Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 213/2004
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I 213/04

Urteil vom 29. Juli 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Jancar

H.________, 1962, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Alfred Dätwyler, Bielstrasse 3, 4500 Solothurn,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 24. März 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1962 geborene H.________ erlitt am 3. Februar 1998 einen Arbeitsunfall
mit lumbospondylogenem Syndrom beidseits mit ISG-Syndrom. Am 15. Februar 1999
meldete er sich bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn zum Leistungsbezug
an. Mit Verfügung vom 13. Dezember 2001 sprach ihm die IV-Stelle ab 1.
Februar 2001 bei einem Invaliditätsgrad von 46 % eine Viertelsrente zu. Die
dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn in dem Sinne gut, dass es die Verfügung aufhob und die Sache an die
IV-Stelle zurückwies, damit diese nach erfolgten Abklärungen im Sinne der
Erwägungen über den Leistungsanspruch neu verfüge (Entscheid vom 18.
September 2002).
Am 24. September 2002 ersuchte der Versicherte die IV-Stelle, ihm für das
folgende Verwaltungsverfahren die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.
Mit Verfügung vom 23. Oktober 2002 wies die IV-Stelle dieses Gesuch ab.

B.
Die gegen die Verfügung vom 23. Oktober 2002 am 25. November 2002 erhobene
Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid
vom 24. März 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte die Aufhebung des
kantonalen Entscheides vom 24. März 2004; die IV-Stelle sei anzuweisen, ihm
für das Verwaltungsverfahren mit Wirkung ab 24. September 2002 die
unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Ferner ersucht er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da die strittige Verfügung vom 23. Oktober 2002 nicht die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand hat, prüft das
Eidgenössische Versicherungsgericht nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf die zu Art. 4 aBV ergangene
Rechtsprechung (BGE 125 V 32, 122 I 10 Erw. 2c, 119 Ia 265 Erw. 3b, 117 Ia
281 Erw. 5b, 117 V 408 Erw. 5a und 114 V 235 Erw. 5b; vgl. auch AHI 2000 S.
162) die sachlichen Voraussetzungen, unter denen im Verwaltungsverfahren der
Invalidenversicherung ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung besteht,
zutreffend dargelegt. Richtig ist auch der Hinweis darauf, dass der Anspruch
auf unentgeltlichen Rechtsbeistand in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 der auf den 1.
Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999
ausdrücklich vorgesehen ist und hinsichtlich der Voraussetzungen
(Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren,
sachliche Gebotenheit im konkreten Fall) dem aus Art. 4 aBV abgeleiteten
Anspruch entspricht (Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über
eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 182; Urteil R. vom 25. März 2003 Erw.
3, I 864/02). Darauf wird verwiesen.

2.2  Beizupflichten ist im Weiteren den Erwägungen der Vorinstanz, dass das
am
1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 grundsätzlich nicht
anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw.

1.2 ).
Diesbezüglich ist Folgendes zu ergänzen: Das Verwaltungs- und das
nachfolgende Einspracheverfahren erstreckten sich über den 1. Januar 2003
hinaus (Erw. 4.2.1 hienach). Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung
nach diesem Zeitpunkt beurteilt sich mithin nach dem ATSG. Gemäss Art. 37
ATSG kann sich die Partei, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat,
jederzeit vertreten, oder, soweit die Dringlichkeit der Untersuchung es nicht
ausschliesst, verbeiständen lassen (Abs. 1). Wo die Verhältnisse es
erfordern, wird der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher
Rechtsbeistand bewilligt (Abs. 4). Die im Rahmen von aArt. 4 BV zu den
Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung ergangene Rechtsprechung
(Erw. 2.1 hievor) ist nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin anwendbar
(BBl 1999 V S. 4595; Kieser, Kommentar ATSG, Art. 37 Rz 15 ff.; Urteil H. vom

6. Juli 2004 Erw. 2.1, I 186/04).

3.
Der Psychiater Dr. med. E.________ diagnostizierte im Gutachten vom 2. April
2001 Anpassungsprobleme bei Veränderung der Lebensumstände (ICD-10: Z60.0),
Familienzerrüttung durch Trennung (ICD-10: Z63.5), eine somatoforme
Schmerzstörung (ICD-10: F45.0) und längere depressive Reaktion als
Anpassungsstörung (ICD-10: F43.21). Die somatoforme Schmerzstörung schränke
die Arbeitsfähigkeit um ca. 40 % ein. Die Psychiatrische Klinik X.________,
in welcher der Versicherte mehrmals, auf Grund der Akten zuletzt vom 27. Juni
bis 11. Juli 2002, hospitalisiert war, diagnostizierte im Austrittsbericht
vom 31. Juli 2002 neben einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
(ICD-10: F45.4) eine rezidivierende depressive Störung, aktuell mittelgradige
Episode (ICD-10: F33.1). Mit Verfügung vom 13. Dezember 2001 sprach die
IV-Stelle dem Versicherten ab 1. Februar 2001 bei einem Invaliditätsgrad von
46 % eine Viertelsrente zu.
Die Vorinstanz wies die IV-Stelle im Rückweisungsentscheid vom 18. September
2002 an, in Ergänzung zu den vorhandenen unklaren und zum Teil
widersprüchlichen medizinischen Erhebungen weitere Abklärungen zum
psychischen Gesundheitszustand des Versicherten zu treffen.

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob es geboten war, dass sich der Beschwerdeführer
in dem an den kantonalen Rückweisungsentscheid anschliessenden
Verwaltungsverfahren anwaltlich verbeiständen liess.

4.1  Die Geltung der Offizialmaxime schliesst die unentgeltliche
Verbeiständung nicht aus; entscheidend ist vielmehr deren sachliche
Gebotenheit im konkreten Fall, unter Berücksichtigung der Umstände des
Einzelfalls, der Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften und der
Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b).

4.2
4.2.1Auf Intervention des Rechtsvertreters vom 5. November 2002 hin zog die
IV-Stelle mit Dr. med. I.________ einen anderen als den von ihr ursprünglich
vorgesehenen psychiatrischen Gutachter bei.
Dr. med. I.________ stellte in der Expertise vom 11. März 2003 folgende
Diagnosen: rezidivierende depressive Störung, aktuell knapp mittelgradige,
agitierte Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10: F33.11); anhaltende
somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) als Unfallverarbeitungsstörung mit
Symptom-Amplifikationstendenz; psychosoziale Belastungssituation
(Familienzerrüttung durch Trennung; ICD-10: Z63.5), familiäres Betroffensein
von einem Krieg (ICD-10: Z65.5); Entwicklung körperlicher Symptome aus
psychischen Gründen (ICD-10: F68.0). Auf dem offenen Arbeitsmarkt sei dem
Versicherten keine Tätigkeit zumutbar. Im geschützten Rahmen sei er vier
Stunden täglich mit einer Leistung von 40 % arbeitsfähig.
Gestützt hierauf sprach die IV-Stelle dem Versicherten ab 1. Februar 2001 bei
einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Invalidenrente zu (Verfügungen
vom 18. August und 29. September 2003). Die hiegegen erhobene Einsprache
hiess sie teilweise gut und sprach dem Versicherten ab 1. November 1999 eine
ganze Invalidenrente zu; für die Zeit vom 1. November 1999 bis 31. Januar
2001 werde, sobald die Rentenberechnung vorliege, eine neue Verfügung
erlassen; über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung werde separat
entschieden, sobald das Versicherungsgericht über die Beschwerde vom 25.
November 2002 entschieden habe (Entscheid vom 30. Oktober 2003).

4.2.2  Umstritten waren demnach die Person des Gutachters, der
Gesundheitsschaden mit seinen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit und der
Rentenbeginn. Das Verfahren war mithin sachverhaltsmässig und rechtlich nicht
einfach. Für den Beschwerdeführer als medizinischen Laien war es schwer, das
psychiatrische Gutachten objektiv zu würdigen, zumal er an psychischen
Störungen leidet. Eine erhebliche Tragweite der Sache ist ohne weiteres zu
bejahen.
Nicht stichhaltig ist das Argument der Vorinstanz, der Versicherte werde
durch das Sozialamt Gerlafingen betreut, womit er grundsätzlich Zugang zu
Fach- und Vertrauenspersonen gehabt habe (vgl. BGE 125 V 34 Erw. 2). Denn
nachdem der Versicherte bereits im kantonalen Gerichtsverfahren, das zur
Rückweisung der Sache an die IV-Stelle führte (Entscheid vom 18. September
2002), anwaltlich vertreten war, ist es angesichts der dargelegten nicht
einfachen Fallumstände gerechtfertigt, dass er die anwaltliche Hilfe auch in
dem an das Gerichtsverfahren anschliessenden Verwaltungsverfahren in Anspruch
nahm (vgl. Kieser, a.a.O., Art. 37 Rz 21).
Die Sache ist demnach an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die weiteren
Voraussetzungen des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung prüfe und
darüber neu befinde.

5.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb
keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5). Das
Gesuch des Versicherten um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung
von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos.
Da der Beschwerdeführer obsiegt, ist ihm zu Lasten der IV-Stelle eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG).
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 24. März 2004
und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 2002
aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit
sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. Juli 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: