Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 386/2004
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I 386/04

Urteil vom 12. Oktober 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Jancar

W.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokatin Kathrin
Bichsel, Blumenrain 3, 4001 Basel,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 1. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1958 geborene W.________ arbeitete seit 1994 bis November 1996 als
Podologin. Am 27. Januar 1997 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug an. Nach Einholung diverser Arztberichte, eines
Abklärungsberichtes für Selbstständigerwerbende vom 6. Januar 1998, eines
Berichts zur beruflichen Abklärung vom 5. Januar 1999 und eines Gutachtens
des Zentrums M.________ vom 29. August 2002 verneinte die IV-Stelle des
Kantons Solothurn den Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine
Invalidenrente (Verfügung vom 27. Februar 2003). In teilweiser Gutheissung
der dagegen geführten Einsprache hob die IV-Stelle die Verfügung auf und
erkannte, die Versicherte habe Anspruch auf erneute Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmöglichkeiten. Weiter führte sie aus, zum Gesuch um
unentgeltliche Verbeiständung werde mit separater Verfügung Stellung genommen
(Entscheid vom 27. Oktober 2003). Mit Verfügung vom 30. Oktober 2003 gewährte
die IV-Stelle der Versicherten Berufsberatung und Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmöglichkeiten.

Mit Verfügung vom 21. November 2003 wies die IV-Stelle das Gesuch um
unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren ab, da eine
anwaltliche Verbeiständung nicht unbedingt notwendig gewesen sei.

B.
Die gegen die Verfügung vom 21. November 2003 erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 1. Juni 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte die Aufhebung des
kantonalen Entscheides; es sei festzustellen, dass sie Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab 28. März 2003 habe.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über die
unentgeltliche Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 4
ATSG; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt
hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4 BV zu den Voraussetzungen der
unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren ergangenen
Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der
Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten Fall; BGE 125 V 34 Erw. 2,
117 V 408; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b), die nach dem Willen des Gesetzgebers
weiterhin anwendbar ist (Urteil H. vom 7. September 2004 Erw. 2.1, I 75/04;
BBl 1999 V S. 4595; Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz. 15 ff.). Darauf wird
verwiesen.

2.2 Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der
unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren die
Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren
Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu
berücksichtigen sind. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und
der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen
liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren
zurechtzufinden (Schwander, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495).
Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen
droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn
zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche
Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine
gestellt nicht gewachsen ist (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 mit Hinweisen), und wenn
auch eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach-
und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V
34 Erw. 2, 114 V 236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die
sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in
Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem
Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der
Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 130 I 183 f.
Erw. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch,
an die Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich
geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI
2000 S. 164 Erw. 2b; Urteil H. vom 9. September 2004 Erw. 2.2, I 75/04).

3.
Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen der fehlenden Aussichtslosigkeit der
Einsprache und der Bedürftigkeit der Versicherten bejaht, was unbestritten
und nicht zu beanstanden ist.

4.
Streitig und zu prüfen ist einzig die sachliche Gebotenheit der
unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung.

4.1 Die Verfügung der IV-Stelle vom 27. Februar 2003 gründete auf dem
Gutachten des Zentrums M.________ vom 29. August 2002, worin folgende
Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gestellt wurden:
cervicobrachiales Syndrom bei ossärer Foraminalastenose C5/6 und C6/7,
Lumbovertebralsyndrom mit Osteochondrose L5/S1 bei symmetrischer
Sacralisation des 5. Lendenwirbels und Discopathie L5/S1 sowie
Spondylarthrose. Die Befunde schränkten die Arbeitsfähigkeit für eine
rückenbelastende Tätigkeit mit repetitivem Heben von Gewichten, mit Ausübung
einer Arbeit in Zwangshaltung des Rückens sowie für Tätigkeiten mit häufigen
Kopfrotationen ein. Eine rückenbelastende Arbeit sei der Versicherten nicht
mehr zumutbar, die Arbeitsfähigkeit liege unter einem Drittel. Die Schwere
der Rückenbelastung bei der Tätigkeit als Podologin sei vom Berufsberater
abzuklären. Es sollte möglich sein, eine solche Arbeit sowohl in wechselnder
wie auch in rückenschonender Körperstellung durchzuführen. Gestützt hierauf
führte die IV-Stelle aus, die Versicherte sei für jede bisherige Tätigkeit
ohne wesentliche Einschränkung arbeitsfähig. Es sei ihr eine Arbeit in
wechselbelastender, rückenschonender Körperstellung ganztags praktisch
uneingeschränkt zumutbar. Ohne Behinderung könnte sie Fr. 51'600.-, mit
Behinderung Fr. 42'840.- verdienen, was einen Invaliditätsgrad von 17 %
ergebe. Demnach bestehe kein Anspruch auf berufliche Massnahmen oder auf eine
Invalidenrente.

4.2 Die Vorinstanz hat zu Recht erwogen, dass sich die Versicherte wiederholt
- teilweise vergeblich, insbesondere was die Zustellung des Gutachtens des
Zentrums M.________ betrifft - an die IV-Stelle wenden musste, um ihre
Ansprüche geltend zu machen. Zwischen der Anmeldung zum Leistungsbezug und
dem Verfügungserlass am 27. Februar 2003 vergingen sieben Jahre, ohne dass
für diese lange Dauer fallbezogene Gründe ersichtlich sind. Im Weiteren
forderte die Versicherte die IV-Stelle bereits am 3. September 2002
schriftlich auf, ihr eine Kopie des Gutachtens des Zentrums M.________ vom
29. August 2002 zuzustellen. Dies geschah jedoch erst am 2. April 2003,
nachdem ihre Anwältin in der Einsprache vom 31. März 2003 Akteneinsicht
verlangt hatte.

Die Versicherte hatte im Einspracheverfahren zum Gutachten Stellung zu nehmen
und die Erforderlichkeit von Ergänzungsfragen zu prüfen. Umstritten waren der
Gesundheitsschaden mit seinen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Entgegen
der gutachterlichen Empfehlung zog die IV-Stelle vor Erlass der Verfügung vom
27. Februar 2003 keinen Berufsberater bei. Das Verfahren war unter diesen
Umständen sachverhaltsmässig und rechtlich nicht einfach. Eine erhebliche
Tragweite der Sache ist ohne weiteres zu bejahen.

Die Vorinstanz bejahte die Notwendigkeit der Verbeiständung im
Einspracheverfahren, legte jedoch dar, diese hätte auch von einem
Verbandsvertreter, Fürsorger oder einer sozialen Institution wahrgenommen
werden können. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die Verfügung vom 27.
Februar 2003 in Kopie auch dem Sozialamt zugestellt wurde, dieses jedoch
offenbar die Verbeiständung nicht wahrgenommen hatte. Abgesehen davon ist es
angesichts der dargelegten Fallumstände nicht zu beanstanden, dass die
Versicherte anwaltliche Hilfe in Anspruch nahm.

Der Anspruch auf unentgeltliche anwaltliche Verbeiständung im
Einspracheverfahren ist demnach zu bejahen. Zu beachten ist indessen, dass
der Versicherten nach Massgabe ihres teilweisen Obsiegens im
Einspracheverfahren (Entscheid vom 27. Oktober 2003) zu Lasten der IV-Stelle
eine Parteientschädigung zusteht (Urteil Z. vom 23. September 2004, I
164/04). Der mit der Parteientschädigung nicht gedeckte Teil ihrer
Aufwendungen ist im Rahmen der unentgeltlichen Verbeiständung zu ersetzen.
Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie über das
Massliche der Entschädigungsansprüche befinde.

5.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb
keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5).

Da die Beschwerdeführerin obsiegt, ist ihr zu Lasten der IV-Stelle eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG).
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 1. Juni 2004 und die
Verfügung vom 21. November 2003 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass
die Beschwerdeführerin im Einspracheverfahren im Rahmen ihres teilweisen
Obsiegens Anspruch auf eine Parteientschädigung und im Übrigen Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung hat. Die Sache wird an die IV-Stelle des
Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit sie die Entschädigungen festlege.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 12. Oktober 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: