Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 182/2004
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I 182/04

Urteil vom 15. März 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Scartazzini

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

V.________, 1956, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André
Bieri, Ober-Emmenweid 46, 6021 Emmenbrücke 1

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 26. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene V.________ erlitt am 3. April 1996 einen Berufsunfall, bei
welchem ihm mit einer Bohrstanzmaschine die Fingerkuppe des linken
Zeigefingers abgetrennt wurde. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) anerkannte ihre Leistungspflicht und erbrachte die gesetzlichen
Leistungen. Am 9. Oktober 1997 schloss das Spital X.________ den Fall ab und
bezifferte die Arbeitsfähigkeit des Versicherten mit 50 % ab 10. Oktober
1997. Dr. med. G.________ attestierte am 12. Dezember 1997 eine 100%ige
Arbeitsfähigkeit ab 15. Dezember 1997. Am 29. Januar 1998 meldete sich
V.________ bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an. Die
IV-Stelle Luzern liess ein MEDAS-Gutachten (vom 21. Dezember 2001) erstellen
und erliess am 6. Mai 1998, 21. Oktober 1998 sowie 6. Juni 2000 jeweils einen
Vorbescheid, in welchem sie die Ablehnung von Leistungen (Vorbescheid vom 6.
Mai 1998) bzw. die Zusprache einer abgestuften und auf den 31. Dezember 1998
befristeten Rente (Vorbescheid vom 21. Oktober 1998 resp. vom 6. Juni 2000)
vorsah. Mit Verfügungen vom 12. April 2002 sprach sie dem Versicherten für
die Zeit vom 1. April 1997 bis 31. Oktober 1997 (Verfügung 1) eine halbe
Rente bei einem Invaliditätsgrad von 65 % und für die Zeit vom 1. November
1997 bis 31. Dezember 1997 (Verfügung 2) eine ganze Rente bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % zu.

B.
Dagegen liess V.________ Beschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, in
Aufhebung der angefochtenen Verfügungen sei ihm ab 1. April 1997 bis auf
weiteres eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Mit Entscheid vom 26. Februar 2004 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern die Beschwerde teilweise gut, indem insbesondere in Aufhebung der
Verfügung 1 dem Versicherten unter teilweise gewährtem Anspruch auf
unentgeltliche Rechtsverbeiständung und auf eine Parteientschädigung vom 1.
April bis 31. Oktober 1997 eine ganze Rente zugesprochen wurde.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und stellt das
Rechtsbegehren, es sei dem Versicherten für die Zeit vom 1. April bis 30.
Juni 1997 lediglich eine halbe Rente zuzusprechen. Zudem sei Ziffer 2 des
Rechtsspruchs des angefochtenen Entscheides bezüglich der von ihr zu
bezahlenden Parteientschädigung aufzuheben.

V. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
ersucht gleichzeitig um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum
Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG [in der bis 31. Dezember 2003 in Kraft gestandenen Fassung]) sowie zur
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (zu Art. 28 Abs. 2 IVG [in Kraft gestanden bis
31. Dezember 2002] vgl. BGE 104 V 136 f. Erw. 2a und b; AHI 2000 S. 309 Erw.
1a in fine mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1 mit Hinweisen)
zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Das am 1. Januar 2003 in
Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist, wie das kantonale
Gericht richtig erkannt hat, nicht anwendbar, da nach dem massgebenden
Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 12. April 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden. Ebenfalls nicht zur
Anwendung gelangen die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des
Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (BGE 129 V 4 Erw.
1.2 mit Hinweisen).
Zu ergänzen ist, dass die durchschnittliche Beeinträchtigung der
Arbeitsfähigkeit während eines Jahres und die nach Ablauf der Wartezeit (Art.
29 Abs. 1 lit. b IVG) bestehende Erwerbsunfähigkeit kumulativ und in der für
die einzelnen Rentenabstufungen erforderlichen Mindesthöhe gegeben sein
müssen, damit eine Rente im entsprechenden Umfang zugesprochen werden kann
(BGE 121 V 274 Erw. 6b/cc).

2.
Streitig und zu prüfen sind einzig die durchschnittliche Beeinträchtigung der
Arbeitsfähigkeit während der einjährigen Wartezeit und die nach Ablauf
derselben bestehende Erwerbsunfähigkeit zur Bestimmung des Umfangs der Rente,
welche dem Beschwerdegegner ab 1. April 1997 zusteht.

2.1 Nach Darlegung der Vorinstanz hat die IV-Stelle, indem sie gestützt auf
die Taggeldabrechnungen der SUVA die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit vom
1. Juli 1996 bis 30. Juni 1997 geprüft und dabei einen Invaliditätsgrad von
65 % ab 1. April 1997 berechnet hat, diesen auf unzutreffende Weise
ermittelt. Bei erwerbstätigen Versicherten sei zur Bestimmung des
Invaliditätsgrades ein Einkommensvergleich vorzunehmen. Nicht nachvollziehbar
sei zudem, weshalb der Rentenbeginn auf den 1. April 1997 festgelegt, die
durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit aber von Juli 1996 bis Juni 1997
berechnet wurde.
Das kantonale Gericht hat den angefochtenen Entscheid damit begründet, aus
den Akten gehe hervor, dass auf Grund anhaltender Beschwerden am 24. März
1997 im Spital X.________ eine Stumpfkorrektur am Zeigefinger vorgenommen
wurde und der Versicherte bis zum 4. Mai 1997 zu 100 % arbeitsunfähig war. Ab
5. Mai 1997 sei er zu 20 %, ab 6. Juli 1997 zu 50 % und ab 28. Juli 1997 zu
75 % arbeitsfähig geschrieben worden. Ab 5. August 1997 habe sich die
Arbeitsfähigkeit wieder auf 50 % und ab 7. August 1997 auf 20 % reduziert. Am
18. August 1997 sei erneut eine Stumpfkorrektur im Spital X.________ mit
anschliessender voller Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Ab 10. Oktober 1997 sei
die Arbeitsfähigkeit mit 50 % beziffert worden. Schliesslich habe Dr. med.
G.________, stellvertretender Kreisarzt der SUVA, in einem Kurzbericht vom
12. Dezember 1997 eine 100%ige Arbeitsfähigkeit ab 15. Dezember 1997
attestiert.
Daraus schloss die Vorinstanz, der Versicherte sei im Zeitpunkt des
Rentenbeginns Anfang April 1997 zu 100 % arbeitsunfähig gewesen. Die
Durchführung des Prozentvergleichs führe zu einer vollen Erwerbseinbusse und
damit zu einem Invaliditätsgrad von 100 % im April 1997. Bis zum 15. Dezember
1997 könne nicht von einem stabilen Gesundheitszustand ausgegangen werden.
Die Arbeitsfähigkeit habe seit der Operation vom 24. März 1997 bis Anfang
Juli 1997 nicht wesentlich gesteigert werden können, sondern sei praktisch
durchgehend nicht oder kaum gegeben gewesen. Mangels praktischer erwerblicher
Verwertbarkeit der geringen bzw. kurzen Restarbeitsfähigkeiten und weil sich
diese bis Oktober 1997 nicht in rentenrelevantem Ausmass verbessert habe,
stehe dem Versicherten ab 1. April 1997 bis Oktober 1997 eine ganze Rente zu.

2.2 In seiner Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht der
Versicherte insbesondere geltend, ab 3. April 1996 sei er zu 100 %
arbeitsunfähig gewesen, wobei die Arbeitsfähigkeit im Jahr 1997 als äusserst
labil zu bezeichnen sei. Er stützt sich sodann auf die im kantonalen
Entscheid dargelegten Erwägungen und gelangt zum Schluss, im Verlauf des
Jahres 1997 habe eine 75%ige Arbeitsfähigkeit nicht erreicht werden können.
Schliesslich weist er auf einen Arztbericht vom 4. März 1998 hin, in welchem
Dr. med. A.________ ab 3. April 1996 durchgehend bis ca. Ende Mai 1997 eine
volle Arbeitsunfähigkeit bescheinigt hat.

2.3 Demgegenüber macht die IV-Stelle in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
geltend, alleine aus dem Umstand, dass nach Ablauf der Wartezeit im April
1997 unbestritten ein Invaliditätsgrad von 100 % vorlag, dürfe nicht ohne
exakte Durchschnittsberechnung schon ab Rentenbeginn auf eine ganze Rente
geschlossen werden. Zu prüfen sei somit nicht nur die Frage, ob während des
Wartejahres der Minimalwert von 40 % durchschnittlicher Arbeitsunfähigkeit
vorgelegen habe, sondern auch, ob während dieser Zeit effektiv der für die
Zusprechung einer ganzen Rente erforderliche Durchschnitt von mindestens 66
2/3 % erreicht wurde. Anhand der gemäss Taggeldabrechnung der SUVA vom 4.
April 2000 aufgelisteten Arbeitsunfähigkeiten sei festzustellen, dass ab dem
Tage des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit (Unfall vom 3. April 1996) während
eines Jahres lediglich eine durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit von 65,55 %
vorgelegen habe. Die Voraussetzung für die Zusprechung einer ganzen Rente ab
April 1997 sei damit nicht gegeben. Richtigerweise sei dem Versicherten für
die Zeit ab 1. April 1997 somit eine halbe und erst ab 1. Juli 1997 eine
ganze Rente zuzusprechen.

2.4 Diese Betrachtungsweise ist stichhaltig. Die Wartezeit gemäss Art. 29
Abs. 1 lit. b IVG ist Anfang April 1997 abgelaufen. Damit eine ganze Rente
zugesprochen werden kann, müssen sowohl die durchschnittliche
Arbeitsunfähigkeit während eines Jahres als auch die nach Ablauf der
Wartezeit bestehende Erwerbsunfähigkeit die für die betreffende
Rentenabstufung erforderliche Mindesthöhe erreichen. Die Begründung der
Vorinstanz und die Einwände des Versicherten vermögen den Standpunkt der
IV-Stelle nicht in Frage zu stellen, zumal sich diese nicht lediglich auf die
Arbeitsunfähigkeit vor, sondern hauptsächlich auf die Erwerbsunfähigkeit nach
dem 1. April 1997 beziehen. Was sodann den Arztbericht von Dr. med.
A.________ vom 4. März 1998 anbelangt, kann aus seinem Befund keine Erklärung
für die attestierte durchschnittliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit
zwischen dem 3. April 1996 und Ende Mai 1997 entnommen werden. Demgegenüber
geht sowohl aus dem MEDAS-Gutachten vom 21. Dezember 2001 als auch aus den
Erhebungen der SUVA vom 4. April 2000 eindeutig hervor, dass der Versicherte
nicht bereits während der massgebenden Wartezeit (3. April 1996 bis 2. April
1997) das durchschnittlich erforderliche Ausmass von 66 2/3 %
Arbeitsunfähigkeit erreicht hatte.
Unter diesen Umständen hat der Versicherte vom 1. April bis zum 30. Juni 1997
lediglich Anspruch auf eine halbe Invalidenrente.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung
kann dem Beschwerdegegner gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135
OG), da seine Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung geboten war
(BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b je mit Hinweisen). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Versicherte in teilweiser Aufhebung des Entscheides des Verwaltungsgerichts
des Kantons Luzern vom 26. Februar 2004 und der Verfügung 1 der IV-Stelle
Luzern vom 12. April 2002 ab 1. April bis zum 30. Juni 1997 Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr.
André Bieri für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine allfällige
Neuverlegung der Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend
dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des
Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.
Luzern, 15. März 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: