Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 170/2004
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I 170/04

Urteil vom 22. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Schmutz

L.________, 1957, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 25. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. August 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau das
Gesuch der 1957 geborenen L.________ ab, die Kosten der wegen Alopezie
(Haarausfall) nach chemotherapeutischer Tumorbehandlung als Haarersatz an
Stelle einer Perücke angeschafften Kopftücher in Höhe von Fr. 286.-- zu
übernehmen.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 25. Februar 2004 ab.

C.
L.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Versicherung zu verpflichten, ihr
die Kosten für Kopftücher im geltend gemachten Ausmass zu ersetzen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die
Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf ein
Hilfsmittel der Invalidenversicherung (Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG sowie Art. 2
HVI), die Kompetenz zum Erlass einer Hilfsmittelliste durch den Bundesrat
bzw. das Eidgenössische Departement des Innern (Art. 21 Abs. 1 IVG in
Verbindung mit Art. 14 IVV) sowie die nach der Rechtsprechung zu beachtenden
Grundsätze zur Rechtsfigur der Austauschbefugnis (BGE 127 V 121 Erw. 2a und b
mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Ebenso richtig hat die Vorinstanz auf Ziff. 5.06 HVI Anhang hingewiesen,
wo unter den Hilfsmitteln für den Kopfbereich die Perücken aufgeführt sind,
sowie auf Rz 5.06.1 des Kreisschreibens des Bundesamtes für
Sozialversicherung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die
Invalidenversicherung (KHMI). Danach haben Versicherte, deren Kahlköpfigkeit
die äussere Erscheinung unvorteilhaft beeinträchtigt und zu erheblichen
psychischen Belastungen führt, Anspruch auf Perücken, wenn die Haare als
Folge eines akuten Gesundheitsschadens oder dessen Behandlung, z.B. durch
Bestrahlung oder Chemotherapie, ausgefallen sind. Die Versicherten können die
Preiskategorie und die Anzahl der anzuschaffenden Perücken selber bestimmen,
wobei die in Ziff. 1.2 KHMI Anhang 1 genannte Preislimite von Fr. 1'500.--
als Höchstbetrag (für Anschaffung und Unterhalt) pro Kalenderjahr gilt. In
diesem Rahmen kann nach dem Kreisschreiben auch ein anderer Haarersatz (z.B.
Hair-Weaving) vergütet werden.

2.
2.1 Die Beschwerdegegnerin verweigerte der Beschwerdeführerin die Erstattung
des Betrages von Fr. 286.-- für den Kauf von Kopftüchern mit dem Argument,
Hüte, Turbane oder Seidentücher könnten nicht als Hilfsmittel für den
Kopfbereich abgegeben werden, weil sie nicht Haarersatz, sondern
Kopfbedeckung seien. Auch für die Vorinstanz handelt es sich bei Kopftüchern,
Hüten, Mützen, Turbanen und dgl. in erster Linie um Bekleidungsstücke, die im
Gegensatz zu Perücken offensichtlich keinen eigentlichen Ersatz des Haares zu
leisten vermöchten und damit den Hilfsmittelbegriff nicht vollständig
erfüllten. Nur der Gebrauch von Perücken vermöge den Ausfall gewisser Teile
oder Funktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen, weil der körperliche
Defekt der Kahlköpfigkeit und überdies die optischen und protektiven
Funktionen der verloren gegangenen Haartracht wieder hergestellt würden.
Darum könne die Invalidenversicherung auch nicht via Austauschbefugnis für
die Anschaffung von Kopftüchern leistungspflichtig erklärt werden.

2.2 Dagegen wendet die Beschwerdeführerin ein, das Bundesamt für
Sozialversicherung habe im Kreisschreiben bewusst einen offenen Rahmen
geschaffen, um den Versicherten einen Spielraum für die Wahl des geeigneten
Hilfsmittels zu lassen. Mit dem Ausdruck "Haarersatz" sei nicht zwingend eine
andere Form einer Haartracht gemeint, denn es werde offen gelassen, welcher
Ersatz für die ausgefallenen Haare gemeint sei.

3.
3.1 Nach der Wortbedeutung handelt es sich bei der Perücke wie beim Kopftuch
um ein den Kopf bedeckendes Kleidungsstück: Der Duden Band 10 (Das
Bedeutungswörterbuch, 3. Auflage) umschreibt die "Perücke" als "eine wie eine
Kappe den Kopf bedeckende künstliche Frisur aus echten oder synthetischen
Haaren (z.B. als Ersatz für fehlende Haare)". Das "Kopftuch" ist "ein Tuch,
das um den Kopf gebunden getragen wird." Beide sind als "Kopfbedeckung" "der
Teil der Kleidung, die auf dem Kopf getragen wird".

3.2 Die Vorinstanz grenzte die Perücke als Hilfsmittel mit der Begründung vom
Kopftuch (als blossem Bekleidungsstück) ab, dass die Perücke den körperlichen
Defekt der Kahlköpfigkeit "kaschiere" und die optischen und protektiven
Funktionen der verloren gegangenen Haartracht wiederherstelle. Deren Gebrauch
vermöge den Ausfall gewisser Teile oder Funktionen des menschlichen Körpers
zu ersetzen. Nach der Rechtsprechung geht es bei Perücken darum, dass die
äusserlich sichtbare Behinderung anhand dieses Hilfsmittels "kaschiert" werde
(Urteil K. vom 4. Januar 2002, I 71/01, Erw. 1b/cc). Kaschieren heisst aber
nicht, dass die Behinderung vollständig unsichtbar sein muss. Nach Duden Band
5 (Fremdwörterbuch, 7. Auflage) bedeutet "kaschieren" in einem
einschränkenden Sinn verstanden "verhüllen, verbergen, verheimlichen", in
einem etwas weiteren Sinne auch "so darstellen, verändern, dass eine
positivere Wirkung erzielt wird, bestimmte Mängel nicht erkennbar, nicht
sichtbar werden". Wie die Perücke "kaschiert" somit ebenso das Kopftuch die
Kahlköpfigkeit, auch wenn die Trägerin darauf verzichtet, mit einer Perücke
zusätzlich auch die optische Funktion der verloren gegangenen Haartracht
wiederherzustellen. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, erfüllt
das Kopftuch bei Frauen die Aufgabe, die Kahlköpfigkeit zu verbergen, ebenso
wie eine Perücke, die letztlich doch häufig als solche erkennbar bleibt. Denn
in diesem Zusammenhang ist wesentlich, dass an das Hilfsmittel nicht der
Anspruch zu stellen ist, es habe die Illusion zu vermitteln, dass ein Mangel
gar nicht existiert. Es geht lediglich darum, die durch die Kahlköpfigkeit
unvorteilhaft beeinträchtigte äussere Erscheinung zu korrigieren und so
gemäss dem Kreisschreiben des Bundesamtes die dadurch verursachten
erheblichen psychischen Belastungen zu verringern. Auch was die von der
Vorinstanz angeführte protektive Funktion einer Perücke anbetrifft, ist davon
auszugehen, dass keine relevanten Unterschiede hinsichtlich des Schutzes vor
Wärme, Kälte, Nässe oder beim Anstossen des Kopfes gegeben sind, die gegen
eine Austauschbefugnis zwischen Perücke und Kopftuch sprechen. Da neben einem
substitutionsfähigen aktuellen gesetzlichen Leistungsanspruch vorliegend auch
die funktionelle Gleichartigkeit der Hilfsmittel gegeben ist, sind die
Voraussetzungen dafür erfüllt, dass die Austauschbefugnis zum Tragen kommen
darf (vgl. BGE 127 V 121 Erw. 2b).

4.
Im Rahmen der Austauschbefugnis besteht vorliegend auch Anspruch auf ein
Hilfsmittel wie ein Kopftuch, das relativ geringe Anschaffungs- und
Unterhaltskosten verursacht. Ansonsten würden, wie die Beschwerdeführerin zu
Recht geltend macht, falsche Anreize für den Umgang mit Versicherungsgeldern
gesetzt. Für die Vorinstanz erscheint es gerade wegen der geringen Kosten als
mit der Schadenminderungspflicht vereinbar, diese den Versicherten zu
überbinden, umso mehr, als es sich bei Kopfbedeckungen auch und vor allem um
Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs handle. Zudem sei den Versicherten
immer dann eine Kostenbeteiligung aufzuerlegen, wenn ein Hilfsmittel
Gegenstände ersetze, die auch ohne Invalidität angeschafft würden. Die in
diesem Zusammenhang unter Hinweis auf die Lehre (Meyer-Blaser, Bundesgesetz
über die Invalidenversicherung [IVG], in: Murer/Stauffer [Hrsg.], Die
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997,
S. 16, 70 und 163) erwogenen Gründe für eine Verweigerung des
Leistungsanspruches überzeugen im vorliegenden Zusammenhang nicht. Die
Beschwerdeführerin hat nach ihrer unbestritten gebliebenen Darstellung früher
keine Kopftücher verwendet und sie wegen der Alopezie an Stelle der Perücke
angeschafft. Zudem steht die vorinstanzliche Argumentation im Widerspruch zum
Wortlaut von Art. 2 Abs. 5 HVI. Da sich die Versicherte mit den Kopftüchern
mit einem kostengünstigeren Hilfsmittel begnügte, das dem gleichen Zweck
dient wie die Perücke, ist ihr dieses gemäss Art. 2 Abs. 5 HVI abzugeben,
auch wenn es nicht auf der Liste des HVI Anhangs aufgeführt ist. Bei
Anschaffungskosten von insgesamt Fr. 286.-- für zwei Seidentücher und einen
Seidenschlauch ist auch die in Art. 2 Abs. 4 HVI genannte
Anspruchsvoraussetzung einer einfachen und zweckmässigen Ausführung des
Hilfsmittels erfüllt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2004 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 27. August 2002 aufgehoben,
und es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin Anspruch auf Erstattung
der Kosten von Fr. 286.-- für die Anschaffung von Kopftüchern hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2'500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 22. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: