Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 265/2004
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I 265/04

Urteil vom 30. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Hadorn

B.________, 1991, Beschwerdeführer, vertreten durch seine Eltern T.________
und D.________, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Vonesch,
Sempacherstrasse 6, 6003 Luzern,

gegen

IV-Stelle Nidwalden, Stansstaderstrasse 54, 6371 Stans, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Stans

(Entscheid vom 13. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 20. Dezember 2002 lehnte die IV-Stelle Nidwalden ein Gesuch
von B.________ (geb. am 11. Oktober 1991) um medizinische Massnahmen zur
Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Nidwalden mit Entscheid vom 13. Oktober 2003 ab.

C.
B. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es
seien ihm medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens zu
gewähren. Ferner verlangt er das Recht auf eine Replik.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer beantragt ein "Recht auf Replik", somit sinngemäss einen
zweiten Schriftenwechsel. Ein solcher wird nur ausnahmsweise angeordnet (Art.
110 Abs. 4 OG). Vorliegend besteht kein Anlass, einen solchen durchzuführen,
zumal der Versicherte sich zur Vernehmlassung des BSV nochmals äussern
konnte.

2.
Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen für
den Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen (Art. 13 Abs. 1 und 2
IVG; Art. 1 und 2 Abs. 1-3 GgV), insbesondere zur Behandlung des angeborenen
POS (Ziff. 404 GgV-Anhang), und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V
113) richtig dargelegt. Ferner trifft zu, dass das ATSG materiellrechtlich
nicht anwendbar ist. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen zu
Behandlung eines angeborenen POS.

3.1  In seiner Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige
Urteile) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass Ziff. 404
GgV-Anhang gesetzmässig ist. Demnach sind die rechtzeitig vor Vollendung des
9. Altersjahres erhobene Diagnose und der vor demselben Zeitpunkt liegende
Behandlungsbeginn Anspruchsvoraussetzungen für medizinische Massnahmen gemäss
der erwähnten Ziffer. Auf diese beiden Voraussetzungen kann nicht verzichtet
werden. Sie beruhen auf der empirischen Erfahrung, dass ein erst später
diagnostiziertes und behandeltes Leiden nicht mehr auf einem angeborenen,
sondern einem erworbenen POS beruht, welches nicht von der Invaliden-,
sondern von der Krankenversicherung zu übernehmen ist. Erfolgen Diagnose und
Behandlungsbeginn erst nach dem vollendeten 9. Altersjahr, besteht die
unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass ein erworbenes und kein angeborenes POS
vorliegt.

3.2  Im Lichte dieser Rechtsprechung hat die Invalidenversicherung vorliegend
keine Leistungen zu erbringen. Die Diagnose eines POS wurde nach den Akten
erstmals am 11. Februar 2002, somit nach vollendetem 9. Altersjahr, gestellt
(Bericht von Frau Dr. med. U.________, Kinderärztin FMH, vom 14. Mai 2002).
Wie die Vorinstanz unter sorgfältiger Würdigung der medizinischen Unterlagen
zutreffend erkannt hat, wurde der Versicherte zwar schon früher untersucht.
Die dabei erhobenen Befunde erfüllten jedoch die Diagnose eines POS nicht.

3.3  Der Beschwerdeführer lässt wie schon im kantonalen Prozess einwenden,
die
Diagnosen POS sowie ADHD und ADS seien identisch. Gemäss dem heutigen
Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft seien diese Leiden stets
genetisch bedingt und damit angeboren. Die Begrenzung der IV-Leistungspflicht
auf Fälle mit einer Diagnose vor vollendetem 9. Altersjahr sei daher nicht
mehr zeitgemäss. Hinzu komme, dass in der Familie des Versicherten gehäuft
Fälle von POS vorkämen, was ebenfalls auf eine genetische Ursache hinweise.
Ziff. 404 GgV-Anhang und die dazu ergangene Rechtsprechung seien daher zu
überdenken.

3.4  Zu einer Änderung des bisherigen Rechtsprechung besteht indessen kein
Anlass. Zunächst hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil L. vom
15. März 2004, I 572/03, unter Hinweis auf die medizinische Fachliteratur
festgehalten, dass die Diagnose eines ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms)
ohne Hyperaktivität nicht einem kongenitalen POS im Sinne von Ziff. 404
GgV-Anhang gleichgestellt werden könne. Soweit der Beschwerdeführer die
Diagnosen POS, ADS und ADHD als identisch betrachtet, kann ihm nicht gefolgt
werden. Sodann trifft auch die Behauptung, jedes POS sei genetisch bedingt
und damit stets angeboren, nicht zu. Im Urteil B. vom 9. August 2004, I
74/04, ging es um einen Fall, in welchem umstritten und auf Grund der sich
widersprechenden medizinischen Akten nicht klar war, ob das POS angeboren
oder erworben war. Die Möglichkeit eines erworbenen POS wurde in diesem
Urteil nicht etwa mit der Begründung verworfen, ein POS sei ohnehin immer
angeboren. Vielmehr tauchte eine derartige Behauptung im damaligen Prozess
gar nicht auf, auch nicht seitens der Ärzte. Dass ein POS immer angeboren
sein müsse, ist nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion somit nicht
erwiesen. Im Übrigen vermöchte es dem Beschwerdeführer selbst dann nicht zu
helfen, wenn sein Leiden wegen des bei der Mutter ebenfalls festgestellten
POS als angeboren anerkannt würde. Die Rechtsprechung lässt zwar den
nachträglichen Beweis zu, dass die Diagnose eines POS zutreffend war, jedoch
nur, wenn diese Diagnose als solche vor vollendetem 9. Altersjahr gestellt
worden ist (aber erst später beweismässig erhärtet wird; BGE 122 V 123 Erw.
3c/cc). Zudem wäre die Behandlung nach wie vor verspätet begonnen worden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Nidwalden, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Aus-gleichskasse
Nidwalden zugestellt.

Luzern, 30. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: