Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 346/2004
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I 346/04

Urteil vom 24. August 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber
Grunder

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________, 1980, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker
Pribnow, Stadtturmstrasse 10, 5400 Baden

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 11. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1980 geborene B.________ wurde erstmals im Oktober 1987 wegen
neurotisch-depressiver Entwicklung mit agressivem Ausagieren, emotionalem
Mangelerleben, konfliktreicher familiärer Situation, psychomotorischer
Unruhe, Status nach Schädel-/Hirntrauma 1984 sowie bioelektrischer Epilepsie
bei der Invalidenversicherung angemeldet. Diese erbrachte verschiedene
Leistungen (ambulante Psychotherapie, Beiträge an die Sonderschulung). Nach
Abschluss der obligatorischen Schulpflicht begann er im Jahre 1996 eine
Lehre. Ungefähr sechs Monate später verübte B.________ einen Überfall auf
eine Taxifahrerin, weswegen ihn das Jugendgericht Zürich zu einer
Erziehungsmassnahme im Sinne von Art. 91 Ziff. 1 StGB verurteilte, welche ab
1. Juni 1997 in einem Erziehungsheim in Südfrankreich vollzogen wurde. Mit
Verfügung vom 28. Mai 1999 ordnete die Jugendanwaltschaft Zürich die
Einweisung in die Stiftung M.________ an, wo B.________ ab 1. Juni 1999 eine
Ausbildung zum Fotografen und nach Abbruch derselben ab August 2000 eine
Kochlehre begann.

Am 11. August 2000 meldete er sich zum Leistungsbezug (Berufsberatung,
Umschulung, Rente) bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des
Kantons Zürich holte einen Arbeitgeberbericht der Stiftung M.________ vom 4.
Oktober 2000 sowie medizinische Stellungnahmen des Dr. med. S.________,
prakt. Arzt, vom 22. Februar 2001 (welchem Berichte des Spitals X.________
vom 17. September 1998 und 29. Oktober 1998 [Neurologische Klinik] und 16.
Juli 1998 [Dep. Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie] sowie ein
vom Versicherten ausgefertigter, undatierter Lebenslauf beilagen) und der
Neurologischen Poliklinik des Spitals X.________, Dr. med. K.________, vom
22. Dezember 2000 (mit beigelegtem Bericht dieses Arztes vom 29. Oktober
2000) ein. Danach veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung (Expertise
der Psychiatrischen Klinik des Spitals X.________ vom 10. Oktober 2001).
Diesen Unterlagen gemäss bestehen im Wesentlichen chronische Kopfschmerzen
vom Spannungstyp mit intermittierenden Schmerzattacken unklarer Genese
(anamnestisch beginnend in der Kindheit), Status nach Commotio cerebri und
Schädelfraktur im Juli 1984 sowie Verdacht auf Politoxikomanie (anamnestisch
abstinent). Mit Verfügung vom 5. Dezember 2001 lehnte die IV-Stelle das
Leistungsbegehren (nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren) ab.

B.
Hiegegen liess B.________ Beschwerde einreichen und beantragen, die Sache sei
an die Verwaltung zu weiteren Abklärungen in medizinischer Hinsicht
zurückzuweisen. Im kantonalen Verfahren legte er ein Gutachten der Frau Dr.
med. D.________, Neurologue FMH, vom 2. April 2002 auf. Gestützt darauf
stellte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich fest, dass eine
Arbeitsunfähigkeit von 50% bestehe. Es hiess die Beschwerde in dem Sinne gut,
dass es die Sache an die Verwaltung zurückwies, damit diese nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen über den Leistungsanspruch neu verfüge
(Entscheid vom 11. Mai 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle, es sei der
vorinstanzliche Entscheid aufzuheben; eventualiter sei die Sache zu
ergänzender Abklärung der allenfalls bestehenden Arbeitsunfähigkeit
zurückzuweisen.

B. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen;
ferner stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung. Das Bundesamt
für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt, dass das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) am
1. Januar 2003 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Bereich der Invalidenversicherung geändert worden. Weil in zeitlicher
Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der
Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestands Geltung haben und weil
ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles
grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung (hier: 5.
Dezember 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit
Hinweisen), sind die bis 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die Normen über den Begriff der Invalidität (Art. 4
Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) und den
Anspruch auf erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 Abs. 1 IVG) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Auf Grund der medizinischen Unterlagen steht fest und ist unbestritten,
dass der Beschwerdegegner an seit der Kindheit bestehenden
Spannungskopfschmerzen und intermittierenden, migräneartigen Anfällen leidet.
Streitig und zu prüfen sind die Auswirkungen dieses Gesundheitsschadens auf
die Arbeitsfähigkeit in der Ausbildung. Die Vorinstanz hat zur Beantwortung
dieser Frage auf das Gutachten der Frau Dr. med. D.________ vom 2. April 2002
abgestellt, wonach der Beschwerdegegner im Umfang von 50% arbeitsunfähig sei.
Die IV-Stelle macht in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, die
Abklärungen im Spital X.________, worauf sich die Expertin ausdrücklich
beziehe, hätten keine schwerwiegenden Befunde ergeben. Gemäss Bericht des Dr.
med. K.________, Neurologische Poliklinik des Spitals X.________, vom 22.
Dezember 2001 sei der Beschwerdegegner vollständig arbeitsfähig. Die
medizinische Expertise der Frau Dr. med. D.________ vermöge diese
Einschätzung nicht zu erschüttern.

3.2 Frau Dr. med. D.________ gelangt zum Schluss, dass die chronischen
Kopfschmerzen, die Folge des beim Unfall vom 11. April 1984 erlittenen
leichten Schädel-/Hirntraumas seien, zu Gedächtnis- und
Konzentrationsstörungen sowie erhöhter Ermüdbarkeit führten. Diese
Symptomatik erkläre die festzustellende Tendenz zu erhöhter Vulnerabilität.
Laut Angaben des Beschwerdegegners habe er die Fotografenlehre u.a. wegen
Lichtempfindlichkeit aufgeben müssen und er schätze die erbrachte Leistung in
der begonnenen Ausbildung zum Koch auf 60% bis 70%. Davon ausgehend legt die
Expertin dar, die Lehre erfolge in geschütztem Rahmen (regelmässige
Arbeitszeiten während der wöchentlichen Arbeitstage; freie Wochenenden),
weshalb unter Berücksichtigung der Anforderungen auf dem freien Arbeitsmarkt
im Bereiche des Gastgewerbes die Leistungsfähigkeit insgesamt um 50%
herabgesetzt sei.

Die Gutachterin erwähnt unter dem Titel "Anamnèse systématique" einen
aktuellen Cannabiskonsum von fünf Zigaretten täglich, die der Explorand
("Plaintes actuelles") benötige, um die Kopfschmerzen zu ertragen.
Ananmestisch ist gemäss psychiatrischem Gutachten der Klinik Y.________ vom
22. Oktober 2002 anzunehmen, dass der Beschwerdegegner bereits während der
Schulzeit an einer Politoxikomanie (regelmässiger Cannabis-, sporadischer
Ecstasy- und LSD-Konsum, Alkoholabusus) litt. Erfahrungsgemäss kann der
häufige und kombinierte Konsum von Betäubungsmitteln eine deutliche
Leistungsverminderung im Berufsalltag zur Folge haben. Namentlich die
Einnahme von Cannabis führt u.a. zu einer kontemplativen Stimmung bei
apathischer Stimmungslage, Störungen der Psychomotorik (insbesondere die
sogenannte "Haschisch- oder Pseudokatalepsie"), Tremor, Beeinträchtigung des
Sehvermögens und der Lichtempfindlichkeit und Schwindelgefühlen (Thomas
Geschwinde, Rauschdrogen, Marktformen und Wirkungsweisen, vierte Auflage
1998, S. 30 f.). Auch bei nur gelegentlichem Konsum können völlig
unkontrollierte Reaktionen, Aggressivität und Gewalttätigkeit auftreten
(a.a.O., S. 59). Es handelt sich mithin um Symptome, über welche sich der
Beschwerdegegner beklagt ("sensations vertigineuses", "difficulté à trouver
les mots et les articuler", "impossibilité à communiquer avec
l'environnement", "forte sensation d'agressivité", "très grande fatigue
nécessitant de dormir", "photophobie", "des troubles de la concentration",
"difficulté à retenir des noms et des chiffres ou calculer"; vgl. Gutachten
der Frau Dr. med. D.________). Auf Grund des Gesagten ist nicht
auszuschliessen, dass die geltend gemachten Beschwerden zumindest teilweise
auf die Einnahme von Cannabis, anderen Betäubungsmitteln oder Alkohol
zurückzuführen sind. Mit dieser Sachlage setzt sich Frau Dr. med. D.________
nicht explizit auseinander. Dazu hätte jedoch schon deshalb Anlass bestanden,
weil die Expertin einerseits die Arbeitsunfähigkeit einzig gestützt auf die
Selbsteinschätzung des Beschwerdegegners beurteilt und andererseits gemäss
psychiatrischem Gutachten des Spitals X.________ keine psychische
Gesundheitsstörung von Krankheitswert (unauffälliger Psychostatus; keine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit) vorliegt, welche zumindest als
teilkausale Ursache eines Betäubungsmittelmissbrauchs oder Alkoholabusus in
Betracht zu ziehen wäre (vgl. BGE 102 V 165; AHI 1996 S. 301, 304, 307).
Daher kann nicht ohne Weiteres auf das vorinstanzlich eingereichte Gutachten
der Frau Dr. med. D.________ abgestellt werden.

3.3 Auf der anderen Seite lassen auch die Berichte der Dres. med. K.________
(vom 22. Dezember 2000) und S.________ (vom 22. Januar 2001), welche in der
Diagnose ebenfalls auf chronische Kopfschmerzen schliessen, keine
abschliessende Beurteilung zu. Sie geben zwar eine vollständige
Arbeitsfähigkeit an, schränken jedoch ausdrücklich ein, es seien keine
sicheren Angaben möglich. Zudem erwähnt auch Dr. med. K.________ die Einnahme
von Marihuana (ca. 3 Gramm pro Woche), ohne auf die Frage einer bestehenden
Drogensucht und deren gesundheitliche Auswirkungen näher einzugehen.

3.4 Nach dem Gesagten ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz auf Grund
der medizinischen Akten eine schlüssige Beurteilung des Sachverhalts nicht
möglich. Die Sache ist daher entsprechend dem Eventualantrag in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an die IV-Stelle zur weiteren medizinischen
Abklärung zurückzuweisen.

4.
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung
mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung
geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es
wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG verwiesen, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande sein wird.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird Ziff.1 des
Entscheides des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Mai
2004 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 5. Dezember 2001
aufgehoben und die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch
neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Volker
Pribnow, Baden, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 24. August 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i.V.