Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 347/2004
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I 347/04

Urteil vom 10. Dezember 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Sanitas Grundversicherungen AG, Lagerstrasse 107, 8004 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug

(Entscheid vom 29. April 2004)

Z.________, 1964

Sachverhalt:

A.
Die 1964 geborene Z.________ bezieht seit 1. Oktober 1997 infolge
verschiedener Beschwerden, insbesondere eines systemischen Lupus
erythematodes (SLE), eine halbe (vom 1. Dezember 1997 bis 31. Mai 1998 eine
ganze) Rente der Invalidenversicherung. Am 30. Januar 2003 ersuchte sie die
IV-Stelle Zug wegen beidseitigem grauem Star um Übernahme der
Kataraktoperationen (vom 15. Januar am rechten und 26. März 2003 am linken
Auge). Die Verwaltung lehnte die Übernahme der Staroperationen und einer
Brille als Hilfsmittel mit Verfügung vom 18. August 2003 ab, weil
Nebenbefunde den Eingliederungserfolg gefährden oder gar ausschliessen
würden. Auf Einsprache der Versicherten hin hielt die IV-Stelle an ihrer
Verfügung fest (Einspracheentscheid vom 17. November 2003).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der Sanitas Grundversicherungen AG
(nachfolgend: Sanitas oder Beschwerdegegnerin), bei welcher Z.________
obligatorisch krankenpflegeversichert ist, hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Zug mit Entscheid vom 29. April 2004 insoweit gut, als es den
Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur Vornahme einer medizinisch
prognostischen Beurteilung an die IV-Stelle zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt des Bundesamt für
Sozialversicherung (nachfolgend: BSV oder Beschwerdeführerin) die Aufhebung
des kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die Vorinstanz um Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ersucht, beantragt die Sanitas sinngemäss die Übernahme mindestens einer
Kataraktoperation einschliesslich Vor- und Nachbehandlung als medizinische
Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung, eventualiter die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die IV-Stelle schliesst auf
Gutheissung derselben.

D.
Weil nach einer Reproduktion der Akten durch die IV-Stelle im Verlaufe des
Vernehmlassungsverfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht nicht
ausgeschlossen werden konnte, dass die Sanitas bei erstmaliger Gelegenheit
zur Stellungnahme nicht im Besitze sämtlicher Unterlagen gewesen war, räumte
ihr der Instruktionsrichter eine zweite Gelegenheit zur Vernehmlassung ein.
Mit Eingabe vom 26. November 2004 hält die Sanitas an ihrer bereits zuvor
geäusserten Auffassung fest und verweist unter anderem sinngemäss auf ihre
erste Vernehmlassung vom 12. (recte: 16.) August 2004. Das BSV verzichtet auf
eine Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über den Anspruch auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend
dargelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die Ausführungen zur Wesentlichkeit und
Dauerhaftigkeit des voraussichtlichen Eingliederungserfolgs der medizinischen
Vorkehr (AHI 2000 S. 298 f. Erw. 1b und c mit Hinweisen) und zur Praxis über
die medizinisch-prognostische Beurteilung der Dauerhaftigkeit des
Eingliederungserfolgs anhand des massgebenden medizinischen Sachverhalts in
seiner Gesamtheit vor Durchführung der fraglichen Operationen (SVR 2004 IV
Nr. 13 S. 40 Erw. 8.1 und AHI 2000 S. 299 Erw. 2b, je mit Hinweisen). Richtig
ist auch, dass die Übernahme einer Staroperation als medizinische
Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in
Frage kommen kann (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit Hinweisen), dass aber eine
Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges
nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der
Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer
Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die
Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (SVR 2004 IV Nr. 13 S. 38
Erw. 4.2, AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b). Korrekt ist sodann der Hinweis darauf,
dass die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG (4.
IVG-Revision, AS 2003 3837) keine Anwendung finden, weil nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
(hier: vom 17. November 2003) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen
vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw.
1.2). Darauf wird verwiesen.

1.2 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 IVG namentlich bezweckt,
die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese
Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder
einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den
Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw.
1, 102 V 41 f.).

2.
2.1 Eine unerlässliche Voraussetzung für die Übernahme der beiden
Staroperationen am rechten und am linken Auge als medizinische
Eingliederungsmassnahmen durch die Invalidenversicherung ist das Fehlen
erheblicher krankhafter Nebenbefunde, die ihrerseits geeignet sind, die
Aktivitätserwartung der Versicherten trotz der Operationen gegenüber dem
statistischen Durchschnitt wesentlich herabzusetzen, wobei die
Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolgs aus
medizinisch-prognostischer Sicht beurteilt werden müssen (Urteil L. vom 27.
Januar 2003, Erw. 4.1, I 385/02; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen). Das
kantonale Gericht erkannte dies zutreffend und verwies ergänzend auf BGE 101
V 99 Erw. 3a, wonach es zwar nicht notwendig sei, dass die Verwaltung die
Bedeutung der Nebenbefunde im Hinblick auf den Eingliederungserfolg bis in
alle Einzelheiten abkläre. Dies entbinde sie indessen nicht davon, vom Arzt
die zur Beurteilung unerlässlichen Angaben zu beschaffen. Namentlich sei zu
verlangen, dass der Arzt sämtliche allfällig bestehenden krankhaften
Nebenbefunde anführe und - soweit ohne spezielle Abklärungen möglich - zu Art
und Intensität ihrer vermutlichen Auswirkungen auf den voraussichtlich zu
erwartenden Eingliederungserfolg Stellung nehme. Weiter führte die Vorinstanz
aus, weil sich bei den Akten keine medizinisch-prognostische Beurteilung der
Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolgs durch einen Arzt oder eine Ärztin
finde, sei mit Blick auf die internistischen Nebenbefunde nicht mit dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt, dass die
Aktivitätserwartung dadurch gegenüber dem statistischen Durchschnitt als
ungleich kürzer erscheine. Deshalb sei der Einspracheentscheid aufzuheben und
die Sache zur ergänzenden Einholung einer solchen medizinisch-prognostischen
Beurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen.

2.2 Demgegenüber macht das BSV geltend, "für einen Mediziner" seien die
internistischen Diagnosen gemäss Bericht des Dr. med. K.________ vom 21.
Februar 2003 genügend aufschlussreich, um zum weiteren Verlauf und damit zur
Prognose Aussagen machen zu können. Angesichts des SLE, unter welchem die
Versicherte leide und welcher bei ihr bereits zu Folgeschäden geführt habe
(Niereninsuffizienz, Myocardinfarkt usw.), sei von einem schweren
Krankheitsverlauf auszugehen. Dies führe zu einem erhöhten Risiko von
medikamentenverursachten Komplikationen. Die Katarakt sei auch auf die hohen
Medikamentendosen (Kortison) zurückzuführen. Nach Literaturangaben gehe man
unter geeigneter Therapie von einer Überlebensrate von zehn Jahren bei
mindestens 80 - 90 % der Betroffenen aus.

2.3 Soweit das kantonale Gericht in seiner Vernehmlassung vom 24. Juni 2004
sinngemäss rügt, das BSV interpretiere zu Unrecht das Schweigen des
Ophtalmologen Dr. med. K.________ zu den fraglichen Nebenbefunden, ist der
Vorinstanz insofern beizupflichten, als es die Beschwerdeführerin unterliess,
ihre Einschätzungen ersichtlich und nachvollziehbar auf einen ärztlichen
Bericht oder eine in der medizinischen Fachliteratur vertretene Auffassung
abzustützen. Dies ändert nichts daran, dass die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, wie nachfolgend zu zeigen sein wird,
gutzuheissen ist. Hatte die IV-Stelle dem kantonalen Gericht im
vorinstanzlichen Verfahren offenbar versehentlich nicht alle verfügbaren
Unterlagen eingereicht, scheint die Verwaltung nunmehr letztinstanzlich die
vollständigen Akten aufgelegt zu haben. Die Sanitas hält auch nach
Kenntnisnahme der vervollständigten Akten unter Verweis auf ihre
Vernehmlassung vom 12. (recte: 16.) August 2004 an ihren damals gestellten
Anträgen fest. Insbesondere verzichtet die Sanitas auf die Erhebung der Rüge,
im vorinstanzlichen Verfahren sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch
verletzt worden, dass die IV-Stelle dem kantonalen Gericht nicht rechtzeitig
sämtliche einschlägige Unterlagen zur Verfügung gestellt habe.

3.
3.1 Den ergänzten Akten ist zu entnehmen, dass die Versicherte selber
anlässlich ihrer ersten Anmeldung zum Leistungsbezug vom 15. April 1996
gegenüber der IV-Stelle des Kantons Wallis (unter Ziffer 6.6 betreffend
Hilfsmitteln) sinngemäss zum Ausdruck brachte, dass der graue Star auf die
Nebenwirkungen der Kortisonbehandlung zurückzuführen ist. Gemäss Bericht der
Rheumatologischen Klinik und Poliklinik des Spitals X.________ vom 20.
September 1994 leidet sie bereits seit 1982 an SLE. Bei dieser Krankheit
liegt heute die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei mehr als 90 % (Reuter,
Springer Lexikon Medizin, Berlin/Heidelberg/New York 2004, S. 1283). Dr. med.
S.________ wies im zuletzt genannten Bericht darauf hin, dass die multiplen
Beschwerden - insbesondere die seit 1993 wieder fortschreitende
Niereninsuffizienz - in einem Zusammenhang mit dem SLE stünden und zu einer
erheblichen Steroidbedürftigkeit (täglich 30 Milligramm Calcort seit Juli
1992) sowie zu "einer Fülle vegetativer Begleitsymptome und [einer]
Visusverschlechterung nach Angaben der Patientin (Glaukom??)" geführt hätten.
Einem weiteren Bericht der Augenklinik und Augenpoliklinik des Spitals
X.________ vom 6. Oktober 1995 ist die Diagnose zu entnehmen: "rechtsbetonte
zentrale hintere Schalentrübung im Sinne einer Cataracta complicata bei
langjährigem Steroidgebrauch". Der SLE der Versicherten wird seit Jahren
unter anderem mit Prednison behandelt. Prednison ist ein dehydriertes
Cortison und gehört zu den Glukokortikoiden (Pschyrembel, Klinisches
Wörterbuch, 260. Auflage, Berlin/New York 2004, S. 1474). Das Risiko einer
Katarakt ist nach Langzeittherapie mit Glukokortikoiden 2,5- bis 18-fach
erhöht (Henzen, Therapie mit Glukokortikoiden: Risiken und Nebenwirkungen,
in: Swiss Medical Forum 2003 S. 442 ff., insbesondere S. 445; vgl. auch
Grehn, Augenheilkunde, 27. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 1998, S. 151,
395 und 444).

3.2 Angesichts dieser Tatsachen ist mit dem Beschwerde führenden BSV nach
umfassender Würdigung der vorhandenen medizinischen Akten festzuhalten, dass
bei der Versicherten als Folge des SLE und der damit verbundenen
verschiedenartigen gesundheitlichen Beschwerden sowie wegen der diesbezüglich
erforderlichen medikamentösen Therapie bzw. den daraus resultierenden
Nebenwirkungen von einem deutlich erhöhten Risiko einer Kataraktbildung
auszugehen ist. Unter den gegebenen Umständen bedarf es demnach mit Blick auf
die neben der Katarakt vorhandenen, medizinisch ausführlich dokumentierten
erheblichen "Nebenbefunde" (die eigentliche Hauptkrankheit besteht im SLE)
keiner zusätzlichen ärztlichen Stellungnahme zur medizinisch-prognostischen
Beurteilung der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolgs der beiden
Kataraktoperationen am rechten und am linken Auge. Dabei kann offen bleiben,
ob bei diesem schweren Krankheitsverlauf und dem sich verschlechternden
allgemeinen Gesundheitszustand (vgl. Bericht des Spitals X.________ vom 23.
Juli 2002) in Bezug auf die Visusverhältnisse vor Durchführung der
Staroperationen überhaupt von einem stabilen oder mindestens relativ
stabilisierten Defektzustand gesprochen werden konnte.

3.3 Ist nach dem Gesagten die Voraussetzung des Fehlens erheblicher
krankhafter Nebenbefunde hier nicht erfüllt, hat die IV-Stelle die Übernahme
dieser Staroperationen und der daran anknüpfenden Brillenversorgung (vgl.
Art. 21 Abs. 1 IVG) im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

4.
Nach Art. 134 OG darf das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten
auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der
Versicherten geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit stehen
(BGE 126 V 192 Erw. 6). Rechtsprechungsgemäss findet der Grundsatz der
Unentgeltlichkeit des Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
keine Anwendung, wenn sich zwei Unfallversicherer (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119
V 223 Erw. 4c), eine Krankenkasse und ein Unfallversicherer (BGE 126 V 192
Erw. 6, AHI 1998 S. 110), die Invalidenversicherung und der Unfallversicherer
(AHI 2000 S. 206 Erw. 2) oder die Krankenkasse und die Invalidenversicherung
(SVR 2004 IV Nr. 13 S. 41 Erw. 9 mit Hinweis) über ihre Leistungspflicht für
einen gemeinsamen Versicherten streiten. Folglich hat die Sanitas als
unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 135 in Verbindung mit
Art. 156 Abs. 1 und 3 OG). Unter den besonderen Umständen des vorliegenden
Falles hat jedoch die Verwaltung die Verfahrenskosten zumindest insoweit zu
vertreten, als sie der Vorinstanz nachweislich nicht sämtliche Akten
einreichte. Es rechtfertigt sich deshalb, hier vom ordentlichen Tarif für die
Gerichtsgebühren im Verfahren vor dem Bundesgericht (SR 173.118.1)
abzuweichen und der unterliegenden Beschwerdegegnerin nur eine reduzierte
Gerichtsgebühr aufzuerlegen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 29. April 2004 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2000.- werden der Sanitas Grundversicherungen AG
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, der
IV-Stelle Zug und Z.________ zugestellt.

Luzern, 10. Dezember 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: