Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 338/2004
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I 338/04

Urteil vom 2. Mai 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Traub

A.________, 1950, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Reto
Ineichen, Weggisgasse 29, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 12. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1950 geborene A.________ war seit 1980 bei der Firma X.________ AG als
Verdrahter tätig. Am 20. April 1999 meldete er sich unter Hinweis auf
gesundheitliche Beschwerden im Bereich der unteren und oberen Extremitäten
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des
Kantons Luzern klärte den Fall in medizinischer und erwerblicher Hinsicht ab
und sprach A.________ für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis zum 30. Juni 2001
eine ganze Invalidenrente (bei einem Invaliditätsgrad von 77 Prozent) und ab
dem 1. Juli 2001 eine halbe Invalidenrente (Invaliditätsgrad: 63 Prozent) zu
(Verfügungen vom 19. November 2002).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies die dagegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 12. Mai 2004).

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es sei
ihm, unter Aufhebung von strittiger Verfügung und angefochtenem Entscheid,
über den 30. Juni 2001 hinaus eine ganze Invalidenrente auszurichten.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung enthält sich einer Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28
Abs. 1 IVG), zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 126 V
75, 104 V 136 Erw. 2a/b) sowie zur Revision der Rente bei Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit (Art. 41 IVG, Art. 88a Abs. 1 IVV) zutreffend dargelegt.
Ebenfalls verwiesen werden kann auf die vorinstanzlichen Ausführungen über
die Bedeutung medizinischer Entscheidungsgrundlagen (BGE 125 V 261 Erw. 4)
sowie über die aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung abgeleiteten
Vorgaben hinsichtlich des Beweiswertes ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE
125 V 352 Erw. 3a).
Mit der Vorinstanz bleibt festzuhalten, dass das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (in
Kraft seit dem 1. Januar 2003) keine Anwendung findet (BGE 129 V 4 Erw. Erw.
1.2 mit Hinweisen). Das Gleiche gilt für die auf den 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Bestimmungen gemäss der Änderung des IVG vom 21. März 2003 (4.
IV-Revision).

2.
Zu prüfen ist, ob die Verwaltung die für den Zeitraum von Juni 1999 bis Juni
2001 gewährte ganze Invalidenrente zu Recht mit Wirkung ab dem 1. Juli 2001
auf eine halbe Rente herabgesetzt hat. Der Beschwerdeführer bestreitet unter
Hinweis auf die gesundheitlichen Verhältnisse, dass der Invaliditätsgrad
unter 66 2/3 Prozent gesunken ist.

2.1 Der Beschwerdeführer leidet nach Feststellung der Rheuma- und
Rehabilitationsklinik Y.________ an - teilweise traumabedingten - Beschwerden
im Bereich des linken Knies, an beidseitigen Ellbogenschmerzen und
Achillessehnenschmerzen (Bericht vom 14. Juni 1999). Eine berufskundliche und
funktionelle Evaluation durch die Berufliche Abklärungsstelle (BEFAS) ergab,
dass der Versicherte aufgrund seines körperlichen Zustandes in der Lage sei,
eine leichte, wechselnd belastende Tätigkeit ganztags auszuüben
(Abklärungsbericht vom 15. März 2000). Die schon in der Rheuma- und
Rehabilitationsklinik Y.________ diagnostizierte depressive Verstimmung mit
Symptomausweitung und Chronifizierungstendenz liess auch den
Abklärungspersonen der BEFAS eine psychiatrische Begutachtung als angezeigt
erscheinen. Diese erfolgte durch das Psychiatriezentrum Z.________ am Spital
Q.________. Nach den Schlussfolgerungen der Expertise vom 15. November 2000
war der Versicherte wegen einer mittelschweren depressiven Episode mit
somatischem Syndrom (ICD-10: Ziff. F32.11) sowie einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: Ziff. F45.4) spätestens seit Frühjahr
1999 zu mindestens 70 Prozent arbeitsunfähig. Eine neue Begutachtung durch
dieselben Sachverständigen vom 7. Mai 2002 wies eine Verbesserung des
psychiatrischen Status aus, indem nunmehr, neben der somatoformen
Schmerzstörung, bloss noch eine leichte depressive Störung bestehe; die
Arbeitsfähigkeit betrage seit April 2001 "ca." 50 Prozent. Die Verwertung der
hälftigen Arbeitsfähigkeit sei in einem zeitlichen Rahmen von ungefähr fünf
Stunden täglich zumutbar.

2.2 Die Gutachten des Psychiatriezentrums Z.________ vom 15. November 2000
und vom 7. Mai 2002 sind bemerkenswert umfassend und schlüssig. Sie
schliessen namentlich eine psychotische Erkrankung, eine psychische Störung
aufgrund zerebraler Läsionen oder Erkrankungen und eine
Persönlichkeitsstörung mit einleuchtender Begründung aus. Die im Frühjahr
2002 erfolgte Feststellung einer noch leichten depressiven Episode mit
somatischen Symptomen sowie einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
berücksichtigt die Lebenssituation des Beschwerdeführers sowohl in ihren
privaten wie erwerblichen Bezügen. Sie stützt sich auf die eigenen
Beobachtungen der Gutachter, aber auch auf die Ergebnisse eines stationären
Aufenthalts im Psychiatriezentrum Z.________ ein Jahr zuvor. Die namhafte
Abschwächung des Schweregrades der Depression lässt sich zwar nach
gutachterlichem Bekunden nicht schlüssig erklären; immerhin finden die
Sachverständigen aber verschiedene Ansätze für eine entsprechende Begründung
(wirksame Medikation, Wegfall eines Belastungsfaktors im familiären Bereich,
Veränderung des Selbstbildes).

Die auch bei der zweiten Erhebung weiterbestehende Schmerzsymptomatik wird
nachvollziehbar mit zwei Erklärungsmustern unterlegt. Einerseits stehe die
dysfunktionale Schmerzverarbeitung zumindest teilweise in Zusammenhang mit
der depressiven Störung; eine solche vermöge die Schmerzwahrnehmung zu
verstärken. Anderseits lasse sich die Schmerzsymptomatik, soweit somatisch
nicht erklärbar, aus psychiatrischer Sicht auch darauf zurückführen, dass der
Versicherte, welcher in den letzten 20 Jahren zumindest beruflich
ausschliesslich an seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gemessen worden
sei, wegen der physischen Ausfälle das erforderliche Vertrauen in den eigenen
Körper verloren habe, und er zugleich unfähig sei, Affekte, Konflikte und
psychosoziale Probleme zu verbalisieren. Deren Verarbeitung erfolge statt
dessen mittels körperlicher Symptome, hier in Form der Schmerzsymptomatik mit
chronifizierendem Verlauf. Das arbeitstherapeutisch festgestellte
selbstlimitierende Verhalten - zu sehen auch in Zusammenhang mit einem (rein)
organmedizinischen Krankheitsverständnis des Betroffenen - sei für
Schmerzpatienten typisch. Diese suchten (starke) Schmerzen zu vermeiden und
entwickelten sich so "progredient dysfunktional". Die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit schliesslich erfolgte unter Berücksichtigung sowohl der
hausärztlichen Beurteilungen wie auch der Abklärungen der BEFAS.

Die gutachtlichen Schlussfolgerungen sind vollumfänglich beweistauglich. Der
Umstand, dass die Sachverständigen den bei jeder Schätzung der zumutbaren
Leistung bestehenden Unsicherheitsfaktor kenntlich gemacht haben, indem sie
eine Arbeitsfähigkeit von "ca." 50 Prozent bescheinigten und überdies auf die
Möglichkeit verwiesen, dass bei Aufnahme einer Arbeit zumindest vorübergehend
mit einer Erhöhung des Schmerzniveaus zu rechnen sei, was zu Beginn einer
Anstellung berücksichtigt werden müsse, relativiert die Verlässlichkeit der
Arbeitsfähigkeitsschätzung nicht, sondern stärkt im Gegenteil die
Glaubwürdigkeit der Beurteilung. Implizierte die verwendete Formulierung, wie
der Beschwerdeführer meint, ohne weiteres einen unbestimmt höheren Grad der
Arbeitsunfähigkeit, so ergäbe die prozentuale Festlegung keinen Sinn.

2.3 Die Klärung des Sachverhalts durch die Vorinstanzen ist demnach nicht zu
beanstanden, was die psychiatrischen Aspekte angeht. Hingegen stellt sich
nach Lage der Akten ernsthaft die Frage, ob dies auch für den körperlichen
Gesundheitsschaden gilt.

2.3.1 Die Vorinstanz ist - unter Hinweis auf einen eigenen Entscheid vom 23.
August 2002 betreffend die Leistungspflicht des obligatorischen
Unfallversicherers - davon ausgegangen, nach Ende August 1998 seien
hinsichtlich der geklagten Ellbogenschmerzen keine pathologischen Befunde
mehr feststellbar. Demgegenüber wurde bereits am 21. November 2002 bei einer
magnetresonanztomographischen Untersuchung im Spital Q.________ eine
humeroradiale Arthrose des rechten Ellbogengelenks festgestellt. Eine am
Spital V.________ angefertigte Arthrographie vom 21. Januar 2004 wies sodann
einen fortgeschrittenen Knorpelschaden im Humeroradialgelenk aus (Bericht vom
23. Januar 2004).

2.3.2 Für die gerichtliche Beurteilung sind grundsätzlich die tatsächlichen
Verhältnisse zur Zeit des Erlasses der strittigen Verwaltungsverfügung (vom
19. November 2002) massgebend (BGE 121 V 366 Erw. 1b). Spätere medizinische
Berichte sind indes miteinzubeziehen, soweit sie Rückschlüsse auf den
zeitlich massgebenden Sachverhalt zulassen (vgl. BGE 99 V 102). Die
Verwaltung macht geltend, die erwähnten Befunde seien im vorliegenden
Verfahren nicht zu berücksichtigen, da sie für den hier massgebenden Zeitraum
nicht nachgewiesen seien. Ohne nähere ärztliche Beurteilung ist diese
Folgerung indes nicht statthaft. Denn die humeroradiale Arthrose vorab des
rechten Ellbogengelenks war als solche bereits für den Zeitpunkt der
strittigen Verfügung (November 2002) erstellt. Es liegt denn auch auf der
Hand, dass, falls der anfangs 2004 objektivierte fortgeschrittene
Knorpelschaden die Leistungsfähigkeit anspruchserheblich beeinflusst, dies
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nicht erst nach dem massgebenden Zeitraum
geschehen wäre. Im Übrigen lässt sich die grundsätzliche Erheblichkeit der
Schädigung der Ellbogengelenke daran ablesen, dass Orthopäden der Klinik
W.________ bei der Diskussion der therapeutischen Optionen die mit einem
operativen Eingriff (Radiusköpfchenresektion) zu erreichende Schmerzlinderung
offenbar für erheblich genug ansahen, um den damit verbundenen Kraftverlust
von ungefähr 20 Prozent in Kauf zu nehmen (vgl. den Bericht vom 8. September
2004).

Die Frage, ob und in welchem Mass sich die Ellbogenschädigung vor November
2002 auf das Leistungsvermögen auswirkte, wird Gegenstand geeigneter
Abklärungen bilden. Die Sache ist zu diesem Zweck an die Verwaltung
zurückzuweisen.

3.
Ist die Sache zur weiteren Abklärung des Sachverhalts an die IV-Stelle
zurückzuweisen, so bedarf es keiner Ausführungen hinsichtlich der
Invaliditätsbemessung. Immerhin sei aber darauf hingewiesen, dass bei der
ermessensweisen Festlegung des leidensbedingten Abzuges (BGE 126 V 75) nicht
allein die vom kantonalen Gericht angeführten somatisch begründeten
funktionellen Einschränkungen bedeutsam sind. Daneben ist auch die allfällige
Auswirkung des Umstandes zu prüfen, dass depressionsbedingt eine allgemeine
Leistungsverlangsamung gewärtigt werden muss, welche dazu führt, dass die
Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent nicht in einem Halbtagespensum verwertet
werden kann (Gutachten des Psychiatriezentrums Z.________ vom 7. Mai 2002, S.
14 Ziff. 3.2).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 12. Mai 2004 und die
Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Luzern vom 19. November 2002 aufgehoben
und es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons Luzern zurückgewiesen,
damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Luzern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse der Schweizer
Maschinenindustrie, Zürich, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 2. Mai 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: