Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 192/2004
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I 192/04

Urteil vom 7. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Jancar

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

W.________, 1979, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Michael B.
Graf, Poststrasse 13, 9201 Gossau

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 6. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1979 geborene W.________ arbeitete seit Juni 2000 versuchsweise
teilzeitlich als Buchhalterin. Am 30. Juni 2000 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Der Orthopäde Dr. med.

K. ________, diagnostizierte im Gutachten vom 8. Juli 2002 eine
sensomotorische Neuropathie Typ I (Charcot-Marie-Tooth) mit Status nach
Triple-Arthrodese beidseits wegen neurogenem Klumpfuss und Restbeschwerden im
rechten Fuss. Mit Verfügungen vom 23. September 2002 lehnte die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen den Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine
Invalidenrente ab. In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde
hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügungen auf und
wies die Sache im Sinne der Erwägungen zur ergänzenden Abklärung und neuer
Entscheidung an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 12. August 2003).

Am 23. September 2003 ersuchte die Versicherte die IV-Stelle um Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung für das weitere IV-Verfahren. Mit Verfügung
vom 12. Dezember 2003 wies die IV-Stelle dieses Gesuch ab, da eine
anwaltliche Verbeiständung nicht notwendig sei.

B.
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen die Verfügung vom 12. Dezember 2003 auf und bewilligte
der Versicherten für das bei der IV-Stelle laufende Verwaltungsverfahren die
unentgeltliche anwaltliche Verbeiständung (Entscheid vom 6. April 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des
kantonalen Entscheides.

Das kantonale Gericht und die Versicherte schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Letztere ersucht ferner um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über die unentgeltliche
Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 4 ATSG, in Kraft
seit 1. Januar 2003; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV) zutreffend dargelegt.
Gleiches gilt hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4 BV zu den
Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren
ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende
Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten
Fall; BGE 125 V 32, 114 V 228; AHI 2000 S. 162), die nach dem Willen des
Gesetzgebers weiterhin anwendbar ist (BBl 1999 V S. 4595; Kieser,
ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz 15 ff.; Urteil H. vom 29. Juli 2004 Erw. 2.1, I
213/04). Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der
unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren die Umstände des
Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die
Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Dabei
fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des
Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht,
wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander,
Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker
Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung
grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des
Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen,
denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE
119 Ia 265 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b), und wenn auch eine Verbeiständung
durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute
sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V
236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit
wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende
Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht
wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen
Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 119 Ia 266 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b/bb;
Schwander, a.a.O., S. 495). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die
Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten
ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI 2000 S.
164 Erw. 2b; Urteil H. vom 6. Juli 2004 Erw. 2.2, I 186/04).

3.
Streitig ist der Anspruch der Versicherten auf anwaltliche Verbeiständung in
dem dem kantonalen Rückweisungsentscheid vom 12. August 2003 folgenden
Verwaltungsverfahren.

3.1  Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen der Bedürftigkeit der
Versicherten
und der fehlenden Aussichtslosigkeit ihrer Rechtsbegehren als erfüllt
angesehen, was unbestritten und nicht zu beanstanden ist.

3.2  Im Weiteren hat das kantonale Gericht mit einlässlicher und
überzeugender
Begründung, auf die verwiesen wird, die sachliche Gebotenheit der
anwaltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren bejaht.

Die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen an diesem
Ergebnis nichts zu ändern.

Entgegen dem Vorbringen der IV-Stelle hat die Vorinstanz berücksichtigt, dass
an die Erforderlichkeit der anwaltlichen Verbeiständung im
Verwaltungsverfahren ein strenger Massstab anzulegen ist.

Die IV-Stelle macht weiter geltend, der Versicherten wäre es zumutbar
gewesen, eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere
Fach- und Vertrauenspersonen in Anspruch zu nehmen. Diesbezüglich ist zum
Einen festzuhalten, dass das Sozialamt X.________ der Versicherten am 24.
Februar 2004 mitgeteilt hat, wegen Überlastung seiner Angestellten könne ihre
Verbeiständung im IV-Verfahren nicht abdeckend übernommen werden; gleiches
gelte für die Sozialen Dienste des Bezirks X.________. Weiter ist zu
beachten, dass die Versicherte bereits im kantonalen Gerichtsverfahren, das
zur Rückweisung der Sache an die IV-Stelle führte (Entscheid vom 12. August
2003), anwaltlich vertreten war. Angesichts der von der Vorinstanz
dargelegten, nicht einfachen Fallumstände war es gerechtfertigt, dass sie die
anwaltliche Hilfe auch in dem an das Gerichtsverfahren anschliessenden
Verwaltungsverfahren in Anspruch nahm (vgl. auch Urteil H. vom 29. Juli 2004
Erw. 4.2.2, I 213/04; Kieser, a.a.O., Art. 37 Rz 21).

4.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb
keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5).

Da die Versicherte obsiegt, ist ihr zu Lasten der IV-Stelle eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG).
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen. der Ausgleichskasse Gross- und Transithandel und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 7. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: