Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 289/2004
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I 289/04

Urteil vom 27. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Durizzo

A.________, 1960, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Stefan Galligani, Ruederstrasse 8, 5040 Schöftland,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 14. April 2004)

Sachverhalt:

A.
A.  ________, geboren 1960, leidet seit Jahren an Rückenbeschwerden.
Verschiedene Stellen als Hilfsarbeiterin musste sie jeweils nach kurzer Zeit
krankheitsbedingt wieder aufgeben oder wurden ihr gekündigt. Am 17. November
1997 meldete sie sich erstmals bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Eine Begutachtung durch die Rheuma- und
Rehabilitationsklinik Y.________ am 17. August 1999 ergab keine Hinweise auf
ein wesentliches organisch bedingtes Rückenleiden. Nach Auffassung der Ärzte
war die damalige Tätigkeit, welche die Versicherte zu 100 % ausübte, ihrem
Leiden angepasst. Dieses Pensum sei ihr zwar grundsätzlich zumutbar. Weil sie
daneben jedoch einen fünfköpfigen Haushalt führen müsse, werde sie
überfordert (Expertise vom 19. August 1999). Ab September 1999 attestierte
ihr der Hausarzt Dr. med. S.________, Rheumatologie FMH, eine 100%ige
Arbeitsunfähigkeit. Die IV-Stelle des Kantons Aargau lehnte das
Leistungsbegehren gestützt darauf am 7. April 2000 ab mit der Begründung,
dass die gesetzliche Wartezeit von einem Jahr noch nicht abgelaufen sei.

Am 1. Dezember 2000 reichte A.________ erneut ein Rentengesuch ein. Die
IV-Stelle liess sie im Spital X.________, Rheumaklinik und Institut für
Physikalische Medizin, untersuchen (Gutachten vom 7. März 2002) und stellte
ihr gestützt darauf in Aussicht, dass sie das Leistungsbegehren mangels
rentenbegründender Invalidität abweisen werde (Vorbescheid vom 29. Juli
2002). An dieser Auffassung hielt sie mit Verfügung vom 27. Februar 2003 und
Einspracheentscheid vom 28. Juli 2003 fest mit der Begründung, dass der
Bericht des Hausarztes Dr. med. H.________, Innere Medizin FMH, vom 10.
Januar 2003 an der Einschätzung der Gutachter des Spitals X.________ nichts
zu ändern vermöge.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aarau mit Entscheid vom 14. April 2004 ab.

C.
A. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des
angefochtenen Entscheides sowie die Zusprechung einer Invalidenrente
beantragen. Des Weiteren ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau und das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch der Beschwerdeführerin.
Diese Frage beurteilt sich, da keine laufenden Leistungen im Sinne der
übergangsrechtlichen Ausnahmebestimmung des Art. 82 Abs. 1 ATSG, sondern
Dauerleistungen im Streit stehen, über welche noch nicht rechtskräftig
verfügt worden ist, entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen
Regeln für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen Rechtslage
und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen des auf den 1. Januar 2003 in
Kraft getretenen ATSG und dessen Ausführungsverordnungen (noch nicht in der
Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil M. vom 5. Juli 2004, I 690/03,
Erw. 1 mit Hinweis auf das ebenfalls noch nicht in der Amtlichen Sammlung
publizierte Urteil L. vom 4. Juni 2004, H 6/04). Keine Anwendung finden die
per 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003
und der IVV vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) sowie die damit einhergehenden
Anpassungen des ATSG.

1.2  Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), zu
den Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und
1bis IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung), zur
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; zu Art. 28 Abs. 2 IVG [in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2002]: vgl. auch BGE 128 V 30 f. Erw. 1 mit
Hinweisen), zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE
125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen; vgl. auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) und zur
richterlichen Beweiswürdigung von Arztberichten (BGE 125 V 352 Erw. 3a und b
mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Zu ergänzen ist, dass sich die
gesetzlichen Regelungen von Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG
(in Kraft seit 1. Januar 2003) und Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2002
gültigen Fassung sowie diejenigen von Art. 16 ATSG und Art. 28 Abs. 2 IVG in
der bis Ende 2002 gültigen Fassung im Wesentlichen entsprechen und sowohl die
zum bisherigen Begriff der Invalidität in der Invalidenversicherung ergangene
Rechtsprechung (vgl. statt vieler BGE 119 V 470 Erw. 2b, 116 V 249 Erw. 1b
mit Hinweisen) wie auch die zur allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs
entwickelte Judikatur (vgl. BGE 128 V 30 Erw. 1 mit Hinweisen) unter der
Herrschaft des ATSG weiterhin ihre Gültigkeit behalten (noch nicht in der
Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03,
Erw. 3.3 und 3.4).

2.
2.1 Verwaltung und Vorinstanz haben sich zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
der Beschwerdeführerin auf das Gutachten des Spitals X.________ vom 7. März
2002 gestützt. Dessen Ärzte stellten nach einer Untersuchung am 17. Dezember
2001 die Diagnose eines chronischen Panvertebralsyndroms mit
zervikospondylogener und lumbospondylogener neuropathischer Schmerzkomponente
bei diskreten degenerativen Veränderungen sowie Wirbelsäulenfehlform
(Skoliose, Beckenhochstand links), muskulärer Dysbalance (insbesondere
Dekonditionierung) sowie Somatisierungsstörung. Die Befunde seien praktisch
identisch mit denjenigen, welche die Ärzte der Rheuma- und
Rehabilitationsklinik Y.________ gemäss Gutachten vom 19. August 1999 erhoben
hatten. In Bezug auf die Arbeitsfähigkeit würden sich daher keine neuen
limitierenden Faktoren ergeben, welche die damalige Einschätzung ändern
könnten. Die angestammte leichte und wechselbelastende Tätigkeit als
Hilfsarbeiterin sei dem Leiden optimal angepasst und weiterhin zu 100 %
zumutbar. Allerdings müsse zunächst eine Rekonditionierung erfolgen.

2.2  Der Hausarzt Dr. med. H.________, welcher die Versicherte seit längerem
wegen Diabetes behandelt, erhielt demgegenüber bei anhaltenden Klagen über
Beschwerden und zunehmend depressiver Verstimmung den Eindruck, dass nicht
ein Wirbelsäulenleiden, sondern eine Fibromyalgie vorliege. Er überwies die
Beschwerdeführerin daher zur Abklärung an Dr. med. T.________, Physikalische
Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie FMH, der diese Diagnose
bestätigte (Bericht vom 27. November 2002). Dr. med. H.________ ist der
Ansicht, dass das chronische Vertebralsyndrom bei diskreten degenerativen
Veränderungen keine Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit hat, zufolge der
Fibromyalgie jedoch eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit besteht (Bericht vom 10.
Januar 2003). Nach der letztinstanzlich eingereichten Stellungnahme des Dr.
med. T.________ vom 20. Mai 2004 ist die Versicherte zu zwei Dritteln
arbeitsunfähig.

2.3  Nachdem das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden hat, dass
die
Fibromyalgie einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung gleichgesetzt
werden kann (Urteil P. vom 10. März 2003, I 721/02), welche zur Kategorie der
psychischen Leiden gehört und unter bestimmten Voraussetzungen eine
Arbeitsunfähigkeit verursachen kann (vgl. das in der Amtlichen Sammlung noch
nicht veröffentlichte Urteil N. vom 12. März 2004, I 683/03, Erw. 2.2.2), ist
die unterschiedliche Diagnosestellung durch die Ärzte des Spitals X.________
und der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ einerseits und den
Hausarzt Dr. med. H.________ sowie Dr. med. T.________ anderseits nicht
unbeachtlich (vgl. dazu Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der
Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, namentlich
für den Einkommensvergleich in der Invaliditätsbemessung, in:
Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen
2003, S. 64 N 93). Da bei der Beschwerdeführerin der Befund der Fibromyalgie
erst nach der Begutachtung erhoben worden ist, haben die Ärzte des Spitals
X.________ sich mit dieser Diagnosestellung nicht auseinandergesetzt. Dem
Bericht des Hausarztes vom 10. Januar 2003 lässt sich nicht entnehmen, ob ein
psychisches Leiden mit Krankheitswert vorliegt; gemäss Stellungnahme des
IV-Stellen-Arztes Dr. med. W.________ vom 4. Februar 2003 könnten die
psychisch aktiven Medikamente, welche die Versicherte einnimmt, als
Begleitmedikation zur Verminderung des Schmerzmittelbedarfs verabreicht
worden sein. Ebenso wenig geht daraus hervor, warum der Beschwerdeführerin
auch keine leichte wechselbelastende Tätigkeit zugemutet werden kann.

2.4  Die Rechtsfolgevoraussetzung einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit
ist überhaupt erst zu prüfen, wenn ein Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4
Abs. 1 IVG gegeben ist (vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG [in der Fassung vom 6. Oktober
2000] in Verbindung mit Art. 7 f. ATSG; zum Begriff des Gesundheitsschadens
Meyer-Blaser, a.a.O., S. 35 f.). In Anbetracht der sich mit Bezug auf
Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten geht die Praxis davon
aus, dass die subjektiven Schmerzangaben der versicherten Person für die
Begründung einer (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit allein nicht genügen;
vielmehr muss im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen Leistungsprüfung
verlangt werden, dass die Schmerzangaben durch damit korrelierende,
fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind (vgl.
Urteil R. vom 2. Dezember 2002, I 53/02, Erw. 2.2 mit Hinweis). Die
Schmerzangaben müssen also zuverlässiger medizinischer Feststellung und
Überprüfung zugänglich sein (vgl. Urteil W. vom 9. Oktober 2001, I 382/00,
Erw. 2b). Das Ausmass der durch eine somatoforme Schmerzstörung bewirkten
Arbeitsunfähigkeit wird grundsätzlich gestützt auf ein psychiatrisches
Gutachten festgelegt (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung bestimmte
Urteile B. vom 18. Mai 2004, I 457/02, Erw. 5.3.1, und N. vom 12. März 2004,
I 683/03, Erw. 2.2.2).
2.5  Zur Klärung des medizinischen Sachverhalts und der Frage der
Arbeitsfähigkeit wird die IV-Stelle daher ein psychiatrisches Gutachten
einholen müssen.

3.
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten
abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege,
einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, erweist sich damit als
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. April 2004 und
der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 28. Juli 2003
aufgehoben werden, und es wird die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Invalidenrente neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.

1500. - (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 27. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: