Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 379/2004
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I 379/04

Urteil vom 29. April 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiberin Kopp Käch

T.________, 1974, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ueli
Kieser, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 18. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1974 geborene T.________ arbeitete seit 1991 als gelernter Zimmermann bei
der Firma X.________ AG. Am 27. Juli 1994 erlitt er einen Autounfall. Gemäss
Austrittsbericht der Chirurgischen Klinik des Spitals Y.________ vom 29.
August 1994 war der Versicherte deswegen bis 30. Juli 1994 hospitalisiert.
Diagnostiziert wurden eine Contusio cerebri mit kleinen petechialen Blutungen
frontal, eine Rissquetschwunde supraorbital sowie ein Monokelhämatom links.
Ab 15. August 1994 war T.________ zu 50 %, ab 1. September 1994 wieder zu 100
% als Zimmermann tätig, wobei er ab Oktober 1994 seine Arbeit im Rahmen von
Temporäreinsätzen, zwischendurch immer wieder im väterlichen Zimmereibetrieb
leistete. In der Zeit vom 1. April 2000 bis 31. Mai 2001 arbeitete der
Versicherte als Visual-Aid Mitarbeiter bei der Firma M.________. Dieses
Arbeitsverhältnis wurde wegen betrieblichen Umstrukturierungen aufgelöst.

Im November 1997 hatte T.________ der Unfallversicherung einen Rückfall
gemeldet und sich über Kopfschmerzen und Schwindel beklagt. Nach
umfangreichen medizinischen Abklärungen zur Unfallkausalität dieser
Beschwerden sprach die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) dem
Versicherten aufgrund einer mittelschweren Störung des
Gleichgewichtsfunktionssystems eine Integritätsentschädigung basierend auf
einer Integritätseinbusse von 20 % zu.

Am 1. Juli 2002 meldete sich T.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an und ersuchte um berufliche Massnahmen in Form der
Kostenübernahme für die einjährige Ausbildung zum Cutter an der
Fernseh-Akademie in der Nähe von München. Nach Durchführung medizinischer und
beruflicher Abklärungen sowie nach Einholung einer Beurteilung des
Bundesamtes für Sozialversicherung lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 21.
Mai 2003 eine Kostengutsprache für berufliche Massnahmen ab. An ihrem
Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid vom 10. Oktober 2003 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 18. Mai 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt T.________ beantragen, die IV-Stelle
sei zu verpflichten, ihm als berufliche Massnahme die Umschulung zum
Fernseh-Cutter zu gewähren, eventualiter sei die Sache zur Vornahme weiterer
Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben. Das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung eines Falles
regelmässig auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheides (hier: 10. Oktober 2003) eingetretenen Sachverhalt ab
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Im Lichte
dieser Grundsätze sind bei der vorliegenden Beurteilung die Bestimmungen des
seit 1. Januar 2003 geltenden Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und der Verordnung hiezu
vom 11. September 2002 (ATSV) zu berücksichtigen, nicht aber die am 1. Januar
2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom
21. Mai 2003 (4. IV-Revision).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf
Massnahmen beruflicher Art in Form von Umschulung (Art. 17 Abs. 1 IVG, Art. 6
Abs. 1 IVV in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung), hiebei
namentlich zur Erheblichkeit der Invalidität in Form einer bleibenden oder
längere Zeit dauernden Erwerbseinbusse von etwa 20 % und zum Kriterium der
annähernden Gleichwertigkeit der Tätigkeiten (BGE 130 V 489 f. Erw. 4.2, 124
V 109 ff. Erw. 2, je mit Hinweisen), zutreffend dargelegt. Richtig sind auch
die Ausführungen über den Beweiswert von Arztberichten (BGE 125 V 352 Erw.
3a) und über die koordinierende Funktion des einheitlichen
Invaliditätsbegriffes in den verschiedenen Sozialversicherungszweigen (BGE
127 V 135 Erw. 4d mit Hinweis). Darauf kann verwiesen werden.

2.2 Zu ergänzen ist, dass es sich bei den in Art. 3-13 ATSG enthaltenen
Legaldefinitionen in aller Regel um eine formellgesetzliche Fassung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den entsprechenden Begriffen vor
In-Kraft-Treten des ATSG handelt und sich inhaltlich damit, namentlich in
Bezug auf die Bestimmungen zur Arbeitsunfähigkeit (Art. 6),
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7) und Invalidität (Art. 8), keine Änderung ergibt.
Die dazu entwickelte Rechtsprechung kann folglich übernommen und
weitergeführt werden. Auch die Normierung des Art. 16 ATSG bewirkt keine
Modifizierung der bisherigen Judikatur zur Invaliditätsbemessung bei
erwerbstätigen Versicherten, welche weiterhin nach der allgemeinen Methode
des Einkommensvergleichs vorzunehmen ist (BGE 130 V 345 ff. Erw. 3.1-3.4).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf Umschulung
zum Fernseh-Cutter hat.

3.1 Die IV-Stelle hält fest, eine Arbeitsunfähigkeit liege weder hinsichtlich
des erlernten Berufs als Zimmermann, noch der zuletzt ausgeübten Tätigkeit im
Bereich Desktop-Publishing vor. Es bestehe keine invaliditätsbedingte
Notwendigkeit für die Ausbildung zum Fernseh-Cutter, vielmehr habe sich der
Beschwerdeführer von sich aus beruflich neu orientiert.

3.2 Die Vorinstanz sieht aus dem Verlauf seit dem Unfall keine Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers als Zimmermann. Lediglich der
Chiropraktor Dr. A.________ attestiere dem Versicherten eine 100%ige
Arbeitsunfähigkeit als Zimmermann sowie diverse Einschränkungen in der
Arbeitsbelastbarkeit, was jedoch weder schlüssig noch nachvollziehbar
erscheine. Da die für eine Umschulung erforderlichen Voraussetzungen einer
mindestens 20%igen Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf oder einer
drohenden Invalidität nicht vorlägen, sei der Anspruch auf Umschulung zu
verneinen, ohne dass die weiteren Voraussetzungen wie etwa jene der
Eingliederungswirksamkeit zu prüfen wären.

3.3 Der Beschwerdeführer verweist auf die Berichte des behandelnden
Chiropraktors Dr. A.________, welcher die Ausübung des Berufs des Zimmermanns
ausschliesse, ihm aber in einer behinderungsangepassten Tätigkeit eine
100%ige Arbeitsfähigkeit attestiere und deshalb berufliche Massnahmen
befürworte. Der Versicherte macht geltend, er hätte weiterhin seinen
erlernten Beruf als Zimmermann ausüben, sich in der Fachhochschule Biel
weiterbilden und die Nachfolge im väterlichen Betrieb antreten wollen. Trotz
der gesundheitlichen Einschränkungen habe er noch während einiger Zeit
versucht, seinem Beruf nachzugehen, wobei er nicht mehr alle Tätigkeiten habe
verrichten können wie beispielsweise Arbeiten auf dem Dach. Wegen des
Schwindels und der Gleichgewichtsstörungen habe er dann eine Arbeit im
Bürobereich angenommen, welche ihm trotz fehlender Ausbildung durch eine
Freundin habe vermittelt werden können. Diese aus invaliditätsbedingten
Gründen aufgenommene Tätigkeit habe er wegen einer Umstrukturierung des
Betriebs aufgeben müssen.

4.
4.1 Voraussetzung für den Anspruch auf eine Umschulung ist, wie in Erw. 2.1
dargelegt, zunächst die Erheblichkeit der Invalidität in Form einer
bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbseinbusse von etwa 20 %, nicht,
wie dies die Vorinstanz festhält, eine mindestens 20%ige Arbeitsunfähigkeit
im bisherigen Beruf. Zur Festlegung der massgebenden Erwerbseinbusse sind als
Erstes der Grad der Arbeits(un)fähigkeit des Versicherten, anschliessend die
Auswirkung der allfälligen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in erwerblicher
Hinsicht zu prüfen.

4.2 Die Feststellungen der IV-Stelle in der Verfügung vom 21. Mai 2003 und im
Einspracheentscheid vom 10. Oktober 2003, wonach keine Arbeitsunfähigkeit
vorliege bzw. attestiert werde, widerspricht der medizinischen Aktenlage. Die
Vorinstanz geht auch vom Fehlen einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit als
Zimmermann aus und begründet dies damit, dass die durch Dr. A.________
attestierte Arbeitsunfähigkeit als Zimmermann in Anbetracht der bisherigen
ärztlichen Berichte nicht schlüssig und nicht nachvollziehbar sei. Dieser
Auffassung kann so nicht beigepflichtet werden. Der behandelnde Chiropraktor
Dr. A.________ äusserte sich nämlich als einziger zur Frage der
Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf als Zimmermann für den massgebenden
Zeitpunkt. In seinem Bericht vom 21. August 2002 diagnostizierte er ein
unfallbedingtes Distorsionstrauma der HWS, Status nach Schädel-Hirntrauma mit
Contusio cerebri sowie posttraumatische labyrinthäre Funktionsstörung und
Dysbalance. Gestützt darauf schloss er die Ausübung des Berufs als Zimmermann
klar aus und hielt berufliche Massnahmen für dringend angezeigt. Eine
behinderungsangepasste Tätigkeit wäre dem Versicherten seiner Meinung nach
ganztags zumutbar. Einschränkungen physischer Art in der Arbeitsbelastbarkeit
ergäben sich insbesondere beim Heben und Tragen über Brusthöhe sowie von
schweren Gegenständen bereits bis Lendenhöhe, bezüglich Haltung und
Beweglichkeit beim Hantieren mit schweren Werkzeugen, bei Arbeiten über
Kopfhöhe, bei Rotation, bei vorgeneigtem Sitzen und Stehen, beim Knien und
Kniebeugen sowie bei längerem Stehen und schliesslich beim Besteigen von
Leitern. Eingeschränkt seien insbesondere auch das Gleichgewicht und das
Balancieren. Dass in den übrigen, im wesentlichen von der SUVA beigezogenen
ärztlichen Berichten keine entsprechenden Aussagen zu finden sind, vermag die
Beurteilung durch Dr. A.________ nicht von vornherein als nicht schlüssig und
nicht nachvollziehbar erscheinen lassen, waren doch im Verfahren vor der SUVA
nicht die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers, sondern vielmehr die
Diagnose, die Kausalität des Rückfalles und die Höhe der
Integritätsentschädigung Gegenstand der Untersuchungen. So diagnostizierte
die Klinik Z.________ am 21. Februar 1997 einen Verdacht auf vestibulären
Schwindel bei Status nach schwerem Autounfall mit Commotio cerebri und
Rissquetschwunde über der linken Augenbraue. In der kreisärztlichen
Untersuchung vom 7. Juli 1998 wurden die Schwindelbeschwerden bestätigt. Dr.
med. S.________ stellte als Spezialarzt für Neurologie in seinem Bericht vom
26. November 2001 die Diagnose einer posttraumatischen labyrinthären
Funktionsstörung und Dysbalance. Als Spätfolge des Unfalles wurde
schliesslich in der neurologischen Untersuchung vom 27. März 2002 eine noch
nicht stabilisierte vestibuläre Funktionsstörung objektiviert, was als
seltener ungünstiger Verlauf qualifiziert wurde. Wegen der damals
diagnostizierten bleibenden Schädigung des Gleichgewichtsfunktionssystems
sprach die SUVA dem Versicherten eine Integritätsentschädigung aufgrund einer
Integritätseinbusse von 20 % zu. Aus den erwähnten Berichten ergibt sich das
Vorliegen gesundheitlicher Beschwerden. Für die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit als Zimmermann ist die medizinische Aktenlage jedoch
ungenügend. Einerseits kann nicht aus dem Umstand, dass sich die von der SUVA
eingeholten Berichte nicht zur Arbeitsfähigkeit äussern, auf eine volle
Arbeitsfähigkeit geschlossen werden, andrerseits vermag die Beurteilung durch
den Chiropraktor Dr. A.________ nicht rechtsgenüglich eine 100%ige
Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Die IV-Stelle hätte vielmehr weitere
Abklärungen zu dieser Frage vornehmen sollen, zumal sie in ihren
Stellungnahmen vom 3. Januar und 10. März 2003 selber von einer
Arbeitsunfähigkeit als Zimmermann ausging. Die Sache wird demzufolge an die
IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie eine entsprechende medizinische und
allenfalls erwerbliche Abklärung einhole und anschliessend über den Anspruch
auf Umschulung neu befinde.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. Mai 2004
und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 10. Oktober
2003 aufgehoben und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch des
Beschwerdeführers auf Umschulung zum Fernseh-Cutter neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 29. April 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: