Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 242/2004
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I 242/04

Urteil vom 28. Juli 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Keel
Baumann

M.________, 1969, Beschwerdeführer, vertreten durch
lic. iur. Pollux L. Kaldis, Sozialversicherungs- und Ausländerrecht,
Solistrasse 2a, 8180 Bülach,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 10. März 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1969 geborene M.________ arbeitete seit Juli 1993 als Hilfsgipser bei der
E.________ AG. Am 25. Februar 1995 erlitt er bei einem Autounfall in Serbien
verschiedene Verletzungen, welche einen Aufenthalt im Spital in
V.________/Serbien, wo eine Ileozökalresektion vorgenommen wurde,
erforderlich machten. Nach der Rückkehr in die Schweiz erfolgte im April 1995
wegen starker Bauchschmerzen eine weitere Operation (laparaskopische
Adhäsiolyse mit anschliessender offener ausgedehnter Adhäsiolyse des
Dünndarms) im Spital X.________. Ab 17. Juli 1995 war der Versicherte wieder
zu 50 % und ab 1. August 1995 zu 100 % arbeitsfähig, bevor er sich im
Dezember 1995 einer weiteren laparoskopischen Adhäsiolyse unterziehen musste.
Während des sich daran anschliessenden, von Februar bis Juli 1996 dauernden
Arbeitsversuchs war M.________ zwei Monate (24. April bis 23. Juni 1996)
arbeitsunfähig. Nach Beendigung desselben sah sich der Versicherte ab
September 1996 nicht mehr in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Per
Ende September 1996 erhielt er von seiner Arbeitgeberin die Kündigung. Im
April 2001 nahm M.________ versuchsweise eine Erwerbstätigkeit als Lagerist
auf (Vollzeitpensum). Ab Juni 2001 arbeitete er zu einem Vollpensum als
Lagerist bei der P.________ AG.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) lehnte die Ausrichtung
von Taggeldern ab 2. Dezember 1996 ab mit der Begründung, M.________ sei
vollständig arbeitsfähig (Verfügung vom 17. Juni 1997, Einspracheentscheid
vom 9. Dezember 1997), welchen Entscheid das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau (Entscheid vom 23. Februar 2000) und letztinstanzlich das
Eidgenössische Versicherungsgericht (Urteil vom 23. Oktober 2001) mit der
Begründung fehlender Unfallkausalität der geklagten Beschwerden bestätigten.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau, bei welcher sich M.________ am 5. November
1997 zum Leistungsbezug angemeldet hatte, verneinte mit Verfügung vom 16.
Januar 2003 einen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung, woran
sie auf Einsprache des M.________ hin festhielt (Entscheid vom 30. Juli
2003).

B.
M.________ liess hiegegen Beschwerde erheben mit dem Antrag, der
Einspracheentscheid sei aufzuheben und es sei die IV-Stelle zu verpflichten,
über den Beginn und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit ein Gutachten einzuholen
sowie über den Rentenanspruch neu zu entscheiden, wobei im Sinne einer
vorsorglichen Massnahme zuerst über die Anordnung einer Begutachtung zu
befinden sei. Mit Entscheid vom 10. März 2004 wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ beantragen, der kantonale
Entscheid und die Verfügung (recte: der Einspracheentscheid) seien - unter
Entschädigungsfolgen - aufzuheben und es sei die Sache an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit diese ein psychiatrisches Gutachten einhole und
anschliessend über den Rentenanspruch befinde.
Die IV-Stelle enthält sich in ihrer Stellungnahme eines formellen Antrages.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente
der Invalidenversicherung in der Zeit bis zur Aufnahme einer vollzeitigen
Erwerbstätigkeit im Jahre 2001.

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmung über die Voraussetzungen und
den Umfang des Rentenanspruches (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung) und die Grundsätze zur Übereinstimmung des
Invaliditätsbegriffs in der Invaliden- und in der obligatorischen
Unfallversicherung (BGE 126 V 291 Erw. 2a mit Hinweisen) sowie zum Beweiswert
und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw.
3a mit Hinweis) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des

ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf Leistungen der
Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln
heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei einer Änderung der gesetzlichen
Grundlagen - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei
Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge
ist der Leistungsanspruch, welcher nur bis im Jahre 2001 streitig ist,
aufgrund der bisherigen Normen zu prüfen (BGE 130 V 446 Erw. 1 mit
Hinweisen). Keine Anwendung finden auch die auf den 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom
21. März 2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai
2003 (4. IV-Revision).

3.
3.1 Nach überzeugender Würdigung der medizinischen Akten (Berichte des Dr.
med. S.________, Oberarzt, Psychiatrische Dienste, vom 12. Juli 2002, des Dr.
med. A.________, Allgemeinmedizin FMH, vom 28. Juli 2002 und des Dr. med.
K.________, Innere Medizin FMH, vom 22. Januar 2003) gelangte die Vorinstanz
zum Ergebnis, dass es an einem rechtsgenüglichen Nachweis eines (psychischen)
Gesundheitsschadens fehle, weil es aus ärztlicher Sicht (rückblickend) bloss
möglich (und nicht überwiegend wahrscheinlich) sei, dass der Beschwerdeführer
von 1996 bis 2001 arbeitsunfähig war. Nach Auffassung des kantonalen Gerichts
besteht auch keine Veranlassung für die Vornahme weiterer Abklärungen, da
diese am feststehenden Beweisergebnis nichts zu ändern vermöchten
(antizipierte Beweiswürdigung).

3.2 Der Beschwerdeführer vertritt demgegenüber den Standpunkt, dass sich die
Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung zur Feststellung des Beginns und
des Ausmasses der Arbeitsunfähigkeit aufdränge, und stützt sich hiefür auf
den Bericht des Dr. med. S.________ vom 12. Juli 2002.
Dieser in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung kann nicht
beigepflichtet werden. Es trifft zwar zu, dass Dr. med. S.________ in seinem
Bericht vom 12. Juli 2002 die Anordnung weiterer medizinischer Abklärungen
für angezeigt hielt mit der Begründung, er kenne den Beschwerdeführer, bei
welchem er eine somatoforme Schmerzstörung vermutete ("Patient [...] mit
chronischen Abdominalbeschwerden, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen mit
Störungen der Impulskontrolle sowie intermittierend auftretenden
Sinnlosigkeitsgefühlen bei St. n. stumpfem Bauchtrauma durch Autounfall in
Serbien 1995 [...], am ehesten im Rahmen einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung"), erst seit 8. Juni 2001 und könne aus diesem Grunde das
Ausmass sowie den Beginn einer vor diesem Datum liegenden Arbeitsunfähigkeit
nicht beurteilen, nehme aber aufgrund seiner Erfahrung an, dass der Beginn
der Arbeitsunfähigkeit Monate oder sogar Jahre zurückliegen dürfte. Indessen
zeigen diese Aussagen gerade die Schwierigkeiten der rückwirkenden
Festsetzung der Arbeitsunfähigkeit für eine Zeit, in welcher der
Beschwerdeführer nach den Akten offensichtlich weder bei den Ärzten des
Externen Psychiatrischen Dienstes noch bei einem anderen Facharzt in
psychiatrischer Behandlung stand. Noch weniger als Dr. med. S.________,
welchen der Beschwerdeführer immerhin im Juni 2001 (ab welchem Monat er zu
einem Vollpensum für die P.________ AG arbeitete) erstmals konsultiert hat,
dürfte ein neu mit einer Begutachtung zu beauftragender Psychiater in der
Lage sein, zuverlässige Aussagen zum Zeitpunkt des Eintritts und zum Ausmass
der Arbeitsunfähigkeit im von 1996 bis 2001 reichenden Zeitraum zu machen.
Beginn und Grad der Arbeitsunfähigkeit könnten diesfalls nur durch
spekulative Annahmen und Überlegungen festgelegt werden, was dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit keinesfalls zu
genügen vermöchte (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen). Da somit von
weiteren Abklärungen keine entscheidrelevanten Erkenntnisse zu erwarten sind,
ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz von der Anordnung einer
Begutachtung abgesehen hat (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw.
4b; RKUV 2003 Nr. U 473 S. 50 Erw. 3.4, 2002 Nr. U 469 S. 527 Erw. 2c). Bei
dieser Sachlage muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass sich
die Beweislosigkeit hinsichtlich Beginn und Ausmass der Arbeitsunfähigkeit
zulasten des Beschwerdeführers auswirkt, der aus dem unbewiesen gebliebenen
Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweis). Hinzu
kommt, dass nach der Rechtsprechung selbst eine feststehende Diagnose einer
somatoformen Schmerzstörung - welche im Falle des Beschwerdeführers fehlt
(vgl. die vage Formulierung im Bericht des Dr. med. S.________ vom 12. Juli
2002: "am ehesten im Rahmen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung") -
noch keine Invalidität begründet, sondern vielmehr eine Vermutung besteht,
dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren
Willensanstrengung überwindbar sind, und lediglich in Ausnahmefällen
angenommen wird, dass die Schmerzbewältigung intensiv und konstant
behindernde Umstände den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar
machen (vgl. dazu BGE 130 V 352).

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 28. Juli 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: