Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 311/2004
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I 311/04

Urteil vom 23. März 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön;
Gerichtsschreiber Schmutz

S._________, 1972, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 7. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
A.a S._________ meldete sich im Oktober 1999 zum Bezug von Leistungen der
Invalidenversicherung an. Zur Abklärung des Anspruches holte die IV-Stelle
Bern nebst anderen Arztberichten beim Zentrum für Medizinische Begutachtung
(ZMB) ein MEDAS-Gutachten vom 23. August 2001 ein. Mit Verfügung vom 22. Mai
2002 sprach sie der Versicherten eine halbe Invalidenrente zu. Die dagegen
erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Ausrichtung einer ganzen Rente wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Bern am 26. Januar 2003 ab. Mit Urteil vom
27. August 2003, I 145/03, hob das Eidgenössische Versicherungsgericht in
Gutheissung der von der Versicherten dagegen erhobenen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde den Entscheid des kantonalen Gerichts sowie die
Verfügung der IV-Stelle auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen und
zum Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurück.

A.b Am 29. Oktober 2003 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, sie werde
eine MEDAS-Nachbegutachtung beim ZMB anordnen, was S._________ am 5. November
2003 mit der Begründung ablehnte, es sei dem ZMB schon bisher nicht möglich
gewesen, das Erforderliche abzuklären und die Ergebnisse eines
neuropsychologischen Tests auszuwerten. Zudem sei es nicht von der IV-Stelle
unabhängig. Am 1. Dezember 2003 verfügte die IV-Stelle, das Gesuch um
Ablehnung des ZMB als Begutachtungsstelle werde abgewiesen.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 7. Mai 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beanstandet die Versicherte sinngemäss, das
ZMB sei für die notwendigen Abklärungen nicht geeignet und es fehle ihm die
Kompetenz zur Nachbegutachtung. Darum sei ihr die Untersuchung dort nicht
zumutbar. Der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle seien
aufzuheben. Die Sache sei in Würdigung der mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten Berichte des Spitals X.________
(vom 2. April 2004) und des Spitals Y.________ (vom 18. Mai 2004) an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie das im Oktober 1999 gestellte Gesuch neu
beurteile.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach ständiger Rechtsprechung prüft das Eidgenössische Versicherungsgericht
von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens,
insbesondere auch die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde
oder Klage eingetreten ist. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer
Prozessvoraussetzung fehlte, und hat sie materiell entschieden, ist dies im
Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass
der angefochtene Entscheid aufzuheben ist (BGE 128 V 89 Erw. 2a mit
Hinweisen).

2.
Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 und die dazugehörige
Verordnung vom 11. September 2002 in Kraft getreten. Dieses Gesetz
koordiniert das Sozialversicherungsrecht des Bundes, indem es u.a. ein
einheitliches Sozialversicherungsverfahren festlegt und die Rechtspflege
regelt (Art. 1 Ingress und lit. b ATSG). Seine Bestimmungen sind auf die
bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungen anwendbar, wenn und soweit
die einzelnen Sozialversicherungsgesetze es vorsehen (Art. 2 ATSG). Nach Art.
1 Abs. 1 IVG in der ab 1. Januar bis 31. Dezember 2003 geltenden Fassung sind
die Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts auf die Invalidenversicherung (Art. 1a-70)
anwendbar, soweit das Invalidenversicherungsgesetz nicht ausdrücklich eine
Abweichung vom ATSG vorsieht.

3.
Angefochten ist der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 7.
Mai 2004. Mit diesem ist das kantonale Gericht auf die Eingabe der
Versicherten vom 14. Januar 2004 eingetreten und hat diese als gegen die
Verfügung der IV-Stelle vom 1. Dezember 2003 gerichtete Beschwerde materiell
behandelt. Dabei hat es erwogen, eine Befangenheit der MEDAS-Gutachter könne
nicht damit begründet werden, dass diese mit der Beschwerdeführerin bereits
befasst waren und die begutachtenden Ärzte demnach ihr gegenüber als
voreingenommen zu betrachten seien. Aus dem MEDAS-Gutachten vom 23. August
2001 seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die damalige
Begutachtung nicht objektiv erfolgt sei und die Gutachter auch nur
anscheinend als voreingenommen betrachtet werden müssten. Es sei kein
triftiger Grund erkennbar, der gegen eine erneute Begutachtung der
Beschwerdeführerin durch die MEDAS spreche und zu berechtigten Zweifeln
Anlass gebe, dass eine solche Begutachtung nicht sachlich erfolgen werde. In
Abweisung der Beschwerde bestätigte das kantonale Gericht daher die
angefochtene Verfügung.

4.
Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten
eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er gemäss Art. 44 ATSG
der Partei dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen
Gründen ablehnen und Gegenvorschläge machen.

4.1 In dem zur Publikation in BGE 132 V bestimmten Urteil B. vom 8. Februar
2006 (I 745/03) Erw. 5 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
entschieden, dass der Anordnung einer Begutachtung durch den
Sozialversicherer kein Verfügungscharakter zukommt. Einwendungen einer Partei
nach Art. 44 ATSG gegen Sachverständige sind in Form einer selbstständig
anfechtbaren Zwischenverfügung zu behandeln, sofern substanziiert gesetzliche
Ausstandsgründe (Art. 10 VwVG und Art. 36 Abs. 1 ATSG) geltend gemacht
werden. Nach Art. 36 Abs. 1 ATSG haben Personen, die Entscheidungen über
Rechte und Pflichten zu treffen oder vorzubereiten haben, in Ausstand zu
treten, wenn sie in der Sache ein persönliches Interesse haben oder aus
anderen Gründen in der Sache befangen sein könnten. Geht es um Rügen, welche
über die gesetzlichen Ausstandsgründe hinausgehen, ist diesen im Rahmen der
Beweiswürdigung Rechnung zu tragen (vgl. dazu Urteil B. vom 8. Februar 2006
Erw. 6.3-6.5 mit zahlreichen Hinweisen).

4.2 Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in Erwägung 6.5 des eben
genannten Urteils ausgeführt hat, ist zu unterscheiden zwischen Einwendungen
von Parteien gegen Sachverständige formeller Natur und solchen materieller
Natur. Dabei zählen die gesetzlichen Ausstandsgründe (vgl. Art. 10 VwVG und
Art. 36 Abs. 1 ATSG) zu den Einwendungen formeller Natur, weil sie geeignet
sind, den Sachverständigen wegen persönlicher Interessen oder Befangenheit
als nicht unabhängig erscheinen zu lassen. Sie sind in der Form einer
selbstständig anfechtbaren Zwischenverfügung zu behandeln. Einwendungen
materieller Natur können sich zwar ebenfalls gegen die Person des Gutachters
richten. Sie beschlagen jedoch nicht dessen Unabhängigkeit. Oft sind sie von
der Sorge getragen, das Gutachten könne mangelhaft ausfallen oder jedenfalls
nicht im Sinne der zu begutachtenden Person. Solche Einwendungen sind in der
Regel mit dem Entscheid in der Sache im Rahmen der Beweiswürdigung zu
behandeln. So hat beispielsweise die Frage, aus welcher medizinischen
Fachrichtung ein Gutachten einzuholen ist, nichts mit Ausstandsgründen,
sondern mit der Beweiswürdigung zu tun. Dasselbe gilt mit Bezug auf den
Einwand, der Sachverhalt sei bereits hinreichend abgeklärt oder das Leiden
auf Grund der selbst ins Recht gelegten Gutachten erstellt. Es besteht kein
Recht der versicherten Person auf einen Sachverständigen ihrer Wahl. Fehlende
Sachkunde eines Gutachters bildet ebenfalls keinen Umstand, der Misstrauen in
die Unabhängigkeit eines Gutachters wecken würde. Vielmehr ist bei der
Würdigung des Gutachtens in Betracht zu ziehen, dass ein Gutachter nicht
genügend sachkundig war (vgl. Urteil D. vom 30. November 1999, 1P.553/1999).
Es besteht nach dem oben genannten Urteil B. vom 8. Februar 2006 kein
sachlicher Grund, unter der Herrschaft des ATSG von der bisherigen
Rechtsprechung abzuweichen. Insbesondere besteht kein Anlass, die Beurteilung
von Rügen, welche über die gesetzlichen Ausstandsgründe hinausgehen und
Fragen beschlagen, die zur Beweiswürdigung gehören, vorzuverlegen. Es gilt
insbesondere zu vermeiden, dass das Verwaltungsverfahren um ein
kontradiktorisches Element erweitert und das medizinische Abklärungsverfahren
judikalisiert wird, was vor allem in Fällen mit komplexem Sachverhalt zu
einer Verlängerung des Verfahrens führen würde, welche in ein
Spannungsverhältnis zum einfachen und raschen Verfahren tritt (vgl. auch
Hans-Jakob Mosimann, Gutachten: Präzisierungen zu Art. 44 ATSG in: SZS 2005,
S. 479).

5.
Mit der Verfügung vom 1. Dezember 2003 hat die IV-Stelle die von der
Versicherten bei ihr gegen die medizinischen Sachverständigen erhobenen
Einwände abgelehnt.

5.1 Die Beschwerdeführerin hatte mit Eingabe vom 5. November 2003 eine
medizinische Nachbegutachtung durch das ZMB mit der Begründung abgelehnt, es
sei diesem schon bisher nicht möglich gewesen, das Erforderliche abzuklären
und die Ergebnisse eines neuropsychologischen Tests auszuwerten. In diesem
Einwand ist kein Ausstands- oder Ablehnungsgrund zu erblicken. Der Umstand,
dass sich die Sachverständigen schon einmal mit einer Person befasst haben,
schliesst später ihren Beizug als Gutachter nicht zum Vornherein aus. Eine
unzulässige Vorbefassung liegt auch dann nicht vor, wenn sie zu (für eine
Partei) ungünstigen Schlussfolgerungen gelangen (AHI 1997 S. 136 Erw. 1b/bb).

5.2 Anderes gilt, wenn Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit
und die Gefahr der Voreingenommenheit objektiv zu begründen vermögen, etwa
wenn die Sachverständigen ihren Bericht nicht neutral und sachlich abfassten
(BGE 120 V 364 Erw. 3a; Urteil J. vom 17. August 2004, I 29/04). Solches ist
hier jedoch nicht ersichtlich und wird auch nicht begründet geltend gemacht.
Auch im sinngemäss erhobenen Einwand der Beschwerdeführerin, die
MEDAS-Sachverständigen seien als Angestellte der Invalidenversicherung zu
betrachten und nicht unabhängig, ist kein Ausstands- oder Ablehnungsgrund zu
erblicken. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht unter Hinweis auf Art.
72bis IVV festgestellt hat (BGE 123 V 178 f. Erw. 4b mit Hinweisen), handelt
es sich bei der MEDAS um die spezialisierte Abklärungsstelle, die weder den
Durchführungsorganen noch der Aufsichtsbehörde in irgendeiner Art
weisungspflichtig noch sonst wie untergeordnet ist, sondern auf
tarifvertraglicher Grundlage medizinische Abklärungen vornimmt, die einzig
und allein nach bestem ärztlichen Wissen und Gewissen zu erstatten sind. Das
ZMB führt polydisziplinäre Begutachtungen für die Invalidenversicherung (als
MEDAS) sowie die Unfallversicherung, die Privatassekuranz und für Gerichte
durch. Das vom Bundesamt für Sozialversicherung gestützt auf Art. 72bis IVV
erlassene, am 1. Juni 1994 in Kraft getretene Statut der medizinischen
Abklärungsstellen in der Invalidenversicherung garantiert die erforderliche
Unabhängigkeit der MEDAS bei der Erfüllung von Gutachteraufträgen. Dieses
hält ausdrücklich fest, dass der Chefarzt und die Ärzte der MEDAS ihren
gutachterlichen Auftrag unabhängig und in ihrem freien Ermessen erfüllen und
in ihrer Meinungsbildung keinerlei Einfluss seitens der Aufsichtsorgane
unterstehen. Eine von anderen mit der Versicherten befassten Ärzten
abweichende Beurteilung vermag die Objektivität der Sachverständigen nicht in
Frage zu stellen. Es gehört vielmehr zu den Pflichten eines Gutachters, sich
kritisch mit dem Aktenmaterial auseinanderzusetzen und eine eigenständige
Beurteilung abzugeben. Auf welche Einschätzung letztlich abgestellt werden
kann, ist eine im Verwaltungs- und allenfalls Gerichtsverfahren zu klärende
Frage der Beweiswürdigung.

6.

Demnach ergibt sich, dass die Einwendungen der Beschwerdeführerin materieller
Natur sind und mit dem Entscheid in der Sache zu prüfen sein werden. Das
kantonale Gericht hätte auf die gegen die Zwischenverfügung der IV-Stelle vom
1. Dezember 2003 erhobene Beschwerde nicht eintreten dürfen, da es an einer
Prozessvoraussetzung fehlte. Dies ist im Rechtsmittelverfahren von Amtes
wegen zu berücksichtigen (vgl. oben Erw. 1), und der angefochtene Entscheid
ist aufzuheben. Die IV-Stelle wird das Verfahren gemäss dem ersten Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 27. August 2003 fortsetzen.

7.
Schliesslich wird die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass nach Art.
43 Abs. 1 ATSG der Versicherer die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen
vornimmt und die erforderlichen Auskünfte einholt. Soweit ärztliche oder
fachliche Untersuchungen für die Beurteilung notwendig und zumutbar sind, hat
sich die versicherte Person diesen zu unterziehen (Art. 43 Abs. 2 ATSG).
Kommt sie den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise
nicht nach, so kann der Versicherer auf Grund der Akten verfügen oder die
Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss die
versicherte Person vorher schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen
hinweisen; dabei ist ihr eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen (Art. 43
Abs. 3 ATSG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 7. Mai 2004 aufgehoben wird mit
der Feststellung, dass die Vorinstanz zu Unrecht auf die Verfügung der
IV-Stelle Bern vom 1. Dezember 2003 eingetreten ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 23. März 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: