Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 313/2004
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I 313/04

Urteil vom 11. Oktober 2005

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Ursprung
und Frésard; Gerichtsschreiberin Bollinger

B.________, 1962, Beschwerdeführerin, vertreten
durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600
Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 14. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene B.________ bezog seit 1. April 1981 eine ganze
Invalidenrente. Nachdem sie im Jahre 1996 geheiratet hatte, führte die
IV-Stelle des Kantons Aargau von Amtes wegen eine Rentenrevision durch und
verfügte am 19. Juni 2001, ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 64 %, die
Ausrichtung einer halben Rente ab 1. August 2001. Die hiegegen erhobene
Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau am 15. Februar
2002 ab. B.________ liess Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen, welche das
Eidgenössische Versicherungsgericht mit Urteil vom 30. Juli 2002 teilweise
guthiess, den vorinstanzlichen Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle
aufhob und die Sache zur nochmaligen Abklärung und neuen Verfügung an
letztere zurückwies. Die IV-Stelle führte daraufhin eine Abklärung an Ort und
Stelle durch und verfügte am 25. März 2003, wiederum unter Annahme eines
Invaliditätsgrades von 64 %, die Ausrichtung einer halben Rente. Die dagegen
erhobene Einsprache, mit welcher B.________ "eine ganze Rente auf der Basis
eines IV-Grades von mindestens 67 %" beantragen und ein Haushaltgutachten vom
30. Juli 2003 auflegen liess, wies die IV-Stelle am 2. Dezember 2003 ab.

B.
B.________ liess Beschwerde erheben und ausgehend von einem Invaliditätsgrad
von 73 % weiterhin die Ausrichtung einer ganzen Rente beantragen. Mit
Entscheid vom 14. April 2004 hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau die Beschwerde gut und sprach B.________ bei einem Invaliditätsgrad
von 69 % eine ganze Invalidenrente zu.

C.
Hiegegen lässt B.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides vom
2. Dezember 2003 die Ausrichtung einer "ganze(n) IV-Rente entsprechend einem
IV-Grad von über 70 %" beantragen.

Da die Vorinstanz dem Begehren um Ausrichtung einer ganzen Rente entsprochen
hat, fragt das Eidgenössische Versicherungsgericht die Rechtsvertreterin von
B.________ am 27. Mai 2004 an, ob ihre Eingabe als
Verwaltungsgerichtsbeschwerde behandelt werden soll oder ob sie diese
zurückziehe. Die Rechtsvertreterin antwortet am 2. Juni 2004, der
vorinstanzlich ermittelte Invaliditätsgrad von 69 % werde den Einschränkungen
von B.________ nicht gerecht und habe zur Folge, dass sie nach der Umsetzung
der 4. IV-Revision den Anspruch auf eine ganze Rente wieder verliere.
Daraufhin holt das Eidgenössische Versicherungsgericht eine Vernehmlassung
des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) zur praktischen Durchführung der
Revision laufender Renten ein, die am 21. September 2004 ergeht.

Die IV-Stelle verzichtet unter Verweis auf das vorinstanzliche Urteil auf
eine Vernehmlassung. Am 4. Oktober 2004 reicht sie eine Kopie des
Rentenrevisionsbogens vom 30. März 2004 ein und führt aus, aufgrund der
Angaben der B.________, wonach die gesundheitlichen Verhältnisse unverändert
geblieben seien, hätten keine weiteren Abklärungen stattgefunden; die
Verfügung sei entsprechend dem vorinstanzlichen Entscheid vom 14. April 2004
ergangen.

Am 14. Oktober 2004 lässt B.________ eine Stellungnahme zur Vernehmlassung
des BSV auflegen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat dem Leistungsbegehren um Ausrichtung einer ganzen
Rente entsprochen, den Invaliditätsgrad aber nicht wie von der Versicherten
beantragt auf 73 %, sondern auf 69 % festgesetzt. Die Beschwerdeführerin
beantragt, es sei festzustellen, dass der Invaliditätsgrad mehr als 70 %
betrage. Zur Begründung macht sie geltend, die erstmalige
Invaliditätsbemessung diene als Basis späterer Revisionen und könne nur bei
einer erheblichen Veränderung des Gesundheitszustandes oder der tatsächlichen
Verhältnisse angepasst werden. Eine spätere Revision könne somit "in das
heute vorliegende 'Missverhältnis' nicht mehr eingreifen", was einen Nachteil
bedeute.

1.2 Zu prüfen ist, ob ein Anspruch auf Feststellung eines 70 % übersteigenden
Invaliditätsgrades besteht. Dies setzt voraus, dass ein schutzwürdiges
Interesse, d.h. ein unmittelbares und aktuelles Interesse rechtlicher oder
tatsächlicher Natur an der sofortigen Feststellung eines Rechtes nachgewiesen
wird, dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten Interessen
entgegenstehen, und dass dieses schutzwürdige Interesse nicht anderweitig -
durch eine rechtsgestaltende Verfügung - gewahrt werden kann (BGE 126 II 303
Erw. 2c, 125 V 24 Erw. 1b mit Hinweisen). Das schutzwürdige Interesse ist im
Beschwerdeverfahren Eintretensvoraussetzung und daher von Amtes wegen zu
prüfen (RKUV 1990 Nr. U 106 S. 276 Erw. 2a mit Hinweisen).

2.
2.1 Im Rahmen der 4. IV-Revision hat der Gesetzgeber die Rentenabstufung neu
geregelt. Nach dem revidierten Art. 28 Abs. 1 IVG besteht Anspruch auf eine
ganze Rente ab einem Invaliditätsgrad von 70 % (bisher ab 66 2/3 %); ein
IV-Grad zwischen 60 % bis 69 % berechtigt zum Bezug einer Dreiviertelsrente,
ab einem IV-Grad von 50 % wird (wie bisher) eine halbe Rente und ab einem
solchen von 40 % (ebenfalls unverändert gegenüber dem bis 31. Dezember 2003
gültig gewesenen Recht) eine Viertelsrente ausgerichtet.

2.2 Nach lit. f der Schlussbestimmungen der Änderung vom 21. März 2003 (4.
IV-Revision) werden laufende ganze Renten bei einem Invaliditätsgrad von
mindestens 66 2/3 % nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung für jene
Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger weitergeführt, welche am 1. Januar 2004
das 50. Altersjahr zurückgelegt haben. Alle anderen ganzen Renten bei einem
Invaliditätsgrad von unter 70 % werden innerhalb eines Jahres nach
Inkrafttreten der Gesetzänderung einer Revision unterzogen. Ergibt die
Überprüfung eine Änderung des Invaliditätsgrades und besteht gestützt auf die
neue Rentenabstufung Anspruch auf eine höhere oder tiefere Rente oder ist der
Rentenanspruch erloschen, erfolgt eine Rentenerhöhung gemäss Art. 88bis Abs.
1 lit. b IVV mit Wirkung ab 1. Januar 2004 (vgl. auch das Kreisschreiben über
die Invalidität und Hilflosigkeit, 5. Teil, Rz 10.010-10.013). Herabgesetzt
wird eine Rente frühestens vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der
Verfügung folgenden Monats an (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV). Bleibt der
Invaliditätsgrad nach der Überprüfung unverändert, entsteht aber nach der
neuen Rentenabstufung Anspruch auf eine höhere oder tiefere Rente, so ist die
Erhöhung oder Herabsetzung der Rente im Sinne der genannten Bestimmungen
vorzunehmen (IV-Rundschreiben Nr. 183 vom 9. Oktober 2003). Die für das Jahr
2004 vorgesehenen Revisionen von Renten mit einem Invaliditätsgrad von mehr
als 70 % sind auf einen späteren Zeitpunkt festzulegen (Schlussbestimmungen
lit. f e contrario; Kreisschreiben, a.a.O., Rz 10.013).

2.3 Für Versicherte unter 50 Jahren mit einem Invaliditätsgrad zwischen 66 2/3
% und 69 %, die gemäss bisherigem Recht eine ganze Rente erhalten haben,
bewirkte das Inkrafttreten des revidierten Art. 28 Abs. 1 IVG somit, dass die
versicherungsmässigen Voraussetzungen für den Bezug einer Vollrente im
Verlaufe des Jahres 2004 neu zu prüfen waren. Wie das BSV mit Vernehmlassung
vom 21. September 2004 ausführte, war es den IV-Stellen dabei nicht erlaubt,
ohne revisionsweise Überprüfung die Rente den neuen Bestimmungen anzupassen
(ebenso wenig wie die Umwandlung einer Rente durch die Ausgleichskasse ohne
Mitteilung eines Revisionsbeschlusses der IV-Stelle zulässig gewesen wäre).

3.
3.1
3.1.1Ein schützenswertes Interesse an der Feststellung eines höheren
Invaliditätsgrades setzt rechtsprechungsgemäss voraus, dass diese sofortige
Auswirkungen auf die Rente zeitigt oder dass der höhere Invaliditätsgrad
andere Ansprüche beeinflusst, wie etwa den Anspruch auf Ergänzungsleistungen
(Urteil O. vom 11. September 2002, I 185/00) oder - im Bereich der
Unfallversicherung - die als Komplementärrente der Unfallversicherung
ausgerichtete Invalidenrente (BGE 115 V 416), oder aber dass kurz
bevorstehende Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen zu erwarten sind
(beispielsweise wenn nach den bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen
Bestimmungen eine Härtefallrente zugesprochen worden, jedoch zu erwarten war,
dass der Versicherte die Voraussetzungen für den Härtefall in Kürze nicht
mehr erfüllen oder demnächst die Schweiz verlassen würde; BGE 106 V 91). Die
(mögliche) Herabsetzung oder Aufhebung der Rente wegen Anpassung an geänderte
gesetzliche Bestimmungen vermag dagegen kein Feststellungsinteresse zu
begründen (vgl. BGE 106 V 93 und Urteil F. vom 25. März 1994, I 299/93). Dies
steht mit der Rechtsprechung im Einklang, wonach eine antizipierte Schätzung
der Invalidität grundsätzlich nicht zulässig ist (BGE 97 V 58 f. Erw. 1). Das
Gericht hat seit BGE 106 V 92 auch und gerade unter Berücksichtigung der
beweisrechtlichen Nachteile immer wieder festgestellt, es reiche aus, dass
eine versicherte Person die gebotenen Einwendungen im Falle der Aufhebung
oder Herabsetzung der Rente - notfalls auf dem Beschwerdeweg - vorbringen
könne (BGE 106 V 93 Erw. 2; Urteil K. vom 30. April 2001, I 9/01; Urteil F.
vom 8. März 2004, I 424/03). Soweit im Urteil K. vom 25. Juli 2001, I 280/01,
ein schutzwürdiges Interesse mit der Begründung, eine die Rentenhöhe
(möglicherweise) beeinflussende Gesetzesänderung stehe unmittelbar bevor,
bejaht wurde, kann daraus keine Abkehr von den allgemeinen Prinzipien zum
Feststellungsinteresse abgeleitet werden. Die von der Versicherten
angesprochenen Nachteile führen weder zu einer besseren Erkenntnis der ratio
legis, noch liegen gewandelte Rechtsanschauungen oder veränderte äussere
Verhältnisse vor, die eine Änderung der bisherigen Praxis (BGE 124 V 124 Erw.
6a mit Hinweisen) zu rechtfertigen vermöchten.

3.1.2 Nach dem Gesagten begründet allein die Möglichkeit, dass bei gleich
bleibendem Invaliditätsgrad die ganze Rente der Beschwerdeführerin bei der
Anpassung an die geänderten Bestimmungen im Verlaufe des Jahres 2004 gekürzt
werden könnte (was dann auch zutraf), kein aktuelles, unmittelbares Interesse
an der Feststellung eines höheren Invaliditätsgrades bereits im vorliegenden
Verfahren.

3.2
3.2.1Hat sich der Invaliditätsgrad nach Auffassung der Verwaltung nicht
verändert, wird in der Praxis die bisherige Rente durch eine solche ersetzt,
die dem früher festgestellten Invaliditätsgrad entspricht. Für die
Festsetzung eines höheren Invaliditätsgrades müssen die Versicherten somit in
der Regel nachweisen, dass seit dem Verfügungserlass eine erhebliche Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, die den Invaliditätsgrad und
damit den Rentenanspruch beeinflusst.

Versicherten, deren Invaliditätsgrad unter den bis 31. Dezember 2003 gültig
gewesenen Bestimmungen allenfalls zu tief festgesetzt worden war, muss es
hingegen insoweit, als der altrechtlich festgesetzte und zu einer ganzen
Rente berechtigende Invaliditätsgrad neurechtlich nur noch eine
Dreiviertelsrente zu begründen vermöchte, offen stehen, die entsprechende
Rüge in den Revisionsverfahren vorzubringen, welche im Zuge der 4.
IV-Revision nötig geworden sind.

3.2.2 Nachdem die IV-Stelle zwischenzeitlich den Anspruch auf eine Vollrente
ab 1. August 2004 abgewiesen hat, hatte die Beschwerdeführerin somit die
Möglichkeit, die Revisionsverfügung mit derselben Begründung, wie sie im
Verfahren vor dem Eidgenössische Versicherungsgericht vorgebracht wird - d.h.
unter Hinweis auf eine ihrer Ansicht nach zu tiefe Invaliditätsbemessung -,
anzufechten. Gemäss Auskunft der IV-Stelle vom 3. Februar 2005 hat sie gegen
die Verfügung vom 11. Juni 2004 denn auch Einsprache erhoben. Ob sie den
Anspruch auf eine Vollrente nach den revidierten Bestimmungen zum jetzigen
Zeitpunkt oder im neuen Verfahren durchzusetzen versucht, spielt dabei
materiellrechtlich keine Rolle.

3.3 Die Beschwerdeführerin bringt vor, bei einem Invaliditätsgrad von mehr
als 70 % sei nach den Bestimmungen der 4. IV-Revision keine Rentenrevision
durchzuführen, weshalb es für sie von erheblicher Bedeutung sei, dass ihren
Anträgen entsprochen werde. Dem ist entgegenzuhalten, dass Renten, denen ein
IV-Grad von mehr als 70 % zu Grunde liegt, von den ordentlichen
Rentenrevisionen nicht ausgenommen sind, so dass auch insoweit kein aktuelles
Rechtsschutzinteresse besteht.

4.
Schliesslich würde der Versicherten auch übergangsrechtlich aus der
Feststellung eines 70 % übersteigenden Invaliditätsgrades bereits unter den
bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Bestimmungen kein Vorteil erwachsen.
Ein solcher ist einzig in Fällen denkbar, wo die unter altem Recht erfolgte
Invaliditätsbemessung einen Invaliditätsgrad von mehr als 70 % ergeben hatte,
sich anlässlich der Renten-überprüfung die Verhältnisse aber insofern
verändert präsentieren, als der Invaliditätsgrad neu weniger als 70 %
beträgt. Da die Überprüfung in Fällen mit einem IV-Grad von über 70 % erst
nach dem Jahre 2004 und damit verzögert erfolgt, so dass die Herabsetzung
später Wirksamkeit erlangt (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV; Erw. 2.2 hievor),
wird in der Zwischenzeit weiterhin eine ganze Rente ausgerichtet. Angesichts
dieses tatsächlichen Vorteils kann ein schutzwürdiges Interesse daran, dass
bereits unter Geltung des alten Rechts ein 70 % übersteigender
Invaliditätsgrad festgestellt wird, nicht von Vornherein verneint werden. Um
eine solche Konstellation handelt es sich hier aber nicht, da sich aus den
Akten keine Hinweise ergeben, die auf eine Verbesserung des
Gesundheitszustandes oder eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse,
welche zu einem tieferen Invaliditätsgrad führen würden, schliessen lassen.

5.
Nach dem Gesagten ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
einzutreten.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 11. Oktober 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin:
i.V.