Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 306/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


I 306/04

Urteil vom 23. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Widmer

U.________, 1966, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Mirjam
Zwald, Niederlenzerstrasse 27, Geschäftshaus Malaga, 5600 Lenzburg,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 20. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1966 geborene U.________, von Beruf Bauspengler, meldete sich am 6.
August 1997 unter Hinweis auf eine Diskushernie bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug an. Gestützt auf Abklärungen in medizinischer und
erwerblicher Hinsicht gelangte die IV-Stelle des Kantons Aargau zum Schluss,
dass der Versicherte vom 1. Januar bis 30. Juni 1998 Anspruch auf eine halbe
und ab 1. Juli bis 30. September 1998 auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung habe, was sie ihm mit Vorbescheid vom 29. Juni 2000
eröffnete. Am 26. Juli 2000 teilte die IV-Stelle ihren Beschluss der für die
Rentenberechnung zuständigen Ausgleichskasse SPIDA mit. Am 6/7. September
2000 erliess die IV-Stelle zwei Verfügungen. Mit derjenigen vom 7. September
2000 sprach sie U.________ für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1998 eine
halbe Invalidenrente zu, mit derjenigen vom 6. September 2000 eine
unbefristete Viertelsrente ab 1. Juli 1998. Die Nachzahlung der
Rentenbetreffnisse für Januar 1998 bis August 2000 wurde mit Forderungen der
Arbeitgeberfirma und der «Zürich» Versicherungs-Gesellschaft verrechnet. Im
Beiblatt zu den Verfügungen wurde festgehalten, dass die Invalidenrente ab 1.
Oktober 1998 entfalle.

Nachdem sich U.________ am 8. August 2003 telefonisch nach dem Grund für die
Ausrichtung einer Invalidenrente erkundigt hatte, bemerkte die IV-Stelle nach
Rückfrage bei der Ausgleichskasse, dass die Rentenzahlungen versehentlich
nicht befristet worden waren. Mit Verfügung vom 14. August 2003 verpflichtete
die IV-Stelle den Versicherten, die von Oktober 1998 bis August 2003 zu
Unrecht bezogenen Invalidenrentenbetreffnisse im Gesamtbetrag von Fr.
29'914.- zurückzuerstatten. Gleichzeitig verneinte sie die Möglichkeit des
Erlasses der Rückerstattung, weil in Folge Meldepflichtverletzung der gute
Glaube entfalle. Auf Einsprache von U.________ hin hielt die IV-Stelle an
ihrem Standpunkt fest (Entscheid vom 16. Dezember 2003).

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher U.________ die Aufhebung
des Einspracheentscheides mit der Feststellung, dass die Rückforderung
verwirkt sei, hatte beantragen lassen, wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 20. April 2004 ab.

C.
U. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den
Rechtsbegehren,
der vorinstanzliche Entscheid sowie der Einspracheentscheid seien aufzuheben
und es sei festzustellen, dass kein Rückforderungsanspruch mehr bestehe.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat mit Bezug auf die am 14. August 2003 verfügte, mit
Einspracheentscheid vom 16. Dezember 2003 bestätigte Rückforderung der dem
Beschwerdeführer im Zeitraum von Oktober 1998 bis August 2003 ausgerichteten
Invalidenrenten Art. 25 des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
angewendet. Ob die Anwendung des neuen Rechts mit Blick auf die
Übergangsregelung des Art. 82 Abs. 1 Satz 1 ATSG einer näheren Überprüfung
stand hält, oder ob die Rückerstattungsordnung von Art. 47 AHVG in Verbindung
mit Art. 49 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) zum
Zuge kommt, braucht im vorliegenden Fall nicht abschliessend beurteilt zu
werden. Denn der Frage, ob im Zusammenhang mit der Rückerstattung von zu
Unrecht bezogenen Leistungen Art. 25 ATSG (oder altes Recht) anzuwenden ist,
wenn der Einspracheentscheid nach dem In-Kraft-Treten des ATSG (am 1. Januar
2003) ergangen ist, die Rückerstattung aber vor dem 1. Januar 2003 gewährte
Leistungen betrifft, kommt keine auschlaggebende Bedeutung zu, da die nach
dem ATSG für die Rückerstattung massgeblichen Grundsätze aus der früheren
Regelung und Rechtsprechung hervorgegangen sind (BGE 130 V 319 Erw. 5.1 und
5.2).

2.
Das kantonale Gericht hat die ab 1. Januar 2003 geltenden Bestimmungen über
die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen und den Erlass der
Rückerstattung (Art. 25 Abs.1 ATSG) sowie das Erlöschen des
Rückforderungsanspruchs (Art. 25 Abs.2 ATSG) und die Ausführungsbestimmungen
(Art. 3 und 4 ATSV) zutreffend wiedergeben. Richtig festgestellt hat die
Vorinstanz ferner, dass die Rückforderung zu Unrecht ausgerichteter
Leistungen nur unter den für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision
geltenden Voraussetzungen zulässig ist (BGE 129 V 110 Erw. 1.1, 126 V 23 Erw.
4b, 122 V 21 Erw. 3a, 368 Erw. 3). Darauf kann verwiesen werden.

Art. 47 AHVG (in der bis Ende 2002 gültig gewesen Fassung) lautete wie folgt:
Unrechtmässig bezogene Renten und Hilflosenentschädigungen sind
zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben und gleichzeitigem Vorliegen einer
grossen Härte kann von der Rückforderung abgesehen werden (Abs.1). Der
Rückforderungsanspruch verjährt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf
von fünf Jahren seit der einzelnen Rentenzahlung (Abs. 2 Satz 1). Gemäss Art.
49 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) fand Art. 47
AHVG im Bereich der Invalidenversicherung sinngemäss Anwendung.

Bei den Fristen des Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG handelt es sich um
Verwirkungsfristen (BGE 124 V 382 Erw. 1, 119 V 433 Erw. 3a).

3.
Im vorliegenden Fall war die Ausrichtung der Invalidenrente insoweit
zweifellos unrichtig, als trotz Befristung bis 30. September 1998 im
Vorbescheid, in der Mitteilung des Beschlusses an die Ausgleichskasse und im
Begründungsblatt zu den Rentenverfügungen mit Verfügung vom 6. September 2000
eine unbefristete Viertelsrente zugesprochen und die Nachzahlung der
Betreffnisse für Juli 1998 bis August 2000 angeordnet wurde. Da der in Frage
stehende Betrag zudem von erheblicher Bedeutung ist, sind die Voraussetzungen
für die Wiedererwägung der ursprünglichen Verfügung erfüllt.

Beizupflichten ist der Auffassung der Vorinstanz auch insoweit, als sie den
guten Glauben des Beschwerdeführers als Voraussetzung für den Erlass der
Rückerstattung verneint hat. Es kann auf die einlässlichen Erwägungen im
angefochtenen Entscheid verwiesen werden, welchen nichts beizufügen ist.

4.
Zu prüfen bleibt, ob die Rückforderung bei Erlass der Verfügung vom 14.
August 2003 verwirkt war, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend
gemacht wird.

4.1  Der Rückforderungsanspruch erlischt/verjährt mit dem Ablauf eines
Jahres,
nachdem die Versicherungseinrichtung/die Ausgleichskasse davon Kenntnis
erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von 5 Jahren nach der
Entrichtung der einzelnen Leistung/seit der einzelnen Rentenzahlung (Art. 25
Abs. 2 Satz 1 ATSG; Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG). Nach der zu Art. 47 Abs. 2
Satz 1 AHVG und dem gleich lautenden Art. 95 Abs. 4 Satz 1 AVIG (in der bis
Ende 2002 gültig gewesenen Fassung) ergangenen Rechtsprechung, die auch bei
der Anwendung von Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG massgebend bleibt, ist unter dem
Ausdruck «nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat»,
der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr
zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für
eine Rückerstattung bestehen (BGE 122 V 274 f. Erw. 5a, 119 V 433 Erw. 3a,
112 V 181 Erw. 4a). Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG wie auch Art. 47 Abs. 2 Satz 1
AHVG unterwerfen den Rückforderungsanspruch somit einer doppelten
Verwirkungsdrohung: Einerseits ist die Rückforderung zeitlich daran gebunden,
dass die Verwaltung innert Jahresfrist seit zumutbarer Kenntnis des
rückfordungsbegründenden Sachverhalts verfügt. Erlässt die Verwaltung innert
dieser einjährigen relativen Verwirkungsfrist die Rückerstattungsverfügung,
kann sie gegebenenfalls die Erstattung bis auf die in den letzten fünf Jahren
ausgerichteten Leistungen ausdehnen, indem die Rückforderung andererseits
absolut verwirkt ist, soweit die Leistungsauszahlung mehr als fünf Jahre
zurückliegt (BGE 122 V 275 Erw. 5a).

Ist für die Leistungsfestsetzung das Zusammenwirken mehrerer Behörden
notwendig, genügt es, dass die nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis
bei einer der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist (BGE 119 V 433
Erw. 3a mit Hinweisen).

Mit Bezug auf den Beginn der einjährigen Verwirkungsfrist ist nicht das
erstmalige unrichtige Handeln der Amtsstelle massgebend. Vielmehr ist auf
jenen Tag abzustellen, an dem sich die Verwaltung später - beispielsweise
anlässlich einer Rechnungskontrolle - unter Anwendung der ihr zumutbaren
Aufmerksamkeit über ihren Fehler hätte Rechenschaft geben müssen (BGE 124 V
382 f. Erw. 1, 122 V 275 Erw. 5b aa, 110 V 304).

4.2
4.2.1Die Vorinstanz gelangte zur Auffassung, dass der Fristenlauf erst durch
das Telefonat des Beschwerdeführers mit der IV-Stelle am 8. August 2003
ausgelöst worden sei, als er anfragte, weshalb er eine Rente erhalte. Mit der
Rückforderungsverfügung vom 14. August 2003 sei die einjährige
Verwirkungsfrist somit gewahrt worden.

4.2.2  Der Beschwerdeführer macht unter Beilage von Rechnungen von Tele 2,
Telecommunication Services AG, vom 10. September 2001, 8. Februar 2002 und
10. April 2003 samt dazugehörigen Gesprächsübersichten geltend, er habe am
13. und 17. August 2001 mit Frau C.________ von der Ausgleichskasse SPIDA
telefoniert. Diese Anrufe, mit denen er sich über seine Rente erkundigt habe,
seien zwei Jahre vor Erlass der Rückforderungsverfügung erfolgt. Ein weiteres
Telefonat habe am 25. Januar 2002 stattgefunden. Alle diese Anrufe seien bei
der Ausgleichskasse nicht dokumentiert, was als Indiz dafür zu werten sei,
dass die zuständige Sachbearbeiterin ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe.

Aufgrund der Beweislage dränge es sich auf, Frau C.________ von der
Ausgleichskasse als Zeugin zu befragen. Denn es sei davon auszugehen, dass
die Telefongespräche die Invalidenrente betrafen. Diesfalls wäre die
Rückforderung bei Erlass der Verfügung vom 14. August 2003 verwirkt gewesen.

4.2.3  Gemäss den letztinstanzlich aufgelegten Rechnungen von Tele 2 samt
Gesprächsübersichten steht fest, dass am 13. und 17. August 2001 sowie am 25.
Januar 2002 vom Anschluss des Beschwerdeführers aus Telefongespräche mit der
Ausgleichskasse SPIDA geführt wurden. Da der Inhalt der Telefonate nicht
erstellt ist und bei der Ausgleichskasse keine Aufzeichnungen über diese
Gespräche vorhanden sind, es jedoch plausibel erscheint, dass der Versicherte
die zuständige Sachbearbeiterin auf die irrtümlich ausgerichteten
Rentenbetreffnisse hingewiesen hat, drängen sich zusätzliche Beweismassnahmen
auf. Dazu wird die Sache an das kantonale Gericht zurückgewiesen. Dieses wird
insbesondere die zuständige Sachbearbeiterin der Ausgleichskasse, Frau
C.________, als Zeugin einvernehmen und allenfalls auch die Ehefrau des
Beschwerdeführers befragen. Gestützt auf die Aktenergänzung wird die
Vorinstanz über die Beschwerde neu befinden. Sollte sich ergeben, dass der
Versicherte an einem der erwähnten Daten mit Anfragen zu der ihm ausbezahlten
Invalienrente an die Ausgleichskasse gelangte, wäre die am 14. August 2003
verfügte Rückforderung verwirkt, da die Ausgleichskasse, deren Wissen sich
die IV-Stelle anrechnen lassen muss, entweder bereits im August 2001 oder im
Januar 2002 und somit weit über ein Jahr vor Erlass der
Rückforderungsverfügung bei zumutbarer Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen,
dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
angefochtene Entscheid vom 20. April 2004 aufgehoben und die Sache an das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, damit es, nach
erfolgter Aktenergänzung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu
entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.

2000. - (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse SPIDA und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 23. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: