Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 26/2004
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I 26/04

Urteil vom 17. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiberin
Hofer

R.________, 1946, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christof
Tschurr, Bellerivestrasse 59, 8008 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 26. November 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1946 geborene R.________ litt nach einer im zweiten Lebensjahr
durchgemachten Diphtherie an regelmässig wiederkehrenden
Mittelohrentzündungen, die zu einer Perforation des Trommelfells mit
Hörschädigung führten. In den Jahren 1980 und 1981 wurde eine chirurgische
Behandlung mit Einsetzen eines Trommelfellimplantates erforderlich. Dieses
musste 1987 ersetzt werden. Im Jahre 1993 wurde infolge einer Zystenbildung
eine weitere Operation mit Trommelfellimplantat notwendig. Alle vier
Operationen gingen zu Lasten der Krankenversicherung. Nachdem im Jahre 2001
wegen teilweise ausgestossener Mittelohrprothese erneut Probleme aufgetaucht
waren, empfahl Prof. Dr. med. F.________ vom Zentrum für Hals-, Nasen-,
Ohren- und plastische Gesichtschirurgie der Klinik X.________ eine
Tympanoplastik mit Gehörknöchelchenrekonstruktion. Nach den Angaben der
Versicherten soll dabei wegen der besseren Verträglichkeit anstelle des
bisherigen Plastik-Implantats ein solches aus Titan zur Anwendung kommen. Da
die Krankenkasse Concordia mit Schreiben vom 7. Februar 2003 die
Kostenübernahme mit der Begründung abgelehnt hatte, bei Prof. Dr. med.
F.________ handle es sich um einen Leistungserbringer im Ausstand, meldete
sich R.________ am 3. März 2003 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich holte den Bericht des
Prof. Dr. med. F.________ vom 3. April 2003 ein. Mit Verfügung vom 23. Mai
2003 verneinte sie ihre Leistungspflicht für die Ohrenoperation, da es sich
bei diesem Eingriff um die Behandlung des Leidens an sich und somit nicht um
eine Eingliederungsmassnahme im Sinne der Invalidenversicherung handle. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 27. August 2003 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 26. November 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ beantragen, die IV-Stelle
sei zu verpflichten, die Tympanoplastik-Operation mit
Gehörknöchelchenrekonstruktion zu übernehmen; eventuell sei die Sache zur
näheren Abklärung und neuem Entscheid an die Verwaltung zurückzuweisen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die massgebenden Gesetzesbestimmungen über den
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und
auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 8 Abs. 3 lit. a in Verbindung
mit Art. 12 Abs. 1 IVG) sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung (BGE 120 V
279 Erw. 3a, 115 V 194 Erw. 3, 112 V 349 Erw. 2, 105 V 19 und 149, 104 V 82,
102 V 42) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Beizufügen ist, dass Art. 12 Abs. 2 IVG dem Bundesrat die Befugnis
erteilt, die Massnahmen gemäss Abs. 1 von jenen, die auf die Behandlung des
Leidens an sich gerichtet sind, abzugrenzen. Von dieser Befugnis hat er in
Art. 2 IVV teilweise Gebrauch gemacht. Nach Art. 2 Abs. 1 IVV gelten als
medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG unter anderem chirurgische
Vorkehren, die eine als Folgezustand eines Geburtsgebrechens, einer Krankheit
oder eines Unfalls eingetretene Beeinträchtigung der Körperbewegung, der
Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit zu beheben oder zu mildern
trachten, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder
vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Die Massnahmen müssen nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein und den
Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2
Abs. 1 IVV). Damit beschränken sich die Massnahmen auf Folgezustände von
Geburtsgebrechen, Krankheit und Unfall, also auf stabile oder mindestens
relativ stabilisierte Folgen von Gesundheitsschäden der erwähnten Ätiologie,
soweit körperliche oder psychische Verhältnisse überhaupt stabil sein können
(BGE 97 V 47 Erw. 1b). Entscheidend ist die Zielrichtung der medizinischen
Vorkehr, d.h. ob sie auf die Behandlung des Geburtsgebrechens, der Krankheit
oder der Verletzung gerichtet ist, oder auf die davon herrührende und zu
unterscheidende Beeinträchtigung der Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung
oder der Kontaktfähigkeit, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu
verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Ulrich
Meyer-Blaser, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, Zürich 1997, S.
80). Art. 2 Abs. 4 IVV zählt beispielsweise Vorkehren auf, die nicht als
medizinische Massnahmen gelten, nämlich die Behandlung von Verletzungen,
Infektionen sowie inneren und parasitären Krankheiten.

2.
2.1 Nach der Rechtsprechung stellt die chronische Mittelohrentzündung eine
Infektionskrankheit dar, deren Behandlung in den Bereich der
Krankenversicherung fällt. Das diese Krankheit manchmal begleitende
Cholesteatom ist ein fortschreitendes Leiden. Die bei der operativen
Entfernung eingesetzte Tympanoplastik (Rekonstruktion des Mittelohres) mit
dem Zweck, das Mittelohr zu schützen und das höchstmögliche Hörvermögen
wiederherzustellen, bildet ein Ganzes, dessen Hauptzweck in der Behandlung
des Leidens an sich besteht (ZAK 1969 S. 305).

2.2 Gemäss bundesamtlichem Kreisschreiben über die medizinischen
Eingliederungsmassnahmen (KSME) kann eine Tympanoplastik in seltenen Fällen
als IV-Massnahme übernommen werden, wenn kein zeitlicher oder sachlicher
Zusammenhang mit einer Krankheit oder einem Unfall besteht und die Massnahme
geeignet ist, das Hörvermögen und damit die Erwerbsmöglichkeit des
Versicherten wesentlich zu verbessern (Rz 1055 KSME). Nach Rz 57 KSME besteht
Anspruch auf medizinische Eingliederung für eine Tympanoplastik nach
Mittelohreiterung, wenn während mindestens eines Jahres ohne ärztliche
Behandlung kein Ohrfluss mehr bestand. Eine Tympanoplastik zur Heilung einer
chronischen Mittelohreiterung oder eines Cholesteatoms ist dagegen immer zur
Behandlung des Leidens an sich zu zählen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, bei der anstehenden Operation gehe es
vorab darum, die durch die bestehende Unverträglichkeit des herkömmlichen
Plastik-Implantats hervorgerufenen Beschwerden zu korrigieren, indem ein
Implantat aus Titan eingesetzt werden soll, von welchem erhofft werde, dass
es sich mit dem Knochen besser verbinde. Es handle sich somit um die
Wiederherstellung eines Zustandes, wie er sich unter anderem nach der letzten
Operation im Jahre 1993 präsentiert habe, bevor es aufgrund labilen
Geschehens (Unverträglichkeit des Implantates mit dem Knochengewebe und
daraus folgendem Lösen und Verschieben) wieder zu Beeinträchtigungen und
gesundheitlichen Problemen gekommen sei. Der operative Eingriff stehe in
einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem Grundleiden und somit mit der
Behandlung einer Krankheit.

3.2 Die Beschwerdeführerin wendet ein, die Mittelohrentzündungen seien seit
1981 ausgeblieben, weshalb es bei der erneut notwendig gewordenen Operation
nicht um die Behandlung des Leidens an sich gehe. Vielmehr seien die
Voraussetzungen einer Kostenübernahme zu Lasten der Invalidenversicherung im
Sinne von Rz 57 KSME erfüllt. Die Beschwerden, die nunmehr behoben werden
sollten, seien nicht durch die Unverträglichkeit des Plastik-Implantats
hervorgerufen worden, sondern beruhten auf dem seit 1981 stabilen
Defektzustand der Perforation des Trommelfells. Die Massnahme sei unmittelbar
auf die berufliche Eingliederung gerichtet, zumal die Versicherte wegen des
Hörverlustes ihre Arbeitsstelle habe aufgeben müssen.

4.
4.1 Prof. Dr. med. F.________ diagnostizierte im Arztbericht vom 3. April 2003
einen Status nach viermaliger Operation einer Otitis media chronica links mit
totaler Schallleitungsschwerhörigkeit. Bei der Untersuchung fand er eine
zentrale Perforation des linken Trommelfells mit teilweise ausgestossener
Mittelohrprothese. Er empfahl daher eine Tympanoplastik mit
Gehörknöchelchenrekonstruktion. Mit diesem Eingriff könne das Gehör wieder
normalisiert werden.

4.2 Zur Frage, ob und gegebenenfalls seit wann die chronische
Mittelohrentzündung mit Ohrausfluss saniert ist, äussert sich Prof. Dr. med.
F.________ nicht. Gemäss den unbestritten gebliebenen Ausführungen der
Beschwerdeführerin ist jedoch davon auszugehen, dass diesbezüglich seit
mehreren Jahren keine Probleme mehr aufgetreten sind. Selbst wenn somit mit
Bezug auf die Otitis von einem stabilen Defektzustand auszugehen ist, gilt es
zu berücksichtigen, dass es am fraglichen Ohr bereits in den Jahren 1987 und
1993 zu Nachoperationen mit Neueinsetzen eines Trommelfellimplantats gekommen
war. Der neuerliche Eingriff wird infolge der teilweise ausgestossenen
Mittelohrprothese und der damit einhergehenden Beeinträchtigung des Gehörs
erforderlich. Der Vorinstanz ist - entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung - darin beizupflichten,
dass es sich bei der Unverträglichkeit und Verschiebung des Implantats um
labiles Krankheitsgeschehen handelt. Angesichts der bereits früher
aufgetretenen Komplikationen ist der medizinische Erfolg und damit auch der
invalidenversicherungsrechtlich massgebende Eingliederungserfolg zudem
hinsichtlich der Dauerhaftigkeit mit erheblichen Risiken behaftet. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher abzuweisen, ohne dass es der
beantragten ergänzenden Sachverhaltsabklärungen bedarf und ohne dass zu
prüfen ist, ob die Massnahme nach bewährter Erkenntnis der medizinischen
Wissenschaft angezeigt ist und den Eingliederungserfolg in einfacher und
zweckmässiger Weise anstrebt (vgl. BGE 115 V 195 Erw. 4), woran der Hinweis
der Krankenkasse im Schreiben vom 7. Februar 2003, die vorgesehene
Operationsmethode sei beim Bundesamt für Sozialversicherung als umstrittene
Leistung angemeldet, Zweifel aufkommen lässt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 17. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: