Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 328/2004
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I 328/04

Urteil vom 7. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Fessler

R.________, 1975, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 26. März 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1975 geborene R.________ ersuchte im Mai 2000 die Invalidenversicherung
um Leistungen (Umschulung, Arbeitsvermittlung). Nach Abklärung der
gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse erliess die IV-Stelle des
Kantons Graubünden am 27. Februar 2003 eine Verfügung, mit welcher sie den
Anspruch auf eine Invalidenrente verneinte. Daran hielt die Verwaltung mit
Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2003 fest.

B.
R. ________ liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden  Beschwerde
einreichen und beantragen, der Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2003 sei
aufzuheben und es sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen,
eventualiter sei im Sinne eines Obergutachtens ein ausführlicher
psychiatrischer Bericht einzuholen. Im Weitern ersuchte er um unentgeltliche
Verbeiständung.
Die IV-Stelle schloss in ihrer Vernehmlassung auf Abweisung des
Rechtsmittels. Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels hielten die Parteien
an ihren Standpunkten fest.
Mit Entscheid vom 26. März 2004 wies das kantonale Verwaltungsgericht die
Beschwerde und das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ab, soweit es
darauf eintrat.

C.
R. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem
Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihm eine
Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache «zur weiteren
Abklärung und Einholung eines Obergutachtens zurückzuweisen».
Die IV-Stelle äussert sich nicht materiell und stellt keinen bestimmten
Antrag zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und die dazugehörige
Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV) in Kraft getreten. Mit ihnen sind
u.a. auch im Bereich der Invalidenversicherung verschiedene
materiellrechtliche Bestimmungen geändert worden. In dem zur Publikation in
BGE 130 V bestimmten Urteil M. vom 5. Juli 2004 (I 690/03) hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass bei Erlass des
Einspracheentscheides nach dem 1. Januar 2003 der Anspruch auf eine
Invalidenrente für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen
und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen resp. durch das ATSG geänderten Normen
zu prüfen ist (Erw. 1.2.2).
1.2  Vorliegend meldete sich der Versicherte im Mai 2000 zum Bezug von
IV-Leistungen an. Der Anfechtungsgegenstand des erstinstanzlichen
Beschwerdeverfahrens bildende Einspracheentscheid wurde am 11. Dezember 2003
erlassen. Das kantonale Gericht hat den streitigen Rentenanspruch nach
Massgabe der seit 1. Januar 2003 in Kraft stehenden oder auf diesen Zeitpunkt
hin geänderten Rechtsvorschriften geprüft. Es hat somit nicht eine zeitlich
getrennte Beurteilung vorgenommen. Dies ist insofern nicht von Bedeutung, als
nach zutreffender Auffassung der Vorinstanz die Begriffe der
Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Invalidität sowie der
Einkommensvergleichsmethode nach Art. 6, 7, 8 Abs. 1 und 16 ATSG im Sinne der
bisherigen Rechtsprechung auszulegen und anzuwenden sind (in BGE 130 V noch
nicht publiziertes Urteil A. vom 30. April 2004 [I 626/03] Erw. 2 bis 3.6).

2.
Das kantonale Gericht hat in Bestätigung des Einspracheentscheides vom 11.
Dezember 2003 den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der
Invalidenversicherung verneint. Die Vorinstanz hat einen Einkommensvergleich
durchgeführt, welcher einen nicht anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von
höchstens 21,42 % ergab. Zur Arbeitsfähigkeit als einem wesentlichen Faktor
für die Bestimmung des Invalideneinkommens im Besonderen hat die Vorinstanz
erwogen, gemäss Expertise des Begutachtungsinstituts X.________ vom 6.
Februar 2003 käme die bisherige Tätigkeit auf dem Bau nicht mehr in Betracht.
Hingegen seien leichte bis intermittierend mittelschwere Tätigkeiten zu 100 %
zumutbar. Aus psychiatrischer Sicht sei die Arbeitsfähigkeit nicht
eingeschränkt. Diese Einschätzung sei schlüssig und darauf könne abgestellt
werden.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird sinngemäss eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes durch IV-Stelle und Vorinstanz gerügt. Konkrete
Indizien sprächen gegen die Schlüssigkeit des Gutachtens des
Begutachtungsinstituts X.________ vom 6. Februar 2003. Der Beschwerdeführer
sei während vier Monaten (vom 20. Februar bis 21. Juni 2002) in der
Psychiatrischen Klinik Y._________ stationär behandelt worden. Gemäss Zeugnis
vom 21. Juni 2002 bestehe seit Eintritt in die Klink bis auf weiteres eine
100%ige Arbeitsunfähigkeit. Die Feststellung im Gutachten des
Begutachtungsinstituts X.________, ein psychisches Leiden von Krankheitswert
sei nicht gegeben, sei somit nicht nachvollziehbar. Die dauernde
psychiatrische Behandlung im Heimatland Mazedonien belege sodann ebenfalls
klar und deutlich ein psychisches Leiden.

3.
3.1
3.1.1Im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz.
Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht von sich aus
und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und vollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen (BGE 125 V 195
Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a mit Hinweisen). Sie erheben die hiefür notwendigen
Beweise; in der Beweiswürdigung sind sie frei (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V
160 Erw. 1c). Diese Grundsätze gelten insbesondere im erstinstanzlichen
Beschwerdeverfahren in Streitigkeiten betreffend Renten der
Invalidenversicherung (Art. 61 lit. c ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und
Art. 1 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung sowie alt Art.
85 Abs. 2 lit. c AHVG in Verbindung mit alt Art. 69 IVG). Der Allgemeine Teil
des Sozialversicherungsrechts hat hier keine Änderung gebracht. Die zu alt
Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG ergangene Rechtsprechung gilt auch unter der
Herrschaft von Art. 61 lit. c ATSG (Urteil M. vom 16. Oktober 2003 [H 110/03]
Erw. 2.2).
3.1.2  Korrelat von Untersuchungsmaxime und freier, aber umfassender und
pflichtgemässer Beweiswürdigung ist die aus dem verfassungsrechtlichen
Gehörsanspruch abgeleitete Pflicht der Sozialversicherungsträger und des
Sozialversicherungsgerichts, in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreifende
Verfügungen und Entscheide zu begründen (so ausdrücklich Art. 61 lit. h ATSG
und alt Art. 85 Abs. 2 lit. g AHVG sowie Art. 61 Abs. 2 VwVG). Ob die
rechtsanwendende Behörde ihrer Prüfungspflicht nachgekommen ist, ergibt sich
in erster Linie aus der Begründung (BGE 117 Ib 492 Erw. 6b/bb). Dies bedeutet
zwar nicht, dass sich Sozialversicherungsträger und
Sozialversicherungsgericht ausdrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung
und jedem rechtlichen Einwand auseinander setzen müssen. Vielmehr können sie
sich auf die für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte beschränken
(BGE 126 I 102 Erw. 2b, 126 V 80 Erw. 5b/dd, 124 V 181 Erw. 1a, 99 V 188
unten; Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 321). Bei
einander widersprechenden fachärztlichen Berichten indessen ist insbesondere
das Sozialversicherungsgericht verpflichtet, die Gründe anzugeben, weshalb es
auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 125 V
352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c mit Hinweisen sowie AHI 2001 S. 113 Erw. 3a).

3.2
3.2.1Vorliegend wurde der Beschwerdeführer vom 20. Februar bis 21. Juni 2002
in der Psychiatrischen Klinik Y.________ stationär behandelt. Es steht ausser
Frage, dass es sich hiebei um einen für die Beurteilung des psychischen
Gesundheitszustandes und einer allfälligen psychisch bedingten Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit wesentliche Tatsache handelt. Unterlagen über die
viermonatige stationäre psychiatrische Behandlung (Verlaufsdokumentation,
Austrittsbericht) wurden indessen nicht eingeholt, weder von der IV-Stelle
noch vom kantonalen Gericht. In den Akten befindet sich lediglich ein am 21.
Juni 2002 ausgestelltes Arbeitsunfähigkeitszeugnis der Klinik. Diese
Unterlassung stellt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes dar. Daran
ändert nichts, dass im Gutachten des Begutachtungsinstituts X.________ vom 6.
Februar 2003 der Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik Y.________ vom
3. Juli 2002 erwähnt und Teile daraus wiedergegeben werden.

3.2.2  Eine Heilung des Mangels fällt schon deshalb ausser Betracht, weil die
Vorinstanz den Beweiswert des Gutachtens des Begutachtungsinstituts
X.________ vom 6. Februar 2003 in psychiatrischer Hinsicht einzig am
Arbeitsunfähigkeitszeugnis der Klinik Y.________ vom 21. Juni 2002 misst. Mit
dem Austrittsbericht vom 3. Juli 2002, soweit daraus in der Expertise des
Begutachtungsinstituts X.________ zitiert wird, setzt sie sich überhaupt
nicht auseinander. Dieses Dokument wird im angefochtenen Entscheid nicht
einmal erwähnt. Hiezu besteht indessen Anlass, weichen doch die beiden
medizinischen Berichte in Bezug auf Diagnose sowie Arbeitsunfähigkeit in
psychiatrischer Hinsicht diametral voneinander ab.

3.3  Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es
das
Versäumte nachhole. Weiter wird die Vorinstanz zu prüfen haben, ob allenfalls
ein Obergutachten einzuholen ist. Dabei ist mit Blick auf die Diagnose einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung im Austrittsbericht der Klinik
Y.________ vom 2. Juli 2002 auf die jüngste in diesem Zusammenhang ergangene
Rechtsprechung hinzuweisen (in BGE 130 V noch nicht publizierte Urteile B.
vom 18. Mai 2004 [I 457/02] und N. vom 12. März 2004 [I 683/03] sowie Urteile
P. vom 6. Mai 2004 [I 655/03] und P. vom 21. April 2004 [I 870/02]).

4.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2003 nicht als aussichtslos im Sinne von
Art. 61 lit. f ATSG bezeichnet werden kann. Die mit dieser Begründung
versehene Ablehnung des Gesuchs um unentgeltliche Verbeiständung für das
kantonale Verfahren verletzt somit Bundesrecht. Laut SVR 2004 AHV Nr. 5 S. 17
ist die Rechtsprechung zur unentgeltlichen Verbeiständung und zur Bemessung
der Entschädigung nach alt Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG auch unter der
Herrschaft des ATSG anwendbar. Auch insofern ist der angefochtene Entscheid
aufzuheben.

5.
Dem Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine
u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung
(Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die
Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht und Art. 160 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid vom 26. März 2004 aufgehoben und die Sache an das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zurückgewiesen wird, damit es im
Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden, der Ausgleichskasse für Gewerbe, Handel und Industrie in
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 7. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: