Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 333/2004
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I 333/04

Urteil vom 23. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Grunder

B.________, 1954, Beschwerdeführerin, vertreten durch die If AG,
Dienstleistungen für Soziale Sicherheit, Dornacherplatz 7, 4500 Solothurn,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 7. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1954 geborene, zuletzt in der Firma E.________ in der Abteilung
Photolithographie angestellte B.________ meldete sich am 11. Juli 2001 unter
Hinweis auf seit Jahren bestehende "Herzprobleme" zum Rentenbezug bei der
Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn holte u.a.
Berichte des Hausarztes, Dr. med. W.________ vom 17. August 2001 (welchem
Berichte des Spital N.________ und des Spital G.________ beigelegt waren),
der behandelnden Psychotherapeutin, Frau Dr. med. A.________ vom 7. Dezember
2001 sowie der Arbeitgeberin vom 4. September 2001 ein und veranlasste eine
Begutachtung durch Dr. med. R.________ vom 18. Mai 2002. Gemäss dieser
Expertise leidet die Versicherte an Angst und depressiver Reaktion gemischt
(ICD-10 F43.22) und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10
F45.4), weswegen (auch in Berücksichtigung der somatischen Faktoren) in der
Beschäftigung bei der E.________ und jeder anderen Hilfsarbeitertätigkeit nur
noch ein Arbeitspensum von ca. vier Stunden täglich zumutbar sei. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle der Versicherten
eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 50% zu (Verfügung
vom 23. Oktober 2002).

B.
Im hiegegen angehobenen Beschwerdeverfahren reichte B.________ ein von ihrer
Rechtsvertreterin in Auftrag gegebenes Gutachten des Dr. med. C.________ vom
13. April 2004 ein. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die
Beschwerde mit Entscheid vom 7. Mai 2004 ab.

C.
B. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen: "1.
Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn sei aufzuheben; 2.
Der Beschwerdeführerin seien die gesetzlichen Leistungen nach IVG
zuzusprechen; 3. Das Verfahren sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit
diese den rechtsrelevanten Sachverhalt mit einem Obergutachten ergänze, ...".

Die IV-Stelle schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Mit einer weiteren Eingabe vom 4. November 2004 reicht die Beschwerdeführerin
Berichte der Frau Dr. med. A.________ vom 18. August 2004 und des Dr. med.
C.________ vom 1. November 2004 ein.
 

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Eingabe vom 4. November 2004 ist nach Ablauf der Beschwerdefrist (Art.
106 Abs. 1 OG) eingereicht worden, weshalb sie nur zu berücksichtigen wäre,
wenn sie neue erhebliche Tatsachen und Beweismittel enthielte, welche eine
Revision im Sinne von Art. 137 lit. b OG zu rechtfertigen vermöchten (BGE 127
V 353). Das trifft nicht zu, bestätigen doch Dres. med. A.________ und
C.________ darin lediglich ihre bereits in den früheren Stellungnahmen (vom
7. Dezember 2001 und 13. April 2004) geäusserten Auffassungen zu
Gesundheitszustand und Arbeitsunfähigkeit.

2.
2.1 Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist nicht
anwendbar, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat (vgl. auch BGE 129 V 4
Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Fassung), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Ab. 1 und 1bis in den bis
31. Dezember 2003 [In-Kraft-Treten der 4. IVG-Revision am 1. Januar 2004, AS
2003 3887] geltenden Fassungen) und die Bemessung des Invaliditätsgrades bei
Erwerbstätigen (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung) nach der Methode des Einkommensvergleichs (BGE 128 V 30
Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und b) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird
verwiesen.

3.
Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde richten sich  gegen die
vorinstanzliche Beurteilung der gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit
als einem wesentlichen Faktor zur Bemessung des Invalideneinkommens. Das
kantonale Gericht stützte sich dabei auf die Einschätzung des Dr. med.
R.________ gemäss Gutachten vom 18. Mai 2002, wonach die Explorandin unter
Berücksichtigung der psychischen und somatischen Faktoren weiterhin ca.
während vier Stunden täglich sowohl in der zuletzt ausgeübten wie in jeder
andern leichten Hilfsarbeitertätigkeit arbeitsfähig sei. Demgegenüber macht
die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf das Privatgutachten des Dr. med.
C.________ vom 13. April 2003 geltend, durch eine bloss einmalige klinische
Untersuchung, welche nicht in ihrer Muttersprache stattgefunden habe, sei es
Dr. med. R.________ nicht möglich gewesen, den pathogenetischen Hintergrund
und das Ausmass des psychischen Leidens zuverlässig in Erfahrung zu bringen.
Es könne daher nicht alleine auf die psychiatrische Administrativexpertise
abgestellt werden.

4.
4.1 Das Gutachten des Dr. med. R.________ vom 18. Mai 2002 enthält bezüglich
des Gesundheitszustandes (Erw. 4.1.1) und Stellungnahme zur
Arbeitsunfähigkeit (Erw. 4.1.2) Aussagen, welche seine Beweiskraft erheblich
schmälern:
4.1.1So fällt zunächst auf, dass der Experte im Abschnitt "Beurteilung" im
Wesentlichen die davor erhobene Anamnese wiederholt, hingegen keinen
nachvollziehbaren Zusammenhang zu seinen Schlussfolgerungen herstellt.
Inwiefern das klinische Beschwerdebild den diagnostischen Kriterien einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach ICD-10 F45.4 sowie Angst und
depressiven Reaktion gemischt nach ICD-10 F43.22 entspricht, wird nicht
dargelegt. Ungeklärt bleibt, worin im Falle der Beschwerdeführerin das für
die Diagnose gemäss ICD-10 F45.4 (Weltgesundheitsorganisation [WHO],
Internationale Klassifikation psychischer Sörungen, ICD-10 Kapitel V [F],
Klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl., Bern/Göttingen/Toronto/ Seattle
2000, S. 191) erforderliche Kriterium eines andauernden, schweren und
quälenden Schmerzes besteht. Gleiches gilt für die depressive Seite des
Beschwerdebildes, indem der Experte nicht erörtert, warum die festgestellten
Symptome und Persönlichkeitsmerkmale (erhöhtes Schlafbedürfnis,
Freudlosigkeit, Interessenverlust, gedankliche Verlangsamung, Angst,
"klagsam-jammeriges" Auftreten, psychisch leicht beeindruckbare und einfach
strukturierte Persönlichkeit) zur Annahme einer Depression - ohne
Durchführung testpsychologischer Untersuchungen - nicht ausreichen sollen.
Nicht nachvollziehbar ist, dass der Gutachter in Anbetracht dieser doch
eindeutig limitierenden Symptomatik eine Antriebsverminderung ausschliesst.
Auch die Aussage, dass die Explorandin bei einer Körpergrösse von 156 cm und
einem Gewicht von 80 kg als "leicht" adipös bezeichnet wird, erscheint
unzutreffend (BMI 33).

4.1.2 Was die Stellungnahme zur Arbeitsunfähigkeit anbelangt, hält Dr. med.
R.________ im Abschnitt "Beurteilung" fest, der Auffassung der behandelnden
Therapeutin, welche eine Arbeitsunfähigkeit von 80% (recte: 70%) angegeben
habe, könne nicht beigepflichtet werden; aus rein psychiatrischer Sicht sei
der Beschwerdeführerin ein "stundenweiser Einsatz in ihrer zuletzt ausgeübten
leichten Tätigkeit zumutbar". Im folgenden Abschnitt ("Grad der
Arbeitsfähigkeit") hält der Experte der Beschwerdeführerin dann eine
Arbeitsfähigkeit im Umfang von "weiterhin ca. 4 Stunden" täglich ausgewiesen,
was eindeutig über ein stundenweises Leistungsvermögen hinausgeht.
Problematisch ist es ferner, wenn Dr. med. R.________ die zuletzt ausgeübte
Erwerbstätigkeit als "leicht" bezeichnet, obwohl sich aus dem Bericht der
Sozialarbeiterin der Firma E.________ vom 9. November 2002 an die Vorinstanz
ergibt, dass es sich um anspruchsvolle Aufgaben gehandelt hat (Bearbeiten von
Werkteilchen mit einer erforderlichen Präzision von +/- 1
Tausendstelmillimeter unter dem Mikroskop bei Reinraumbedingungen im
Zwei-Schichten-Betrieb). Aus diesen Gründen bietet die Stellungnahme des
Administrativexperten keine genügende Grundlage zur Ermittlung des
Invalideneinkommens.

4.2 Auf der anderen Seite kann auch nicht abschliessend auf das
Privatgutachten des Dr. med. C.________ vom 13. April 2004 abgestellt werden,
der sich ausserstande erklärte, retrospektiv zur Arbeitsunfähigkeit in dem
für die gerichtliche Beurteilung massgebenden Zeitraum bis Verfügungserlass
Stellung zu nehmen. Bei dieser medizinischen Aktenlage hat die IV-Stelle zum
psychisch relevanten Sachverhalt ergänzende Abklärungen vorzunehmen.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat die durch die If AG qualifiziert vertretene (Urteil C. vom 4. Mai 2000, P
64/99) Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159
Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 7. Mai 2004
sowie die Verfügung vom 23. Oktober 2002, soweit sie den Anspruch auf eine
ganze Invalidenrente ablehnt, aufgehoben und es wird die Sache an die
IV-Stelle des Kantons Solothurn  zurückgewiesen, damit sie, nach
Aktenergänzungen im Sinne der Erwägungen, darüber neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat der Beschwerdeführerin für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine Neuverlegung
der Kosten im vorinstanzlichen Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 23. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: