Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 284/2004
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I 284/04

Urteil vom 30. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Ackermann

Kantonale IV-Stelle Wallis, Bahnhofstrasse 15, 1950 Sitten,
Beschwerdeführerin,

gegen

V.________, 1949, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Peter Volken,
Englisch-Gruss-Strasse 6, 3900 Brig

Kantonales Versicherungsgericht des Wallis, Sitten

(Entscheid vom 19. April 2004)

Sachverhalt:

A.
V.  ________, geboren 1949, meldete sich am 5. Mai 1993 bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Vornahme medizinischer und
erwerblicher Abklärungen (insbesondere Abklärungsbericht Haushalt vom 26.
Juli 1993) lehnte die IV-Stelle des Kantons Wallis mit Verfügung vom 5.
Oktober 1993 den Anspruch ab, da ein Invaliditätsgrad von nur 31 % vorliege.
Diese Verfügung blieb unangefochten.

Mit Schreiben vom 25. März 1998 liess V.________ erneut ein Gesuch um
Gewährung einer Rente stellen, wobei sie (erstmals) erwähnte, dass sie ohne
Behinderung teilweise einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde. Auf Ersuchen
der IV-Stelle reichte sie am 22. April 1998 eine Neuanmeldung ein, worauf die
Verwaltung medizinische Abklärungen vornahm und eine Abklärung im Haushalt
(Bericht vom 21. September 1998) veranlasste. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 24. August
2000 den Anspruch auf eine Invalidenrente infolge eines Invaliditätsgrades
von unter 40 %, wobei sie davon ausging, dass V.________ auch im
Gesundheitsfall allein im Haushalt tätig wäre und keiner ausserhäuslichen
Arbeit nachginge. Mit der gleichen Begründung lehnte die Verwaltung in einer
weiteren Verfügung vom 24. August 2000 auch eine Wiedererwägung der
ursprünglichen Verfügung vom 5. Oktober 1993 ab.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom kantonalen Versicherungsgericht des
Wallis mit Entscheid vom 11. Februar 2002 insoweit abgewiesen, als sie die
Neuanmeldung zum Bezug der Invalidenrente betraf, während die Beschwerde
hinsichtlich Wiedererwägung der Verfügung vom 5. Oktober 1993 gutgeheissen
und die Sache in dieser Hinsicht zur Neuabklärung an die IV-Stelle
zurückgewiesen wurde. Auf Verwaltungsgerichtsbeschwerde der IV-Stelle hin hob
das Eidgenössische Versicherungsgericht mit Urteil vom 29. April 2003, I
162/02, diesen Entscheid soweit die Wiedererwägung betreffend auf und wies
die Sache an das kantonale Gericht zurück, da der Entscheid einen inneren
Widerspruch aufweise, sei doch betreffend Neuanmeldung klar vom Status als
Hausfrau ausgegangen worden, während dieser Status bei der Prüfung der
Wiedererwägung als noch nicht genügend abgeklärt erachtet worden sei.

B.
In Nachachtung des Urteils des Eidgenössischen Versicherungsgerichts holte
das kantonale Versicherungsgericht des Wallis Stellungnahmen der Parteien
ein. Mit Entscheid vom 19. April 2004 hob es die Wiedererwägungsverfügung von
August 2000 abermals auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück, da der
rechtserhebliche Sachverhalt zur Beurteilung der Statusfrage unrichtig
festgestellt worden sei.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den
vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.

V.  ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Wie das kantonale Gericht zu Recht festgehalten hat, ist das am 1. Januar
2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Wiedererwägungsverfügung (August 2000) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Dasselbe gilt für die Bestimmungen der auf den
1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4. IVG-Revision. Weiter hat die Vorinstanz
die Voraussetzungen für die Wiedererwägung einer formell rechtskräftigen
Verwaltungsverfügung (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass nach der Rechtsprechung die Verwaltung weder vom
Betroffenen noch vom Richter zu einer Wiedererwägung verhalten werden kann.
Es besteht darum kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung.
Verfügungen, mit denen das Eintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch abgelehnt
wird, sind somit grundsätzlich nicht anfechtbar. Wenn die Verwaltung hingegen
auf ein Wiedererwägungsgesuch eintritt, die Wiedererwägungsvoraussetzungen
prüft und anschliessend einen erneut ablehnenden Sachentscheid trifft, ist
dieser beschwerdeweise anfechtbar. Die nachfolgende gerichtliche Überprüfung
hat sich in einem solchen Fall indessen auf die Frage zu beschränken, ob die
Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der bestätigten Verfügung gegeben
sind. Prozessthema ist also diesfalls, ob die Verwaltung zu Recht die
ursprüngliche, formell rechtskräftige Verfügung nicht als zweifellos
unrichtig und/oder ihre Korrektur als von unerheblicher Bedeutung
qualifizierte (BGE 117 V 13 Erw. 2a)

2.
Zu entscheiden ist hier allein, ob die Verwaltung im August 2000 zu Recht
ihre leistungsverweigernde Verfügung vom 5. Oktober 1993 nicht in
Wiedererwägung gezogen und nicht von einer Teilerwerbstätigkeit der
Beschwerdegegnerin ausgegangen ist; unbestritten ist, dass die IV-Stelle auf
das Wiedererwägungsgesuch eingetreten ist. Die Neuanmeldung von Frühjahr 1998
ist dagegen nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.

2.1  Das kantonale Gericht hat erwogen, dass bereits seit 1986 und nicht erst
- wie von der Verwaltung angenommen - seit 1991 gesundheitliche
Einschränkungen bestanden hätten; es liege auch keine klare und
unmissverständliche Aussage der Versicherten über eine ausschliessliche
Haushaltführung vor. Aufgrund der Abklärungen im Wiedererwägungsverfahren
habe sich weiter ergeben, dass vor Eintritt des Gesundheitsschadens
sporadisch Teilzeitstellen ausgeübt worden seien. Eine Teilerwerbstätigkeit
sei auch im Hinblick auf das Alter der Versicherten nicht auszuschliessen und
die Finanzierung des Studiums des Sohnes spreche ebenfalls für die Annahme
einer Teilzeitarbeit im Gesundheitsfall. Damit habe die Verwaltung den
Sachverhalt offensichtlich falsch beurteilt, so dass sich die ursprüngliche
Verfügung von 1993 als offensichtlich unrichtig erweise.

Die Beschwerde führende IV-Stelle bringt demgegenüber im Wesentlichen vor,
die Vorinstanz habe sich nicht auf die Prüfung der Frage der Voraussetzungen
der Wiedererwägung beschränkt, sondern eine neue Beweiswürdigung vorgenommen.
Weiter habe sich das kantonale Gericht zu Unrecht auf die Sach- und
Beweislage gestützt, welche sich zeitlich nach dem Erlass der Verfügung von
Oktober 1993 ergeben habe.

2.2  Massgebend für die Beurteilung einer Wiedererwägung ist der zur Zeit des
Erlasses der ersten Verfügung bekannte Sachverhalt (Urteil S. vom 30. März
2001, C 122/00). Werden dagegen nachträglich neue Tatsachen oder neue
Beweismittel entdeckt, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen
Beurteilung zu führen, liegt kein Anwendungsfall einer Wiederwägung, sondern
eine sogenannte prozessuale Revision vor (BGE 127 V 469 Erw. 2c sowie Art. 53
Abs. 1 ATSG). So unterscheidet denn auch Ulrich Meyer-Blaser, Die Abänderung
formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen in der Sozialversicherung, ZBl
1994, S. 350 ff., den Fall der anfänglich tatsächlichen Unrichtigkeit
(prozessuale Revision) vom Fall der anfänglich rechtlichen Unrichtigkeit
(Wiedererwägung). Damit ist hier für den Entscheid über die Wiedererwägung
aber auf den Sachverhalt abzustellen, wie er sich beim Erlass der
leistungsverweigernden (ersten) Verfügung im Oktober 1993 dargestellt hat;
später eingebrachte Beweismittel - wie die von der Beschwerdeführerin im
Wiedererwägungsverfahren vorgelegten Arbeitgeberbestätigungen - sind dagegen
nicht massgebend. Denn der Weg der prozessualen Revision bleibt hier
verschlossen, da der Beschwerdegegnerin die erstmals 1998 vorgebrachte
Teilerwerbstätigkeit schon im Jahre 1993 bekannt gewesen ist und sie dies
auch bereits damals hätte geltend machen und mit Beweismitteln belegen können
(BGE 108 V 168 Erw. 2b). Beruht die zweifellose Unrichtigkeit einer formell
rechtskräftigen Verwaltungsverfügung nämlich - wie hier geltend gemacht - auf
einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung, ist ein Rückkommen auf diesen
Verwaltungsakt nur zulässig, wenn in Bezug auf die fragliche Tatsache
(ungeachtet, ob sie aktenkundig war und von der Verwaltung übersehen wurde)
die Voraussetzungen der prozessualen Revision erfüllt sind (SVR 1997 EL Nr.
36 S. 108 Erw. 3c).

Damit ist die Frage der offensichtlichen Unrichtigkeit der Verfügung von
Oktober 1993 anhand des Sachverhalts zu beurteilen, wie er sich bis zu diesem
Zeitpunkt dargestellt hat.

2.3  Gemäss den von der IV-Stelle eingeholten Auszügen aus den individuellen
Konti der Versicherten erfolgte der letzte Eintrag im Jahr 1973 und im
Abklärungsbericht Haushalt vom 26. Juli 1993 wurde angegeben, dass die
Beschwerdegegnerin "immer nur im Haushalt tätig" gewesen sei. Mit Vorbescheid
vom 6. September 1993 teilte die Verwaltung der Versicherten mit, dass der
Anspruch auf Invalidenrente abgelehnt werden müsse, da eine Einschränkung im
Haushalt von nur 31 % vorliege, und es wurde ausgeführt, dass die
Invaliditätsbemessungsmethode für Nichterwerbstätige angewandt werde. Auf den
Vorbescheid hin führte der Ehemann der Versicherten mit Schreiben vom 10.
September 1993 aus, er sei "mit dem Resultat [der] Abklärung keineswegs
einverstanden" und diese entspreche "nicht der Realität", so dass eine
weitere Abklärung vorzunehmen sei. Dies bedeutet nur, dass die Versicherte
mit dem Resultat der Abklärung resp. der festgestellten Einschränkung im
Haushalt nicht einverstanden gewesen ist. Die IV-Stelle musste diesen Brief
in guten Treuen aber nicht dahin verstehen, dass sich die Beschwerdegegnerin
als Teilerwerbstätige angesehen hat, was allenfalls zu weiteren Abklärungen
und unter Umständen zur Anwendung der gemischten Bemessungsmethode geführt
hätte.

Damit konnte die Verwaltung aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden
Akten ohne weiteres davon ausgehen, dass die Beschwerdegegnerin auch im
Gesundheitsfall ausschliesslich im Haushalt tätig gewesen wäre und in der
Folge die Invalidität anhand der spezifischen Methode bemessen, was zu einem
rentenausschliessenden Invaliditätsgrad geführt hat. In der Folge liegt in
dieser Hinsicht keine zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung
von Oktober 1993 vor, so dass es an dieser Voraussetzung der Wiedererwägung
mangelt. Da die Versicherte bereits zu diesem Zeitpunkt auf die frühere
Teilerwerbstätigkeit hätte hinweisen können, liegen auch keine neuen
Tatsachen vor, die unverschuldeterweise nicht rechtzeitig geltend gemacht
werden konnten, weshalb eine prozessuale Revision ausgeschlossen ist (vgl.
Erw. 2.2 hievor).

2.4  Schliesslich ist zu prüfen, ob die Verwaltung im Jahre 1993 im Rahmen
des
Untersuchungsgrundsatzes (BGE 125 V 195 Erw. 2) überhaupt eine Abklärung des
Status vorgenommen hat oder ob sie einfach davon ausgegangen ist, die
Beschwerdegegnerin sei auch im Gesundheitsfall nur im Haushalt tätig. Im
letztgenannten Fall hätte sie ihre Pflicht zur Sachverhaltsabklärung
verletzt, was eine Nichtanwendung massgeblicher Verfahrensbestimmungen
darstellen würde und damit zu einer zweifellosen Unrichtigkeit der Verfügung
führen könnte (vgl. Daniel Jacobi, Der Anspruch auf Wiedererwägung von
Verfügungen in der Sozialversicherung, ZBJV 2002, S. 467). Ob eine Verletzung
des Untersuchungsgrundsatzes die Grundlage einer zweifellosen Unrichtigkeit
sein kann, muss hier jedoch nicht entschieden werden, da nicht mit dem im
Sozialversicherungsrecht notwendigen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen) erstellt ist, dass
die IV-Stelle ihre Abklärungspflicht verletzt hat: Im Abklärungsbericht vom
26. Juli 1993 hat die Abklärungsperson nämlich auf der ersten Seite mit
Schreibmaschine im Fliesstext angegeben, die Versicherte sei "immer nur im
Haushalt tätig" gewesen. Diese Auskunft kann jedoch nur aufgrund einer
entsprechenden Frage erfolgt sein, so dass die Verwaltung ihrer
Untersuchungspflicht in dieser Hinsicht genügend nachgekommen ist; im Sinne
der Mitwirkungspflicht (BGE 125 V 195 Erw. 2) wäre es an der
Beschwerdegegnerin gelegen, bei der Beantwortung dieser Frage auf allfällige
frühere Nebenerwerbe hinzuweisen. Es kann somit offen bleiben, weshalb auf
der zweiten Seite des Abklärungsberichtes die Frage nach einer
Erwerbstätigkeit ohne Behinderung als einzige von Hand (und nicht mit
Schreibmaschine) angekreuzt worden ist.

Damit ist die ursprüngliche Verfügung von Oktober 1993 auch in dieser
Hinsicht nicht zweifellos unrichtig.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
kantonalen Versicherungsgerichts des Wallis vom 19. April 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonalen Versicherungsgericht des
Wallis, der Ausgleichskasse des Kantons Wallis und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 30. August 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i.V.