Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 390/2004
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I 390/04

Urteil vom 13. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Hochuli

G.________, 1975, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 24. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
G. ________, geboren 1975, bezog von der Invalidenversicherung seit Geburt
medizinische Massnahmen zur Behandlung einer Störung in der
Extremitätenentwicklung. Zudem übernahm die Invalidenversicherung vom 1.
Januar 1991 bis 28. Februar 2003 physiotherapeutische Behandlung nach
ärztlicher Verordnung als medizinische Massnahme. Weiter sprach die IV-Stelle
Schaffhausen dem Versicherten unter anderem mit Wirkung ab 1. März 1993 eine
Hilflosenentschädigung mittleren Grades zu. Trotz der angeborenen Amelie
beider Beine und des linken Armes sowie der Dysmelie des rechten Armes
vermochte der Versicherte im Herbst 2001 sein Architekturstudium an der
Technischen Hochschule X.________ erfolgreich abzuschliessen. Seither ist er
als Architekt voll erwerbstätig. Dem Abklärungsbericht für Hilfsmittel vom 8.
Mai 2002 ist unter anderem zu entnehmen:
"[...] Dank verschiedenen Hilfsmitteln und enormer Disziplin hat er [der
Versicherte] eine gewisse Selbständigkeit erreicht. Trotz seines enormen
Willens, ist die Hilfe Dritter nicht vermeidbar. [Er] könnte unmöglich
alleine leben. Er ist auf die verschiedenen Handreichungen und kleinen
Dienste seiner Mitbewohner angewiesen. [...] [Er] ist nicht bettlägrig, nicht
inkontinent und bedarf folgender Hilfsmittel: Handrollstuhl,
Elektrorollstuhl, umgebautes Auto [zur selbständigen Fortbewegung],
Duschstuhl, spezieller Schlüsselbund etc. [...] Physiotherapie [...], zweimal
pro Woche, ist absolut notwendig um die bestehende Selbständigkeit zu
erhalten. [...]"
Mit Verfügung vom 9. Mai 2003 lehnte die nach dem Wohnortswechsel neu
zuständige IV-Stelle des Kantons Zürich eine weitere Übernahme von
Physiotherapie als medizinische Eingliederungsmassnahme ab, weil zwar ein
stationärer - nicht aber stabiler - Zustand vorliege, welcher jedoch
Physiotherapie als Dauerbehandlung erfordere. Daran hielt die IV-Stelle auf
Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 18. August 2003).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des G.________ wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 24. Mai 2004
ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________ unter Aufhebung des
kantonalen Gerichts- und des Einspracheentscheids beantragen, die
Invalidenversicherung habe die anbegehrte Physiotherapie zu übernehmen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf
medizinische Massnahmen physiotherapeutischer Art bei Lähmungen und anderen
motorischen Funktionsausfällen (insbesondere Art. 12 Abs. 1 IVG [in der bis
Ende 2003 gültig gewesene Fassung] sowie Art. 2 Abs. 3 IVV) und die dazu
ergangene Rechtsprechung im Wesentlichen (vgl. auch BGE 120 V 279 Erw. 3a,
108 V 217, je mit weiteren Hinweisen) zutreffend dargelegt. Richtig ist auch,
dass der Eingliederungserfolg, für sich allein betrachtet, im Rahmen des Art.
12 IVG kein taugliches Abgrenzungskriterium ist, zumal praktisch jede
ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen
Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (BGE 102 V 42 und AHI 1999 S.
127 Erw. 2b, je mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

1.2 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich stabilisierende Vorkehren
nach der Rechtsprechung (AHI 1999 S. 127 f. Erw. 2d mit Hinweisen) stets
gegen labiles pathologisches Geschehen richten. Deshalb muss eine
kontinuierliche Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines
Leidens zu verhindern, als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden.
Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein
Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im
Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei (BGE
98 V 209). Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt
werden kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil.
Die medizinischen Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären
Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung nicht
übernommen werden (AHI 1999 S. 127 f. Erw. 2d mit Hinweisen; Urteile L. vom
17. September 2002, I 15/02, K. vom 20. März 2000, I 164/99, Z. vom 1. Mai
2000, I 612/99). Sodann ist festzuhalten, dass Art. 12 IVG namentlich
bezweckt, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der
sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander
abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung
einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des
Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung
gehört (BGE 104 V 81 Erw. 1, 102 V 41 f.).
1.3 Beizufügen bleibt, dass die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen
Änderungen des IVG (4. IVG-Revision, AS 2003 3837) hier keine Anwendung
finden, weil nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheides (hier: vom 18. August 2003) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).

2.
Vorweg zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 12 IVG in
Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 und 3 IVV Anspruch auf Übernahme der beantragten
Physiotherapie als medizinische Eingliederungsmassnahme zu Lasten der
Invalidenversicherung hat.

2.1 Praxisgemäss muss auch im Anwendungsbereich dieser
Verordnungsbestimmungen das gesetzliche Erfordernis eines stabilisierten oder
zumindest relativ stabilisierten Gesundheitszustandes erfüllt sein. Der
Invalidenversicherung erwächst somit nach Art. 2 Abs. 2 und 3 IVV keine
Leistungspflicht, wenn die Physiotherapie auf die Behandlung sekundären
Krankheitsgeschehens - wie beispielsweise Zirkulationsstörungen,
Skelettdeformitäten, Kontrakturen - gerichtet ist oder wenn das die
motorischen Störungen bewirkende Grundleiden, welches physiotherapeutisch
angegangen werden soll, selber noch als labil zu betrachten ist (vgl. BGE 108
V 218 mit Hinweisen; unveröffentlichte Urteile B. vom 26. November 1998, I
566/97, Z. vom 18. Oktober 1995, I 147/95, L. vom 21. August 1995, I 360/94
und R. vom 15. September 1989, I 229/89).

2.2 Prof. Dr. med. K.________, Chefarzt Rheumatologie an der Orthopädischen
Klinik Y.________, führte in seinem Schreiben vom 21. Januar 2003 zuhanden
der IV-Stelle unter anderem aus:
"[...] Ich beantrage, dass die regelmässige ambulante Physiotherapie zweimal
pro Woche weiterhin als medizinische Massnahme durch die IV übernommen wird.
Durch die physiotherapeutischen Behandlungen werden die Voraussetzungen
erfüllt, dass Herr G._________ selbständig bleiben kann und voll seinem Beruf
als Architekt nachgehen kann. [...]"
Am 20. Mai 2003 hielt er im Weiteren fest:
"[...] Das Krankheitsgeschehen bei Herrn G._________ ist durchaus in einem
labilen Zustand, indem im Bereich des Rumpfes eine ausgeprägte Skoliose
besteht, und er als Architekt praktisch den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen
bleiben muss. [...]"
Der Beschwerdeführer machte in der Begründung seiner Einsprache geltend, da
er während dem ganzen Tag im Rollstuhl sitze und sich nur wenig aktiv bewegen
könne, benötige er ein dauerndes ausgleichendes Training der Stützmuskulatur,
damit ein Fortschreiten der Skoliose verhindert werden könne. Ohne diese
Massnahme riskiere er eine schmerzhafte Verschlechterung seiner Gesundheit,
welche zu Arbeitsunfähigkeit und letztlich zum Anspruch auf eine
Invalidenrente führen würde.

2.3 Es trifft zwar zu, dass sich die anbegehrte Vorkehr nicht auf das
diagnostizierte Hauptleiden (Dysmelie) bezieht, da dieses Leiden einer
physiotherapeutischen Behandlung nicht zugänglich ist. Vielmehr dient die
Physiotherapie der Vorbeugung gegen sekundäre Folgen dieses Leidens, mithin
der Verhinderung des Fortschreitens der Skoliose. Wirbelsäule und Rumpf des
Beschwerdeführers weisen keinen definitiven Defektzustand auf, sondern einen
solchen, welcher einer Therapie noch zugänglich ist. Dass der Versicherte
unter den gegebenen Umständen mit Blick auf seine schwere körperliche
Behinderung und seinen gleichzeitig ausserordentlichen Einsatz in der
anspruchsvollen Erwerbstätigkeit als Architekt begleitend stabilisierende und
haltungskorrigierende Physiotherapie beansprucht, erscheint zweckmässig und
sinnvoll. Solange indessen mit den medizinischen Vorkehren, auch wenn sie auf
Folgeerscheinungen des Grundleidens gerichtet sind, ein labiles
pathologisches Geschehen angegangen wird, stellt dies
sozialversicherungsrechtlich eine Behandlung des Leidens an sich dar, welche
in den Aufgabenbereich der Krankenversicherung gehört. Daran ändert nichts,
dass die Physiotherapie sich auf die Sitzfähigkeit günstig auswirkt und sogar
für die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit wesentlich sein kann (AHI 1999 S. 128
Erw. 3). Die streitige Physiotherapie kann somit nicht als medizinische
Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG qualifiziert werden.
Vorinstanz und Verwaltung haben daher einen Anspruch auf Übernahme der
Physiotherapie durch die Invalidenversicherung nach Art. 12 IVG zu Recht
verneint.

3.
Der Beschwerdeführer macht sodann geltend, die Invalidenversicherung habe
gestützt auf Art. 11 IVG für die Physiotherapie aufzukommen, da diese Kosten
durch die Eingliederungsmassnahme, nämlich die Benützung eines durch die
Invalidenversicherung zur Verfügung gestellten Rollstuhls, verursacht worden
sei.

3.1 Gemäss Art. 11 IVG hat der Versicherte Anspruch auf Vergütung der
Behandlungskosten, wenn er im Verlaufe von Eingliederungsmassnahmen krank
wird oder einen Unfall erleidet. Der Bundesrat regelt die Voraussetzungen und
den Umfang des Anspruchs. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der
Bundesrat in Art. 23 IVV bestimmt, dass der Versicherte Anspruch auf Ersatz
der Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle hat, die durch Abklärungs-
oder Eingliederungsmassnahmen verursacht wurden, sofern diese von der
Kommission angeordnet oder aus wichtigen Gründen vor der Beschlussfassung
durchgeführt wurden (Art. 23 Abs. 1 IVV). Gestützt auf diese Bestimmungen hat
der Versicherte somit im Falle der Realisierung eines Eingliederungsrisikos
und bei Bejahung der Haftungsvoraussetzungen, insbesondere des natürlichen
und adäquaten Kausalzusammenhanges, einen besonderen positivrechtlichen
Heilungskostenersatz-Anspruch (BGE 119 V 252 Erw. 1b mit Hinweisen). Nach der
Rechtsprechung ist der adäquate Kausalzusammenhang unterbrochen bei Auftreten
nachteiliger Folgen von grundsätzlich gelungenen Eingliederungsmassnahmen,
die im Rahmen voraussehbarer oder in Kauf genommener geringfügiger Risiken
bleiben (BGE 120 V 98 Erw. 2b/dd).

3.2 Im vorliegenden Fall ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen der
Eingliederungsmassnahme und den nachteiligen Folgen deshalb unterbrochen,
weil von einer grundsätzlich gelungenen Eingliederungsmassnahme (Erhaltung
der Mobilität durch Abgabe eines Rollstuhles) auszugehen ist und sich das
Auftreten der nachteiligen Folgen (erhöhte Gefahr einer Verformung der
Wirbelsäule [Skoliose]) im Rahmen des voraussehbaren geringfügigen Risikos
hält. Die Abgabe des Rollstuhles hat im Übrigen die nachteilige Folge nicht
bewirkt: Da der Versicherte infolge seiner körperlichen Behinderung (fehlende
Beine sowie verkürzte und asymmetrisch ausgebildete obere Extremitäten) auch
ohne Abgabe eines Rollstuhles gezwungen wäre, sich stets in Sitzposition
(oder liegend) aufzuhalten, hätte er das Risiko des Fortschreitens einer
Skoliose auch ohne die Abgabe dieses Hilfsmittels in Kauf nehmen müssen.
Mithin wären die schädigenden Einflüsse auch ohne Hilfsmittelversorgung
eingetreten. In diesem Sinne bildet die nachteilige Folge des drohenden
Fortschreitens der Skoliose mit Blick auf die gleichermassen - mit oder ohne
Abgabe eines Rollstuhles - eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten des
Versicherten ein voraussehbares Risiko des dank diesem Hilfsmitteleinsatz
erzielten Eingliederungserfolgs. Demnach ist gestützt auf Art. 11 IVG ein
Haftungsanspruch des Beschwerdeführers gegen die Invalidenversicherung für
das Eingliederungsrisiko der Durchführung von Physiotherapie zur Vorbeugung
gegen ein Fortschreiten der Skoliose mangels eines anspruchsbegründenden
adäquaten Kausalzusammenhanges mit der Abgabe des Rollstuhles zu verneinen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 13. Dezember 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: