Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 323/2004
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I 323/04

Urteil vom 22. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Schmutz

G.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 13. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 10. Februar 2003 und Einspracheentscheid vom 25. Juli 2003
lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau den Anspruch des 1958 geborenen
G.________ auf eine Invalidenrente ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 13. Mai 2004 ab.

C.
G. ________ lässt, neu vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ilg,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem sinngemäss gestellten Antrag,
die Sache zur Abklärung des (insbesondere medizinischen) Sachverhaltes, zur
Einholung eines Obergutachtens und zur Zusprechung einer angemessenen Rente
zurückzuweisen; eventualiter seien berufliche Massnahmen und
Arbeitsvermittlung und entsprechend bis zur erfolgreichen Eingliederung eine
Übergangsrente zuzusprechen. Zudem ersucht er um die Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

D.
Im Instruktionsverfahren hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die dem
Beschwerdeführer durch die Akteneinsicht des früheren Rechtsvertreters
bereits bekannten Akten der Unfallversicherung (Stand 30. Oktober 2003)
beigezogen.
Mit Eingabe vom 15. Juni 2004 hat der Rechtsvertreter den Antrag auf
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung "infolge
veränderter Sachlage" zurückgezogen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne
von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Im
verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw.
1b, je mit Hinweisen).

1.2  Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts kann
das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus prozessökonomischen Gründen auf
eine ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes, d.h. ausserhalb des durch die
Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses liegende spruchreife Frage
ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand derart eng
zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann,
und wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens in Form einer
Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen).

2.
Die für die Beurteilung eines Leistungsanspruches gegenüber der
Invalidenversicherung massgebenden Grundlagen nach dem auf den 1. Januar 2003
in Kraft getretenen Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 einschliesslich der
damit verbundenen Änderungen des IVG - soweit für den vorliegenden Fall von
Bedeutung - sind im kantonalen Entscheid korrekt aufgezeigt worden. Verfügung
und Einspracheentscheid sind nach dem 1. Januar 2003 ergangen. Da G.________
das Rentengesuch am 19. November 2001 einreichte und weil nach Art. 48 Abs. 2
IVG in der damals und der heute geltenden Fassung die Leistungen
grundsätzlich lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate
ausgerichtet werden, hätte so der Leistungsbeginn bereits auf den 1. November
2000 fallen können, sodass sich der rechtserhebliche Sachverhalt überwiegend
vor In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht hat. Nach dem zur Publikation in
der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil L. vom 4. Juni 2004 (H 6/04) kann
in intertemporalrechtlicher Hinsicht aus Art. 82 Abs. 1 ATSG nicht etwa der
Umkehrschluss gezogen werden, dass für die Anwendbarkeit materiellrechtlicher
Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im Zeitpunkt seines
In-Kraft-Tretens noch nicht festgesetzter Leistungen einzig der
Verfügungszeitpunkt ausschlaggebend sei - oder wie von der Vorinstanz erwogen
- einzig der Zeitpunkt des Einspracheentscheids. Vielmehr sind - von hier
nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - die übergangsrechtlichen
Grundsätze massgebend, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen
Grundlagen die Ordnung anwendbar erklären, welche zur Zeit galt, als sich der
zu Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat. Im vorliegenden Fall
ist daher bei der Bestimmung des streitigen Leistungsanspruchs (zumindest für
den Zeitraum bis 31. Dezember 2002) noch auf die damals geltenden
Bestimmungen des IVG abzustellen. Für den Verfahrensausgang ist dies indessen
insofern von untergeordneter Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen
Umschreibungen hinsichtlich der invalidenversicherungsrechtlichen
Invaliditätsbemessung keine substanziellen Änderungen gegenüber der bis zum
31. Dezember 2002 gültig gewesenen Normenlage brachten. Nach dem noch nicht
in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Urteil A. vom 30. April 2004, I
626/03, handelt es sich bei den in Art. 3-13 ATSG enthaltenen
Legaldefinitionen in aller Regel um eine formellgesetzliche Fassung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den entsprechenden Begriffen vor
In-Kraft-Treten des ATSG und ergibt sich inhaltlich damit, insbesondere in
Bezug auf die Bestimmungen zur Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Art. 7 und
8 IVG in der bis 31. Dezember 2003 in Kraft gestandenen Fassung) keine
Änderung. Die dazu entwickelte Rechtsprechung kann mithin übernommen und
weitergeführt werden.

3.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG; Art.
4 Abs. 1 aIVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG
in der hier anwendbaren, bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung) sowie die
Rechtsprechung zu den geistigen Gesundheitsschäden (BGE 127 V 298 Erw. 4c in
fine; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen), zur Aufgabe des Arztes im
Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 105
V 158 Erw. 1) und zum Beweiswert ärztlicher Berichte (BGE 125 V 352 f. Erw. 3
mit Hinweisen) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zutreffend ist auch,
dass vorliegend die mit der 4. IV-Revision auf den 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Bestimmungen nicht anwendbar sind.

4.
Zur Frage der Gewährung beruflicher Eingliederungsmassnahmen ist noch keine
Verfügung ergangen, sodass sie entgegen dem gestellten Eventualantrag nicht
zu beurteilen ist (vgl. Erw. 1 hievor). Die Voraussetzungen für eine
Ausdehnung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens auf eine ausserhalb des
Anfechtungsgegenstandes liegende Frage (vgl. Erw. 1.2 hievor) sind nicht
erfüllt.
Unter den konkreten Gegebenheiten hat die Verwaltung zu Recht nur über den
Rentenanspruch verfügt. Soweit mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
berufliche Eingliederungsmassnahmen verlangt werden, ist darauf nicht
einzutreten.

5.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente.

5.1  Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde beschränkt sich im Wesentlichen auf
das
Argument, die Vorinstanz mache es sich zu einfach, wenn sie den
Beschwerdeführer in Anbetracht der gesamten Aktenlage und der diversen
ärztlichen Berichte, in welchen ihm eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt
werde, ohne weitere Abklärungen als Simulanten darstelle.

5.2  Ein solcher Schluss ist aktenwidrig. Es trifft zwar zu, dass der
Hausarzt
Dr. med. P.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, im spärlich
ausgefüllten IV-Arztbericht vom 15. Mai 2002 eine in der Psychiatrischen
Poliklinik des Spitals Z.________ behandelte chronische Depression
diagnostizierte und - ohne es zu begründen - eine Arbeitsunfähigkeit von 100
% ("ab 28. Dezember 2000 bis auf weiteres") angab. Die IV-Stelle holte aber
beim Spital Z.________ direkt einen detaillierten Bericht (vom 17. Juli 2002)
ein. Die Ärzte gaben darin an, der Patient sei von ihnen in seiner bisherigen
Tätigkeit (als CNC-Operateur) nie krank geschrieben worden. Sie
diagnostizierten eine leichte depressive Episode mit Tendenz zur
Somatisierung im Rahmen eines chronifizierten lumbalen Schmerzsyndroms. Aus
psychiatrischer Sicht sei gegenwärtig keine wesentliche Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit zu erwarten. Der Patient sei jedoch absolut nicht zu einem
im Verlauf der Behandlung bereits wiederholt empfohlenen Arbeitsversuch
motiviert, auch wenn ihm aus psychiatrischer Sicht die bisherige und auch
andere Tätigkeiten zumutbar wären. Am 10. September 2003 gaben die Ärzte des
Spitals Z.________ gegenüber dem Krankenversicherer an, der Beschwerdeführer
leide an einer somatoformen Schmerzstörung.

5.3  Nach der Rechtsprechung (vgl. noch nicht in der Amtlichen Sammlung
veröffentlichtes Urteil N. vom 12. März 2004, I 683/03, Erw. 2.2.3-2.2.5)
vermag eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung allein in
der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken. Ein
Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in Ausnahmefällen in Betracht, in
denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach ärztlicher
Einschätzung eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person
die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei
objektiver Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der
Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind -
sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar
untragbar ist. Wird eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert, ist die
fachärztlich schlüssig ausgewiesene psychiatrische Komorbidität von
erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer das zentrale
Qualifizierungsmerkmal dafür, ob (ausnahmsweise) eine invalidisierende
Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Die Annahme einer solchen Komorbidität bedingt,
dass es sich um ein selbstständiges, vom psychogenen Schmerzsyndrom
losgelöstes Leiden handelt (vgl. hierzu die noch nicht in der Amtlichen
Sammlung veröffentlichten Urteile N. vom 12. März 2004, I 683/03, Erw.

2.2.3 -2.2.5 und B. vom 18. Mai 2004, I 457/02, Erw. 7.2-7.4, und ferner
Urteil B. vom 9. August 2004, I 767/03, Erw. 3.3.2).
5.4  Die den Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum behandelnden Ärzte
des Spitals Z.________ erachteten die bisherige und auch andere Tätigkeiten
aus psychiatrischer Sicht weiterhin als zumutbar und diagnostizierten keine
psychiatrische Komorbidität von erheblicher Schwere. Ein Ausnahmefall von der
bereits erwähnten Regel liegt unter Berücksichtigung der von der
Rechtsprechung (vgl. Erw. 5.3 hiervor) entwickelten Kriterien somit nicht
vor.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 22. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: