Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 280/2004
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I 280/04

Urteil vom 5. Januar 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber
Ackermann

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

L.________, Beschwerdegegnerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Herbert Brogli, Marktplatz 4, 9004 St. Gallen,

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 17. März 2004)

Sachverhalt:

A.
L. ________, geboren 1962, arbeitete von 1985 bis zur Kündigung per April
2002 für die Firma X.________. Am 23. August 2001 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an, worauf die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen je einen Bericht der Arbeitgeberin vom 17. September 2001 und der
Hausärztin Frau Dr. med. K.________, Ärztin für Allgemeine Medizin, vom 9.
Februar 2002 (mit medizinischen Vorakten) einholte. Im Weiteren veranlasste
die Verwaltung eine Begutachtung in der Medizinischen Abklärungsstelle
(MEDAS) des Spitals Y.________ (Expertise vom 20. Februar 2003 mit
rheumatologischem Fachgutachten vom 6. Januar 2003 und psychiatrischem
Fachgutachten vom 7. Januar 2003). Mit Verfügung vom 4. April 2003 lehnte die
IV-Stelle das Rentenbegehren ab, da L.________ die angestammte Tätigkeit
weiterhin zu 75 % zumutbar und eine rentenbegründende Invalidität somit nicht
ausgewiesen sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 7. Juli 2003
fest, nachdem sie einen Bericht der Klinik Z.________ vom 20. Mai 2003 zu den
Akten genommen hatte.

B.
Die dagegen unter Beilage eines psychiatrischen Berichts des Dr. med.
E.________, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Akupunktur, vom 27.
November 2003 erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 17. März 2004 gut. Das kantonale Gericht ging
von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % aus und sprach L.________ nach
Durchführung des Einkommensvergleichs eine halbe Invalidenrente zu.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche
Entscheid aufzuheben.

L. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während die IV-Stelle deren Gutheissung beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2004 ist die 4. IVG-Revision in Kraft getreten. Weil in
zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die
bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben
(BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei
der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (7. Juli 2003) eingetretenen
Sachverhalt abstellt (RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101), sind im vorliegenden Fall
die bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Bestimmungen anwendbar.

1.2 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der
Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art.
28 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2003 geltenden Fassung), die Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) sowie den Rentenbeginn (Art. 29
IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Die Beschwerdeführerin hat sich bereits im Jahr 2001 bei der
Invalidenversicherung angemeldet; damit ist teilweise ein rechtserheblicher
Sachverhalt zu beurteilen, der sich vor dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1.
Januar 2003 verwirklicht hat. Nach BGE 130 V 329 kann in
intertemporalrechtlicher Hinsicht aus Art. 82 Abs. 1 ATSG nicht etwa der
Umkehrschluss gezogen werden, dass für die Anwendbarkeit materiellrechtlicher
Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im Zeitpunkt seines
In-Kraft-Tretens noch nicht festgesetzter Leistungen einzig der
Verfügungszeitpunkt ausschlaggebend sei. Vielmehr sind - von hier nicht
interessierenden Ausnahmen abgesehen - die übergangsrechtlichen Grundsätze
massgebend, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen
die Ordnung anwendbar erklären, welche zur Zeit galt, als sich der zu
Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat. Im vorliegenden Fall ist
daher bei der Bestimmung des streitigen Rentenanspruchs (zumindest für den
Zeitraum bis 31. Dezember 2002) auf die damals geltenden Bestimmungen des IVG
abzustellen; dies betrifft namentlich - bezüglich des Invaliditätsbegriffs -
Art. 4 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) und
- bezüglich des Umfangs eines allfälligen Rentenanspruchs - Art. 28 Abs. 1
und 1bis IVG (Letzterer aufgehoben per 1. Januar 2004) sowie - bezüglich der
Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode - Art. 28 Abs. 2
IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; BGE 130 V 445).
Für den Verfahrensausgang ist dies indessen insofern von untergeordneter
Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen Umschreibungen der Arbeitsunfähigkeit
(Art. 6 ATSG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), der Invalidität (Art. 8
ATSG) sowie des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) den bisherigen von der
Rechtsprechung im Invalidenversicherungsbereich entwickelten Begriffen und
Grundsätzen entsprechen und daher mit dem In-Kraft-Treten des ATSG keine
substanzielle Änderung der früheren Rechtslage verbunden war (BGE 130 V 343).

2.
Streitig ist die Höhe des Invaliditätsgrades und in diesem Zusammenhang vor
allem die Frage des Umfangs der zumutbaren Arbeitsfähigkeit.

2.1 Die Vorinstanz geht in Würdigung aller Umstände von einer
"Gesamtarbeitsunfähigkeit" von 50 % aus; es ergäbe sich "als Gesamtbild eine
psychisch und physisch beeinträchtigte Beschwerdeführerin". In dieser
Hinsicht würde sich der Bericht des Dr. med. E.________ von November 2003
"nahtlos in die früheren Berichte anderer Fachstellen und Ärzte" einreihen,
obwohl dessen Ausführungen erst Monate nach dem Einspracheentscheid erstellt
worden seien und deshalb grundsätzlich nicht mehr in die Beurteilung
einfliessen dürften. In der Folge bejaht das kantonale Gericht den Anspruch
auf eine halbe Rente.

Das Beschwerde führende BSV ist demgegenüber der Ansicht, es sei auf die
überzeugende Expertise der MEDAS von Februar 2003 abzustellen und von einer
Arbeitsfähigkeit von 75 % auszugehen. Die Beurteilung des Dr. med. E.________
von November 2003 sei dagegen durch die subjektiven Beschwerden und die
Untersuchungsbefunde nicht belegt; weiter habe dieser Arzt invaliditätsfremde
Merkmale berücksichtigt, nicht alle Vorakten gekannt und sich nicht genügend
mit dem Gutachten der MEDAS auseinandergesetzt.

Die Beschwerdegegnerin schliesslich lässt unter anderem darauf hinweisen,
dass die Ausführungen der MEDAS nicht nachvollzogen werden könnten, würden
doch im Ergebnis die somatoformen Schmerzstörungen nicht berücksichtigt,
obwohl im Gutachten stehe, dass die Einschränkung bezüglich somatoformer
Schmerzstörung in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im rheumatologischen
Fachgutachten enthalten sei.

2.2 Die Ärzte der MEDAS diagnostizieren im Gutachten vom 20. Februar 2003
eine depressive Episode, gegenwärtig in Teilremission und gegenwärtig
leichten Grades (ICD-10 F32.1), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung
(ICD-10 F45.4), ein unspezifisches chronisches lumbovertebral betontes teils
wechselnd multilokuläres Schmerzsyndrom mit unspezifischer
Schmerzausstrahlung ins linke Bein (ICD-10 M54.4), beginnende Coxarthrosen
beidseits sowie eine Thoracic outlet-Symptomatik links. Im Rahmen der
multidisziplinären Konsenskonferenz erachteten die Gutachter die
Beschwerdegegnerin in der bisherigen wechselbelastenden leichten Arbeit als
zu 75 % arbeitsfähig; die Einschränkung von 25 % erfolge aus psychiatrischer
Sicht infolge der emotionalen und konzentrativen Minderbelastbarkeit.

Das Gutachten der MEDAS vom 20. Februar 2003 ist für die streitigen Belange
umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die
geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden;
zudem ist es in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der
medizinischen Situation einleuchtend und enthält begründete
Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Somit kommt dieser Expertise
grundsätzlich volle Beweiskraft zu. Dagegen vermag der Bericht des Dr. med.
E.________ vom 27. November 2003 - welcher den Zustand der Beschwerdegegnerin
seit Februar 2001 und damit bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides im
Juli 2003 (RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101) beschreibt und daher hier anwendbar
ist - weder zu einer anderen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu führen, noch
Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ausführungen zu wecken (vgl. BGE 125 V 353
Erw. 3b/bb): Erstens standen dem Arzt nicht alle Vorakten zur Verfügung,
sondern nur das Gutachten der MEDAS (in welchem zwar die restlichen
medizinischen Akten zusammengefasst sind, was jedoch eine Berücksichtigung
der Originalquellen nicht ersetzen kann); schon aus diesem Grund kann im
Übrigen nicht entscheidwesentlich auf die Einschätzung dieses Arztes
abgestellt werden. Zweitens liefert Dr. med. E.________ für die Einschätzung
der Arbeitsfähigkeit von 50 % keine eigentliche Begründung, sondern er hat
"keine Zweifel" an einer Einschränkung in diesem Umfang und verweist auf -
ihm nicht direkt vorliegende - andere Arztberichte, welche eine
Arbeitsfähigkeit in diesem Ausmass annehmen. Drittens erachtet er
"Überlegungen, dass ... Arbeitstätigkeiten bis zu 75 % zugemutet werden
könnten", als "rein theoretisch und aus medizinisch-praktischer Hinsicht
nicht durchführbar". Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht
vorgebracht wird, arbeitete die Versicherte zum Zeitpunkt der Begutachtung
durch die MEDAS jeweils vier Stunden am Morgen und erledigte den Haushalt; in
dieser Hinsicht hat die Beschwerdegegnerin dem psychiatrischen Gutachter der
MEDAS zwar angegeben, diese Arbeit strenge sie sehr stark an, dennoch gab sie
nicht an, sie vermöge diese Belastung nicht durchzustehen (was denn
offensichtlich auch nicht der Fall gewesen ist; abgesehen davon, dass nicht
allein auf eine solche Aussage abzustellen wäre). Damit kann nicht davon
ausgegangen werden, dass eine Arbeitsfähigkeit von 75 % rein theoretisch und
praktisch nicht durchführbar sei, auch wenn dafür unter Umständen eine
erhebliche Willensanstrengung notwendig ist (vgl. BGE 102 V 165; AHI 2001 S.
228 Erw. 2b mit Hinweisen).

Die Beschwerdegegnerin bezweifelt die Schlüssigkeit der Expertise der MEDAS,
denn nach ihrer Auffassung widersprechen sich das psychiatrische und das
rheumatologische Teilgutachten, da im psychiatrischen Fachgutachten davon
ausgegangen werde, dass Einschränkungen bezüglich somatoformer
Schmerzstörungen bereits im rheumatologischen Gutachten enthalten seien,
obwohl dort nichts Derartiges stehe. Die Versicherte übersieht jedoch, dass
im rheumatologischen Teilgutachten nur für nicht rückenbelastende Tätigkeiten
eine signifikante Reduktion der Arbeitsfähigkeit verneint wird, während -
"wie von den meisten Gutachtern konsensual in derartigen Fällen attestiert" -
wegen der geklagten Schmerzen eine deutlich verminderte Belastbarkeit des
Bewegungsapparates und insbesondere des Achsenskelettes angenommen wird.

Damit ist auf die Einschätzung der Experten der MEDAS abzustellen und von
einer Arbeitsfähigkeit von 75 % in leidensangepassten Tätigkeiten (wozu auch
die angestammte Arbeit zählt) auszugehen. Das Gutachten der MEDAS vom 20.
Februar 2003 war im Zeitpunkt des Einspracheentscheides (7. Juli 2003) knapp
fünf Monate alt und deshalb aktuell. Eine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes ist dagegen schon aus dem Grund nicht anzunehmen, weil
Dr. med. E.________ in seinem Bericht vom 27. November 2003 klar festhält,
der Zustand der Versicherten sei seit Februar 2001 stationär, was eine -
kurzzeitig eingetretene - Verschlechterung ausschliesst. Der rechtserhebliche
Sachverhalt ist genügend abgeklärt und die in der Vernehmlassung der
Beschwerdegegnerin eventualiter beantragte psychiatrische Oberbegutachtung in
der Folge nicht notwendig.

2.3 Bei der Ermittlung des Einkommens ohne Gesundheitsschaden
(Valideneinkommen) ist entscheidend, was die Versicherte im massgebenden
Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als
Gesunde tatsächlich verdienen würde. Die Einkommensermittlung hat so konkret
wie möglich zu erfolgen; daher ist in der Regel vom letzten Lohn, den sie vor
Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt hat, auszugehen (RKUV 1993 Nr. 168
S. 100 f. Erw. 3b; Urteil H. vom 4. April 2002, I 446/01). Gemäss dem Bericht
der Arbeitgeberin vom 17. September 2001 würde die Versicherte ohne
Gesundheitsschaden einen Monatslohn von Fr. 4'000.- erzielen, was ein
Jahresgehalt von Fr. 52'000.- ergibt.

Die Ärzte der MEDAS erachten die Beschwerdegegnerin nicht in ihrer
angestammten Arbeit, sondern in der - für den gleichen Arbeitgeber - zuletzt
ausgeübten und dem Leiden angepassten Arbeit als 75 % arbeitsfähig. Für diese
(damals vollzeitig ausgeübte) Arbeit hat die Versicherte im Jahr 2001 ein
Entgelt von Fr. 3'600.- erhalten, was einem Jahreslohn von Fr. 46'800.-
entspricht und als Einkommen nach Eintritt des Gesundheitsschadens
(Invalideneinkommen) heranzuziehen ist. Bei einer Arbeitsfähigkeit von 75 %
beträgt das massgebende Invalideneinkommen Fr. 35'100.-, was bei einem
Valideneinkommen von Fr. 52'000.- zu einem rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad von 33 % führt. Im Rahmen der Invaliditätsbemessung kann
hier auf eine Berücksichtigung der Lohnentwicklung bis zu einem allfälligen
Rentenbeginn resp. bis zum Einspracheentscheid (vgl. BGE 129 V 222)
verzichtet werden, da sich sowohl Validen- wie Invalideneinkommen nach den
Verhältnissen des gleichen Betriebes richten.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Das BSV als obsiegende Behörde hat
keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 OG in Verbindung mit Art.
159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 17. März 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse Gewerbe, St. Gallen und der IV-Stelle des Kantons
St. Gallen zugestellt.

Luzern, 5. Januar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: