Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 319/2004
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I 319/04

Urteil vom 14. Juni 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Grunder

F.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 12. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene F.________ bezieht wegen der Folgen zweier Unfälle vom 5.
März 1990 und 27. Januar 1996 (Serienfrakturen von der dritten bis zehnten
Rippe rechts, Hämothorax, Beckenfraktur, erneute Fraktur der neunten Rippe)
seit 1. August 1997 eine Invalidenrente der Unfallversicherung bei einem
Invaliditätsgrad von 26,66 % (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts vom 24. Oktober 2002, U 207/02). Mit Gesuch vom 10.
Juli 1997 meldete er sich zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung
an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich zog die Akten der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei, holte verschiedene Arztberichte ein
und veranlasste die Expertise der Medizinischen Begutachtungsstelle
Medizinisches Zentrum Y._________ (MZ) vom 14. November 1998. Danach leidet
der Versicherte vor allem an einer Thoraxinstabilität sowie -schmerzen,
insbesondere beim Tiefatmen, beim Heben von Gewichten und beim Bücken. Die
psychiatrische Exploration ergab keine Anhaltspunkte einer psychischen
Störung mit Krankheitswert. Die Gutachter kamen zum Schluss, dass leichtere
Arbeiten zumutbar seien, die in wechselnder Körperposition mit der
Möglichkeit, längere Pausen einzuschalten, und unter Vermeidung von Heben und
Tragen von Lasten über 5 kg verrichtet werden könnten. In einer solchen der
Behinderung angepassten Beschäftigung bestehe eine Arbeitsfähigkeit von zwei
Dritteln. In der Folge wartete die Verwaltung den Ausgang des hängigen
Beschwerdeverfahrens betreffend Invalidenrente der Unfallversicherung ab
(Aktennotiz vom 5. Mai 2000), welches mit dem erwähnten Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts am 24. Oktober 2002 rechtskräftig
abgeschlossen war. Mit Verfügung vom 7. Mai 2003 stellte die IV-Stelle fest,
es bestünden keine unfallfremden gesundheitlichen Leiden, weshalb sie an die
unfallversicherungsrechtliche Beurteilung des Invaliditätsgrades (26,66 %)
gebunden sei. Weil demnach der Invaliditätsgrad unter 40 % liege, bestehe
kein Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung. Die Einsprache, mit
welcher auch ein Anspruch auf Arbeitsvermittlung geltend gemacht wurde,
lehnte die IV-Stelle ab (Einspracheentscheid vom 22. August 2003).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, welcher ein Bericht der Höhenklinik
X.________ vom 31. Oktober 2003, wo sich der Versicherte vom 7. Oktober bis
3. November 2003 aufhielt, nachgereicht wurde, wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 12. Mai
2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt F.________ neu ein ärztliches Zeugnis
der Höhenklink X.________ vom 30. Oktober 2003 auflegen und beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm eine ganze Rente
zuzusprechen; eventualiter sei eine unabhängige psychiatrische
Neubegutachtung einzuholen; subeventualiter seien berufliche Massnahmen im
Sinne von Arbeitsvermittlung zu gewähren. Gleichzeitig wird um Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung ersucht.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Am 14. Juni 2005 hat eine parteiöffentliche Verhandlung vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht stattgefunden.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Streitig und zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer bis zum Erlass des
Einspracheentscheids vom 22. August 2003, der rechtsprechungsgemäss die
zeitliche Grenze der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 130 V 446
Erw. 1.2 mit Hinweisen), Rentenleistungen zustehen. Am 1. Januar 2003 sind
das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts
(ATSG) vom 6. Oktober 2000 und die zugehörige Verordnung (ATSV) vom 11.
September 2002 in Kraft getreten. Weil der Einspracheentscheid zwar nach dem
31. Dezember 2002 erlassen worden ist, darin aber auch Sachverhalte beurteilt
werden, die vor dem 1. Januar 2003 eingetreten sind, ist - entsprechend dem
von der Praxis entwickelten intertemporalrechtlichen Grundsatz, wonach in
zeitlicher Hinsicht diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei
Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts in Geltung standen
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1 und 356 Erw. 1, je mit Hinweisen) - der
Beurteilung der streitigen Verhältnisse bis zum 31. Dezember 2002 altes und
ab 1. Januar 2003 neues Recht (ATSG) zugrunde zu legen (BGE 130 V 445 ff.).
Diesen übergangsrechtlichen Überlegungen kommt insofern nur beschränkte
Tragweite zu, als mit dem In-Kraft-Treten des ATSG an den von der
Rechtsprechung entwickelten Begriffen der Arbeitsunfähigkeit,
Erwerbsunfähigkeit, Invalidität und Bemessung der Invalidität bei
erwerbstätigen Versicherten nichts Grundlegendes geändert hat (BGE 130 V 345
ff. Erw. 3.1 bis 3.4).
1.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über den Begriff der Invalidität
(Art. 8 ATSG und Art. 4 Abs. 1 IVG) und die zu alt Art. 4 Abs. 1 IVG
entwickelte Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.3 Die Vorinstanz hat weiter richtig erkannt, dass der Invaliditätsbegriff
in der Invalidenversicherung mit demjenigen in der obligatorischen
Unfallversicherung (und Militärversicherung) übereinstimmt (BGE 126 V 291
Erw. 2a mit Hinweisen). Dieser Grundsatz gilt nunmehr seit In-Kraft-Treten
des ATSG positivrechtlich für alle Sozialversicherungszweige. Das ATSG
enthält jedoch keine Regelung zur Frage der Bindungswirkung rechtskräftiger
Invaliditätsschätzungen anderer Versicherungsträger. Die hiezu entwickelte
Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (BGE 126 V 288 mit
Hinweisen) gilt daher weiterhin.

2.
Sowohl das Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung (Art. 69 Abs. 2 IVV
in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; Art. 43 Abs. 1 ATSG)
wie auch der kantonale Prozess (Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG in Verbindung mit
Art. 69 IVG je in den bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassungen; Art.
61 lit. c ATSG) sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach haben die
Verwaltung und - im Beschwerdefall - das Gericht von Amtes wegen für die
richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu
sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein
Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122
V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, laut Bericht der
Höhenklinik X.________ vom 31. Oktober 2003 leide er an einer
behandlungsbedürftigen Depression, welche weder genügend abgeklärt noch
berücksichtigt worden sei. Das kantonale Gericht hat erwogen, es erübrige
sich, zum Krankheitsverlauf seit der Expertise der MZ vom 14. November 1998
zusätzliche Abklärungen zu veranlassen, weil der Beschwerdeführer nicht
geltend mache, der Gesundheitszustand habe sich verschlechtert.

3.2 Mit der Vorinstanz steht gestützt auf das Gutachten des MZ vom 14.
November 1998 fest, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der
psychiatrischen Exploration Ende 1998 an keiner psychischen Krankheit
gelitten hat und die die Arbeitsfähigkeit einschränkenden somatischen Leiden
unfallbedingt sind. Die Expertise erfüllt die nach der Rechtsprechung
geltenden Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten
(BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c; AHI 2001 S. 112 ff.), was auch
nicht in Frage gestellt wird. Der unfallversicherungsrechtlich festgelegte
Invaliditätsgrad von 26,66 % ist gerichtlich rechtskräftig überprüft worden
(Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 24. Oktober 2002).
Nachdem der Versicherte einzig an unfallbedingten körperlichen Beschwerden
litt, war die Invaliditätsschätzung der SUVA für die Invalidenversicherung
grundsätzlich verbindlich.

3.3 Seit Erstellung des Gutachtens der Expertise der MZ vom 14. November 1998
hat die IV-Stelle keine weiteren medizinischen Abklärungen mehr getätigt.
Nach der eingereichten Stellungnahme zum Vorbescheid vom 23. Juli 1999
wartete sie infolge des hängigen Rechtsmittelverfahrens gegen den
Einspracheentscheid der SUVA vom 9. Dezember 1999 mit dem Erlass einer
Verfügung bis zur rechtskräftigen Erledigung des
unfallversicherungsrechtlichen Streits zu (Urteil des Eidgenössische
Versicherungsgericht vom 24. Oktober 2002). Gegen die danach erfolgte
Verfügung der IV-Stelle vom 7. Mai 2003 machte der Beschwerdeführer, wie
schon in der Stellungnahme zum Vorbescheid, mit Einsprache geltend, er leide
an einem schwerwiegenden psychischen Gesundheitsschaden, ohne anzugeben, ob
und bei welchem Arzt er sich in Behandlung befindet. Im kantonalen Verfahren
legte er den Bericht der Höhenklinik X.________ vom 31. Oktober 2003 auf,
worin u.a. eine chronisch depressive Störung, derzeitig mittelgradige
Episode, und Migräne diagnostiziert und (gemäss letztinstanzlich aufgelegtem
Zeugnis dieses Spitals) für die Dauer des Rehabilitationsaufenthalts vom 7.
Oktober bis 3. November 2003 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bestätigt
wurde.

3.4 Angesichts dieser Umstände ist nicht zu beanstanden, dass Verwaltung und
Vorinstanz von weiteren Abklärungen hinsichtlich des geltend gemachten
psychischen Gesundheitsschadens absahen. Es liegen auf Grund der Akten keine
Anhaltspunkte vor, dass sich seit Ausfertigung des Gutachtens der MZ vom 14.
November 1998 bis zum Erlass des Einspracheentscheids der IV-Stelle vom 22.
August 2003 ein die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigender psychischer
Gesundheitsschaden entwickelt hätte. Der Beschwerdeführer hat denn auch, wie
die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, in diesem Zeitraum keine
fachärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Der Bericht der Höhenklinik
X.________ enthält keine Angaben, aus welchen Rückschlüsse zum vor dem
Einspracheentscheid bestehenden Gesundheitszustand zu ziehen wären. Nach dem
Gesagten ist der kantonale Entscheid zu bestätigen.

4.
Mit dem vorinstanzlich aufgelegten Bericht der Höhenklinik X.________ ist
indessen glaubhaft gemacht, dass sich der Grad der Invalidität in einer für
den Anspruch auf Invalidenrente erheblichen Weise geändert hat (Art. 87 Abs.
4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV). Die Akten werden daher an die IV-Stelle
überwiesen zur Abklärung der seit Erlass des Einspracheentscheids bestehenden
gesundheitlichen Verhältnisse.

5.
Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Arbeitsvermittlung (Art. 18
Abs. 1 IVG) wird auf die nicht zu beanstandenden Erwägungen im angefochtenen
Entscheid verwiesen, welchen nichts beizufügen ist (Art. 36a Abs. 3 OG).

6.
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung
mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht
als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202
Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf
Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Akten werden an die IV-Stelle des Kantons Zürich überwiesen, damit sie im
Sinne der Erwägungen verfahre.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Roland
Ilg, Zürich, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse Promea und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.
Luzern, 14. Juni 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: