49 BZP gleichzustellen ist und die nicht gewährte Möglichkeit, sich
spätestens im Einspracheverfahren hiezu zu äussern, eine Verletzung des in
Art. 42 ATSG positiv rechtlich normierten verfassungsmässigen Anspruchs auf
rechtliches Gehör darstellt, kann offen bleiben (vgl. immerhin RKUV 1998 Nr.
U 309 S. 459 ff. Erw. 4). Die Sache ist ohnehin nicht spruchreif.

3.3  Wie der Regionale Ärztliche Dienst selber festhält, sind die
medizinischen Unterlagen, welche dem hausärztlichen Bericht vom 17. August
2002 beigelegt waren, nicht mehr ganz aktuell. Dies gilt insbesondere für den
Bericht des Spitals X.________ vom 17. Mai 1989. Es kommt dazu, dass damals
Schulterbeschwerden zur Diskussion standen. Es wurde die Diagnose einer
rechtsseitigen Periartropathia humeroscapularis tendinotica mit Biceps
longus-Syndrom und Supraspinatus-Syndrom gestellt. Beim Wirbelsäulenstatus
wurde die freie Beweglichkeit der HWS erwähnt. Der Hausarzt diagnostizierte
in Übereinstimmung mit dem MRI-Befund vom 22. November 2000 degenerative
Halswirbelkörperveränderungen und grössere mediane und rechts paramediane
Discushernie C7/Th1 mit vollständiger Auspressung des Subarachnoidalraumes
sowie eine kleinere rechts paramediane Discushernie C3/4. Die Diagnose im
Bericht des Spitals X.________ vom 17. Mai 1989 bezeichnete er als ohne
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit. Gleichzeitig stellte er fest, die
Beschwerden bestünden seit Mitte der Achtzigerjahre und seien zunehmend.
Diese Angaben sind widersprüchlich. Sodann sind die Aussagen des Hausarztes
zur Arbeitsfähigkeit zu unbestimmt. Danach kann eine ganz leichte Tätigkeit
lediglich eventuell noch ausgeführt werden. Der zeitliche Rahmen zumutbarer
Tätigkeit wird auf ca. 4 Stunden beziffert. Dabei besteht eine verminderte
Leistungsfähigkeit von ca. 50 %. Auf Grund dieser Einschätzung kann der
Schluss des Regionalen Ärztlichen Dienstes, eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in
einer angepassten Tätigkeit sei medizinisch ausgewiesen, nicht als
hinreichend gesichert gelten.

3.4  Die IV-Stelle wird weitere Abklärungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit vorzunehmen haben. Dabei hat sie zu berücksichtigen, dass
umfangreiche rheumatologische Abklärungen im Gange sind. Gemäss den in diesem
Verfahren eingereichten Berichten der Klinik R.________ vom 6. und 8. Juli
2004 sind bereits zwei radiologische Untersuchungen durchgeführt worden. Eine
fachärztliche Begutachtung steht unmittelbar bevor oder hat zwischenzeitlich
bereits stattgefunden. Der Antrag auf Sistierung des Verfahrens bis zum
Vorliegen der Expertise ist somit gegenstandlos.

4.
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 26. Mai 2004 und
der Einspracheentscheid vom 6. Oktober 2003 aufgehoben werden und die Sache
an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, damit sie nach
weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch der
Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung  von
Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse agrapi und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 27. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: