Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 292/2004
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I 292/04

Urteil vom 13. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Flückiger

J.________, 1965, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Giuseppe
Dell'Olivo-Wyss, Stadtturmstrasse 10, 5401 Baden,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 6. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene J.________ erlitt am 24. Dezember 1996 einen Autounfall,
bei welchem er sich gemäss ärztlichen Feststellungen ein Distorsionstrauma
der Halswirbelsäule (HWS) zuzog. In der Folge war er nach den medizinischen
Akten zunächst zu 100 % und anschliessend zu 50 % arbeitsunfähig. Ab 10. Juni
1997 bestand volle Arbeitsfähigkeit, und der Versicherte bezog
dementsprechend Arbeitslosenunterstützung. Anschliessend übte er vom 10. Juni
1998 bis 31. Juli 1999 eine Vollzeitbeschäftigung als Koch/Pizzaiolo im
Restaurant Y.________ aus. Nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit (mit
Vermittlungsfähigkeit für ein Vollzeitpensum) arbeitete er ab Juni 2000 zu 50
% im Restaurant Z.________. Seit 1. Mai 2001 ist er mit einem Pensum von rund
50 % als Koch im Café W.________ angestellt.

Am 20. August 1999 meldete sich der Versicherte bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug (Rente) an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau zog die Akten
des obligatorischen Unfallversicherers "Zürich" Versicherungs-Gesellschaft
(nachfolgend: Zürich) bei und führte eigene Abklärungen durch. Nach Vorliegen
eines durch die Zürich veranlassten Gutachtens der Klinik X.________ vom 23.
April (richtig wohl: Juni) 2002 führte sie das Vorbescheidverfahren durch, in
dessen Verlauf der Versicherte ein Schreiben des Dr. med. Z.________, Leiter
Neurorehabilitation der Klinik X.________ und Verfasser des erwähnten
Gutachtens, vom 9. Januar 2003 einreichen liess. Anschliessend verneinte die
Verwaltung mit Verfügung vom 4. Februar 2003 einen Leistungsanspruch. Daran
hielt sie auf Einsprache hin mit Entscheid vom 28. Mai 2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau ab (Entscheid vom 6. April 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt J.________ das Rechtsbegehren
stellen, es sei ihm eine Dreiviertels-Invalidenrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle - unter Verweis auf den kantonalen Entscheid - und das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1
IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1
und 1bis IVG), die Bestimmung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE
128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 f. Erw. 2a und b) und die Aufgabe des Arztes oder
der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit
Hinweisen; vgl. auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen. In übergangsrechtlicher Hinsicht ist zu präzisieren, dass die
am 1. Januar 2004 - und somit nach dem Erlass des Einspracheentscheides vom
28. Mai 2003 - in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision) und der Verordnung
über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 keine Anwendung finden (vgl.
BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweis). Das seit 1. Januar 2003 geltende
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 brachte hinsichtlich der
invalidenversicherungsrechtlichen Invaliditätsbemessung keine substanziellen
Änderungen gegenüber der bis zum 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Normenlage (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil A.
vom 30. April 2004, I 626/03), sodass die zur altrechtlichen Regelung
ergangene Judikatur weiterhin massgebend ist. Bei dieser Rechtslage kann
offen bleiben, ob der Rentenanspruch integral dem ATSG untersteht oder ob für
die Zeit bis 31. Dezember 2002 altes und ab 1. Januar 2003 neues Recht
massgeblich ist.

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung und in diesem Rahmen der Invaliditätsgrad.

3.
3.1 In medizinischer Hinsicht gelangten Verwaltung und Vorinstanz zum
Ergebnis, der Beschwerdeführer sei zumutbarerweise in der Lage, eine einfache
Hilfsarbeit ohne besondere körperliche Belastung und in einer stressfreien
Umgebung im Rahmen eines Arbeitspensums von 75 % auszuüben. Sie stützten sich
dabei in erster Linie auf das der Zürich erstattete Gutachten der Klinik
X.________.

Der Beschwerdeführer erachtet dieses Gutachten ebenfalls als beweiskräftig,
beanstandet jedoch dessen Interpretation durch die IV-Stelle und das
kantonale Gericht. Er macht geltend, es müsse - insbesondere unter Einbezug
des erläuternden Schreibens des Dr. med. Z.________, welcher das Gutachten
verfasst hatte, vom 9. Januar 2003 - von einer ungünstigeren Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden.

3.2  Anlässlich der Begutachtung in der Klinik X.________ wurden - im
Anschluss an entsprechende Untersuchungen - am 4. Juni 2002 ein
psychiatrisches (Dr. med. K.________) und ein rheumatologisches (Dr. med.

R. ________) Teilgutachten sowie am 13. Juni 2002 ein neuropsychologischer
Bericht (Dr. phil. C.________) abgefasst. Basierend darauf sowie auf seiner
eigenen neurologischen Untersuchung erstattete Dr. med. Z.________ das
Gesamtgutachten. Dieses erfüllt die von der Rechtsprechung entwickelten
Anforderungen an eine beweiskräftige medizinische Expertise (BGE 125 V 352
Erw. 3a). Diagnostiziert wird ein Status nach schwerer Frontalkollision am
24. Dezember 1996 in Jugoslawien mit HWS-Distorsionstrauma und durchgemachter
milder traumatischer Hirnverletzung mit heute mässiggradigen
muskuloligamentären zervikalen Beschwerden mit eingeschränkter Kopfrotation,
leichter psychischer Anpassungsstörung, leichten Gleichgewichtsstörungen
sowie mittelgradigen neuropsychologischen Störungen unklarer Ätiologie.
Weiter führt Dr. med. Z.________ aus, der Unfall, der die alleinige Ursache
der geklagten Beschwerden und erhobenen Befunde bilde, habe zu einer
Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf als Koch um rund
50 % (an einem nicht zu stressigen Arbeitsplatz) geführt. Unter hektischeren
Bedingungen erhöhe sich die Arbeitsunfähigkeit leicht auf 60-70 %. Nicht mehr
möglich seien das Heben grösserer Gewichte (schwerer Pfannen ab 10 kg) sowie
das Arbeiten in einer hektischen Arbeitsumgebung mit zahlreichen Mitarbeitern
(Grossküche). Einfache Hilfsarbeiten ohne besondere körperliche Belastung und
in einer stressfreien Umgebung seien in einem zeitlichen Umfang von rund 75 %
zumutbar, wobei es sich dabei um theoretische Tätigkeiten handle, während dem
Gutachter keine entsprechende praktische Tätigkeit bekannt sei. Bezogen auf
das alleinige Führen eines Haushalts sei grob geschätzt von einer
Einschränkung um ca. 30 % auszugehen.

In seinem Schreiben vom 9. Januar 2003 erklärt Dr. med. Z.________, er habe
die Zumutbarkeit eines Pensums von 75 % bewusst explizit auf Hilfsarbeiten
ohne besondere körperliche Belastung und in einer stressfreien Umgebung
beschränkt und in Klammern angefügt, dass es sich um eine theoretische
Tätigkeit handle, die es in der Praxis, auf dem freien Arbeitsmarkt und
finanziell verwertbar, nicht gebe. Da sich die Einschätzung der zumutbaren
Arbeitsfähigkeit immer auf Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt beziehe,
könne dieser Wert nicht als Basis herangezogen werden. Zudem wäre
wahrscheinlich auch keine kompetitive 100%ige Leistung pro Zeiteinheit
möglich. De facto bleibe es "halt bei der für den angestammten Beruf
festgelegten maximalen Arbeitsfähigkeit von 50 %".

3.3  Das kantonale Gericht hat zutreffend festgehalten, dass die Aufgabe des
Arztes darin besteht anzugeben, welche Tätigkeit der versicherten Person in
welchem Umfang zumutbar ist, während die Beurteilung der erwerblichen
Verwertbarkeit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit in den
Zuständigkeitsbereich der Verwaltung oder - im Beschwerdefall - des Gerichts
fällt (vgl. BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen). Aus dem Gutachten der Klinik
X.________ geht hervor, dass der Beschwerdeführer eine leichte Hilfsarbeit in
einer stressfreien Umgebung mit einem Pensum von 75 % ausüben könnte. Die
erst im Schreiben des Dr. med. Z.________ vom 9. Januar 2003 enthaltene
Aussage, es sei "wahrscheinlich auch keine kompetitive 100%ige Leistung pro
Zeiteinheit möglich", rechtfertigt unter den konkreten Umständen die Annahme
nicht, die Arbeitsfähigkeit sei darüber hinaus zusätzlich eingeschränkt. Die
am Gutachten beteiligten Fachleute stellten mit Ausnahme der mittelgradigen
neuropsychologischen Störung, deren Ätiologie jedoch unklar ist (insbesondere
sind die Testresultate offenbar nicht typisch für eine hirnorganisch bedingte
Störung, wie sie nach einer milden traumatischen Hirnverletzung auftreten
kann) und welche mit dem im Gespräch gewonnenen, wesentlich günstigeren
Eindruck des untersuchenden Spezialisten kontrastiert, in den jeweiligen
Bereichen nur relativ leichte Beeinträchtigungen fest. Es ist davon
auszugehen, dass diesen Einschränkungen durch die Umschreibung der zumutbaren
Arbeit und deren Beschränkung auf ein Teilpensum von 75 % Rechnung getragen
wurde. Dagegen ist nicht ersichtlich, warum und inwiefern die
Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer leichten, angepassten
Hilfsarbeit über die Reduktion des Pensums hinaus in erheblichem Masse
eingeschränkt sein sollte. Der diesbezüglichen vorinstanzlichen Beurteilung
ist beizupflichten.

4.
Zu prüfen bleiben die für den Einkommensvergleich massgebenden
Vergleichseinkommen, dies bezogen auf den Zeitpunkt des allfälligen
Rentenbeginns (BGE 129 V 222), als welchen das kantonale Gericht mit
zutreffender Begründung den 1. Juni 2001 (ein Jahr nach der Reduktion des der
Arbeitslosenentschädigung zu Grunde gelegten Pensums von 100 % auf die 50%ige
Anstellung im Restaurant Z.________; Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) bezeichnet
hat.

4.1  Das Valideneinkommen bezifferte die Vorinstanz ausgehend vom Verdienst
des Beschwerdeführers im Restaurant Y.________, wo er von Juni 1998 bis Juli
1999 vollzeitlich angestellt war, sowie unter Berücksichtigung der
zwischenzeitlichen Lohnentwicklung auf Fr. 56'300.-. Dieser Betrag ist zu
Recht unbestritten geblieben.

4.2  Angesichts der Zumutbarkeitsbeurteilung gemäss Erw. 3.3 hievor muss
davon
ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit seiner im Umfang von 50 %
ausgeübten Erwerbstätigkeit die verbliebene Arbeitsfähigkeit nicht
vollumfänglich ausschöpft. Daher kann das mit der gesundheitlichen
Einschränkung bei ausgeglichenem Arbeitsmarkt durch eine zumutbare
Erwerbstätigkeit erzielbare  Einkommen (Invalideneinkommen) nicht anhand des
tatsächlich erzielten Lohnes bestimmt werden. Vielmehr hat die Vorinstanz
diesen Wert zu Recht ausgehend von den Ergebnissen der schweizerischen
Lohnstrukturerhebung (LSE) 2000 ermittelt (zu den Grundlagen dieses Vorgehens
BGE 126 V 76 f. Erw. 3b/bb mit Hinweisen). Ausgehend von Tabelle A1,
Anforderungsniveau 4, unter Berücksichtigung des branchenüblichen
Wochenpensums und der Lohnentwicklung von 2000 auf 2001 (vgl. BGE 126 V 81
Erw. 7a) sowie umgerechnet auf ein Teilpensum von 75 % resultierte ein Wert
von Fr. 3564.25 pro Monat. Praxisgemäss ist, soweit es die Umstände
rechtfertigen, gegenüber dem Tabellenwert ein prozentualer Abzug vorzunehmen,
um einer zu erwartenden behinderungsbedingten Lohneinbusse sowie allfälligen
weiteren einkommensmindernden Faktoren Rechnung zu tragen (vgl. BGE 126 V 79
f. Erw. 5b). Wenn das kantonale Gericht im vorliegenden Fall den durch die
Verwaltung berücksichtigten Abzug von 10 % bestätigt hat (zur gerichtlichen
Prüfungsbefugnis in dieser Konstellation BGE 126 V 81 Erw. 6), ist dies in
Anbetracht der konkreten Situation (Beeinträchtigung durch die verschieden
gelagerten Symptome; Niederlassungsbewilligung; Alter [bei allfälligem
Rentenbeginn] von 36 Jahren), nicht zu beanstanden. Der resultierende, durch
das kantonale Gericht korrekt ermittelte Invaliditätsgrad von 32 % begründet
keinen Rentenanspruch.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: