Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 266/2004
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I 266/04

Urteil vom 14. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Schmutz

O.________, 1950, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Procap,
Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 2. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1950 geborene, in Ungarn zur Logopädin ausgebildete O._______ ist
berechtigt, in den Kantonen X.________ und Y.________ als Sonderschullehrerin
tätig zu sein. Sie leidet seit 1986 an Rückenschmerzen. Die Ärzte des Spitals
Z.________, Klinik für orthopädische Chirurgie, diagnostizierten 1998 und
1999 ein chronisches lumbospondylogenes bzw. lumbovertebrales Schmerzsyndrom
bei schwergradiger Spondylolyse bzw. Olisthesis L5/S1. Sie zogen eine
stabilisierende Operation in Betracht, was die Patientin jedoch ablehnte
(Berichte vom 21. Dezember 1998 und 22. Oktober 1999). Am 1. September 1999
meldete sich O.________ zum Rentenbezug bei der Invalidenversicherung an. Sie
gab an, 1996 eine Stelle als Sozialpädagogin verloren zu haben, weil die
wegen der Belastung aufgetretenen Rückenschmerzen zur Arbeitsunfähigkeit
geführt hätten. Sie befürchte, aus dem gleichen Grund nun auch die Stelle als
Aktivierungstherapeutin im Alters- und Pflegeheim I.________ zu verlieren,
weshalb sie das Angebot des Arbeitgebers annehmen wolle, das Arbeitspensum
auf 40 % zu reduzieren. Mit Schreiben vom 22. Februar 2000 wurde ihr auch
diese Stelle gekündigt, wobei darauf hingewiesen wurde, der Grund dafür sei
einzig die durch die Rückenprobleme bedingte fehlende Einsatzfähigkeit. Nach
medizinischen und berufsberaterischen Abklärungen und nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn mit Verfügung
vom 16. Januar 2002 sowohl den Anspruch auf berufliche Massnahmen wie auch
auf die Ausrichtung einer Invalidenrente ab. Zur Begründung wurde ausgeführt,
die Versicherte besitze eine kantonale Anerkennung als Sonderschullehrerin;
auch einer Lehrerin mit Rückenbeschwerden sei die Tätigkeit mit
Oberstufenschülern zumutbar.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn mit Entscheid vom 2. April 2004 in dem Sinne gut, dass es die
Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit sie
Arbeitsvermittlungsmassnahmen durchführe.

C.
O. ________ lässt, wiederum vertreten durch den Procap, Schweizerischer
Invaliden-Verband, Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag,
Verfügung und kantonaler Entscheid seien insoweit aufzuheben, als der
Anspruch der Versicherten auf Rentenleistungen betroffen sei. Die Sache sei
an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie den Invaliditätsgrad bestimme und
anschliessend über den Rentenanspruch neu verfüge.

Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die
IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2002
gültig gewesenen Fassung), den Anspruch auf Umschulung und Arbeitsvermittlung
als berufliche Massnahme (Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b in Verbindung mit
Art. 17 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art.
28 Abs. 1 und 1bis IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2003 gültig
gewesenen Fassung), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten (Einkommensvergleichsmethode [Art. 28 Abs. 2 IVG in der hier
anwendbaren, bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung; BGE 104 V 136 Erw. 2a
und b]) sowie die Rechtsprechung zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 105 V 158 Erw.
1) richtig dargelegt. Gleiches gilt bezüglich der (Nicht-)Anwendbarkeit des
am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000. Darauf wird
verwiesen. Zu ergänzen ist, dass vorliegend die mit der 4. IV-Revision auf
den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Bestimmungen nicht anwendbar sind.

3.
Die Versicherte erklärt sich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gesundheitlich bedingt nicht mehr in der Lage, eine Umschulung durchzustehen.
An dem ihr im kantonalen Verfahren zugesprochenen Anspruch auf
Arbeitsvermittlung hält sie fest. Dieser wird von der Verwaltung nicht mehr
bestritten. Streitig und zu prüfen bleibt der Anspruch auf eine
Invalidenrente.

3.1  Im Arztbericht vom 10. November 1999 gab der behandelnde Arzt Dr. med.
M.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin, an, die Beschwerdeführerin
leide an einer chronischen persistierenden und rezidivierenden
Wirbelsäulenerkrankung bei schwergradiger Spondylolisthesis (Wirbelgleiten)
L5/S1, mechanischer Instabilität eines Wirbelsäulensegmentes, Hyperlordose
der Lendenwirbelsäule sowie Verbrauchs- und Degenerationserscheinungen im
Zwischenwirbelbereich L5/S1. Bei den chronischen Rückenschmerzen der
Versicherten seien langes Sitzen oder Stehen und körperliche Arbeit (vor
allem Heben) starke Belastungen und damit Hindernisse für eine dauernde
Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Dr. med. C.________ vom
Rehabilitationszentrum des Spitals S.________ erläuterte im Arztbericht vom
6. Juni 2000, dass spezialärztliche Untersuchungen radiologisch eine gute
mechanische Stabilität nachgewiesen hätten, was gegen ein operatives Vorgehen
spreche. Die Patientin sei in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als
Aktivierungstherapeutin in einem Alters- und Pflegeheim zu 100 %
arbeitsunfähig. Dies gelte für jede schwere und mittlere Arbeit. Leichte
Arbeiten seien ihr zumutbar. Er schlug die Umschulung auf einen Beruf mit
leichter Arbeitsbelastung vor. Für den Berufsberater P.________, Psychologe
FSP, erübrigten sich jedoch berufliche Massnahmen, weil die Versicherte als
Heilpädagogin eine leichte, den Rücken schonende und wechselnd belastende
Tätigkeit ausüben könne. Mit einer Umschulung sei die Erwerbsfähigkeit nicht
zu steigern. Die Versicherte sei stark auf ihre Schmerzen fixiert. Es sei ihr
nicht gelungen, angepasste Strategien zur Bewältigung der Schmerzproblematik
zu erarbeiten. Er schlug vor, zur Beurteilung der Eingliederungsfähigkeit
noch ein psychiatrisches Gutachten einzuholen (Bericht vom 2. Mai 2001). Die
IV-Stelle beauftragte Dr. med. H.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, Bern, mit der Erstellung eines solchen. Für den Experten
wirkte die Versicherte nicht auf die Schmerzen fixiert und es lag keine
psychosomatische Störung vor. Aus psychiatrischer Sicht bestand keine
Arbeitsunfähigkeit (Gutachten vom 30. Juli 2001).

3.2  Damit ist erstellt, dass die Beschwerdeführerin bis zum Verfügungserlass
im Januar 2002 nicht unter einer psychosomatischen Störung oder psychischen
Beschwerden litt, jedoch an erheblichen orthopädischen Rückenbeschwerden.
Dazu unterbreitete die Vorinstanz Dr. med. C.________ in Ergänzung zu seinem
Bericht vom 6. Juni 2000 die folgenden Fragen zur Beantwortung (Verfügung vom

31. Januar 2003):

"a) Beurteilen Sie die Tätigkeit als "schulische Heilpädagogin" vom
medizinischen Standpunkt aus als leicht, rückenschonend und wechselbelastend
und der Beschwerdeführerin als voll zumutbar?

b) Falls Frage a) mit "nein" beantwortet wird: In welchem Umfang ist die
Versicherte als "schulische Heilpädagogin" im massgebenden Zeitpunkt (Januar
2002) arbeits- und leistungsfähig? Welche Tätigkeiten sind ihr als
"schulischer Heilpädagogin" nicht oder nur beschränkt zumutbar?"
Dr. med. C.________ erklärte im Bericht vom 6. Februar 2003, die Frage über
die in der freien Wirtschaft tatsächlich geforderte Leistungsfähigkeit einer
"schulischen Heilpädagogin" könne nicht von einem medizinischen Standpunkt
aus beantwortet werden. Aus dieser Sicht sei einzig zu sagen, dass die
Beschwerdeführerin nur noch leichte, rückenschonende und wechselnd belastende
Arbeitstätigkeiten ausführen könne, und vom Heben und Tragen von Lasten von
mehr als 5 Kilo sowie von Arbeiten in gebückter Haltung zu dispensieren sei.
Auf seinen Arztbericht vom 6. Juni 2000 zurückkommend präzisierte er, damals
zwar angegeben zu haben, dass der Beschwerdeführerin leichte Arbeiten
zumutbar seien. Über den Umfang einer solchen Tätigkeit habe er sich aber
nicht geäussert, weil dies einer standardisierten Erfassung der funktionellen
Leistungsfähigkeit oder eines Arbeitsversuches bedurft hätte.

3.3  Aus den Ausführungen von Dr. med. C.________ im vorinstanzlichen
Verfahren ergibt sich insgesamt, dass er die Leistungsfähigkeit der
Beschwerdeführerin möglicherweise um bis zu 60 % eingeschränkt einschätzt.
Zwar mangelte es der Vorinstanz bei seinen Aussagen an einer medizinischen
Begründung, doch sie unterliess es, nach einer solchen nachzufragen.
Stattdessen kam sie zum Schluss, es sei überwiegend wahrscheinlich, dass die
Beschwerdeführerin für leichte leidensangepasste Tätigkeiten voll
arbeitsfähig sei. Nach den beiden Berichten des Orthopäden Dr. med.

C. ________ ist dies jedoch nicht gesichert. Die zu einem Entscheid in dieser
Frage notwendigen klaren medizinischen Angaben fehlen. Ausser dem Psychiater
Dr. med. H.________ hat sich bisher nie ein Arzt zum Ausmass der
Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin in einer leidensangepassten Tätigkeit
geäussert.

3.4  Bei dieser Aktenlage drängt sich die Einholung eines orthopädischen
Gutachtens auf, welches sich mit den verfügbaren Berichten befassen und
Stellung nehmen wird, inwiefern sich der bei der Beschwerdeführerin
vorliegende Gesundheitsschaden auf ihre Arbeitsfähigkeit, eine
Arbeitsvermittlung oder eine Umschulung auswirkt. Dazu ist die Sache an die
Verwaltung zurückzuweisen. Nach den medizinischen Abklärungen wird zu
ermitteln sein, ob der Versicherten die Tätigkeit als "schulische
Heilpädagogin" oder eine andere für sie in Betracht fallende Tätigkeit (z.B.
Schulsekretärin, Mitarbeiterin in einem Sozialdienst) zumutbar ist. Auf Grund
der Angaben in den Gesuchsakten ist nicht festzustellen, ob die
Beschwerdeführerin solchen oder ähnlichen beruflichen Anforderungen
ausreichend gerecht werden kann. Danach wird die IV-Stelle erneut über den
Anspruch auf  Rente befinden. Der im vorinstanzlichen Verfahren zuerkannte
Anspruch auf Arbeitsvermittlung hat weiterhin Bestand.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 2. April 2004
und die Verfügung vom 16. Januar 2002 (ausser im Punkte der
Arbeitsvermittlung) aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle
Solothurn zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne
der Erwägung 3.4, neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung von Fr. 2'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: