Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 168/2004
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I 168/04

Urteil vom 14. Oktober 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Lanz

J.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Max Auer,
Bahnhofstrasse 32a, 8360 Eschlikon,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 5. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1958 geborene, aus der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien stammende
J.________ war nach ihrer Einreise in die Schweiz ab April 1995 in einem
Vollzeitpensum als Speditionsangestellte bei einem Fleisch verarbeitenden
Betrieb tätig. Sie leidet seit einem im November 2000 am Arbeitsplatz
erlittenen Sturz an Beschwerden im Bereich des rechten Daumens, was eine
eingeschränkte Belastbarkeit der rechten Hand zur Folge hat. Ein operativer
Eingriff im Dezember 2001 führte nicht zu einer bleibenden Besserung. Unter
Hinweis auf diese Problematik meldete sich J.________ im März 2003 bei der
Invalidenversicherung für berufliche Massnahmen (Umschulung) an. Mit
Verfügung vom 15. September 2003 und Einspracheentscheid vom 14. November
2003 verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen einen Anspruch der
Versicherten auf Umschulung und Arbeitsvermittlung mit der Begründung, die
Vermittelbarkeit sei durch die Behinderung nur geringfügig beeinträchtigt.

B.
Die von J.________ gegen den Einspracheentscheid vom 14. November 2003
erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
Entscheid vom 5. Februar 2004 ab.

C.
J.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache zur
Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen; eventuell sei ihr
eine berufliche Massnahme zuzusprechen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne
sich weiter zur Sache zu äussern. Mit dem gleichen Rechtsbegehren nimmt das
kantonale Gericht Stellung. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich
nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben, und das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung eines
Falles regelmässig auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheides (hier: 14. November 2003) eingetretenen Sachverhalt ab
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen).

Im Lichte dieser Grundsätze ist das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6.
Oktober 2000 (ATSG) mit der zugehörigen Verordnung vom 11. September 2002
(ATSV) anwendbar. Hingegen sind, entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung, die am 1. Januar 2004
in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom 21.
Mai 2003 (4. IV-Revision) sowie die damit einhergehenden Anpassungen des ATSG
nicht zu berücksichtigen (Urteil A. vom 9. September 2004, I 269/04, Erw.
1.1). Dies hat das kantonale Gericht richtig erkannt.

Anzufügen bleibt, dass ATSG und ATSV in Bezug auf die hier im Streite
stehenden Leistungen nicht zu einer Änderung der zuvor in Gesetz und
Verordnung enthaltenen, durch die Rechtsprechung präzisierten
materiellrechtlichen Grundsätze geführt haben (noch nicht in der Amtlichen
Sammlung veröffentlichtes Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03; Urteil H.
vom 18. August 2004, I 783/03, Erw. 2.2).

2.
2.1 Die Bestimmungen für den zunächst streitigen Anspruch auf Umschulung (Art.
17 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 IVV, je in der bis Ende 2003
gültig gewesenen Fassung) sind im kantonalen Entscheid richtig wiedergegeben.
Darauf wird verwiesen.

Nach der Rechtsprechung ist unter Umschulung grundsätzlich die Summe der
Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und
geeignet sind, dem vor Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig
gewesenen Versicherten eine seiner früheren annähernd gleichwertige
Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der Begriff der
"annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das
Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung
zu erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf
die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn
das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese
im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 124 V 110 Erw. 2a mit
Hinweisen).
Als invalid im Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend
eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht
hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise
unzumutbar macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches
Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn die
versicherte Person in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch
zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b mit
Hinweisen).

2.2 Im angefochtenen Entscheid wird ein Umschulungsanspruch der
Beschwerdeführerin mit der Begründung verneint, diese sei aufgrund
Ausbildungsstand und bisheriger Tätigkeit als Hilfsarbeiterin zu
qualifizieren. Bei Hilfsarbeitern resp. Ungelernten bestehe ein Anspruch auf
Umschulung - und damit auf eine erstmalige Berufsausbildung - nicht bereits
bei einer invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse von rund 20 %. Ansonsten
könnte die versicherte Person aufgrund eines geringen Nachteils eine sehr
teure Eingliederungsmassnahme beanspruchen, was dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit zuwiderlaufe. Ein Anspruch des Hilfsarbeiters auf
Umschulung bestehe daher gemäss Praxis der Vorinstanz erst dann, wenn ohne
diese berufliche Massnahme ein Rentenanspruch drohe. Vorausgesetzt werde
somit ein behinderungsbedingter Minderverdienst von rund 40 %. Dieses
Erfordernis sei vorliegend, wie sich aus dem Vergleich der Einkommen mit und
ohne Behinderung ergebe, deutlich nicht erfüllt.

2.3 Das kantonale Gericht verlangt somit für den Umschulungsanspruch von
Hilfsarbeitern resp. ungelernten Arbeitskräften einen höheren
Mindestinvaliditätsgrad als bei Versicherten, welche bereits über eine
Berufsausbildung verfügen. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hatte
jüngst Gelegenheit und Anlass, sich mit diesem Rechtsverständnis
auseinanderzusetzen. Es entschied, dass für eine derartige Differenzierung
zwischen gelernten und ungelernten Versicherten keine rechtliche Grundlage
besteht (Urteil T. vom 30. September 2004, I 73/04, Erw. 4, auch zum
Folgenden). Zwar geht es nicht an, den Anspruch auf Umschulungsmassnahmen -
gleichsam im Sinne einer Momentaufnahme - ausschliesslich vom Ergebnis eines
auf den aktuellen Zeitpunkt begrenzten Einkommensvergleichs, ohne Rücksicht
auf den qualitativen Ausbildungsstand einerseits und die damit
zusammenhängende künftige Entwicklung der erwerblichen Möglichkeiten
anderseits, abhängen zu lassen. Vielmehr ist im Rahmen der vorzunehmenden
Prognose unter Berücksichtigung der gesamten Umstände nicht nur der
Gesichtspunkt der Verdienstmöglichkeit, sondern der für die künftige
Einkommensentwicklung ebenfalls bedeutsame qualitative Stellenwert der beiden
zu vergleichenden Berufe mit zu berücksichtigen. Die annähernde
Gleichwertigkeit der Erwerbsmöglichkeit in der alten und neuen Tätigkeit
dürfte auf weite Sicht nur dann zu verwirklichen sein, wenn auch die beiden
Ausbildungen einen einigermassen vergleichbaren Wert aufweisen (BGE 124 V 111
f. Erw. 3b mit Hinweisen). Dies rechtfertigt aber entgegen dem kantonalen
Gericht nicht, den Anspruch auf Umschulung bei ungelernten Versicherten
generell von einer höheren Mindestinvalidität als bei ausgebildeten
Versicherten abhängig zu machen. Entsprechend hat der Verordnungsgeber unter
den grundsätzlich Umschulungsberechtigten neben den beruflich Ausgebildeten
ausdrücklich und ohne zusätzliche Voraussetzungen daran zu knüpfen auch
diejenigen Versicherten aufgeführt, welche ohne vorgängige berufliche
Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben (Art. 6 Abs. 1 IVV in der
bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung). Hier wie dort ist somit bei
Erfüllung der gesundheitsbedingten Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % der
Umschulungsanspruch grundsätzlich gegeben, und es bleibt im Einzelfall die
Gleichwertigkeit der in Frage kommenden Umschulungsmöglichkeiten nach den
dargelegten Grundsätzen zu prüfen. Dem Verhältnismässigkeitsprinzip - als
Leitmotiv des Gleichwertigkeitsgedankens - wird dabei Rechnung getragen,
indem eine Umschulung, welche zu einem wesentlich höheren Einkommen als dem
mit der bisherigen (Hilfs-)Tätigkeit erzielten führen würde, ausser Betracht
fällt (Erw. 2.1 hievor). Zudem muss der voraussichtliche Erfolg einer
Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten
stehen (BGE 121 V 260 Erw. 2c mit Hinweisen), womit auch unangemessen teure
Ausbildungen vom Anspruch ausgeschlossen sind.

2.4
2.4.1Das kantonale Gericht hat bei der Bestimmung des invaliditätsbedingten
Minderverdienstes das Einkommen der Beschwerdeführerin ohne Behinderung
(Valideneinkommen) für das Vergleichsjahr 2002 gestützt auf die Angaben der
Arbeitgeberin auf rund Fr. 47'150.- festgesetzt. Hiegegen werden, nach Lage
der Akten zu Recht, keine Einwendungen erhoben.

2.4.2 Gemäss den medizinischen Berichten ist die funktionelle
Leistungsfähigkeit der Versicherten in der seit 1995 ausgeübten Tätigkeit,
welche nach Angabe der Arbeitgeberin im Etikettieren von Schachteln und im
Einlegen von Trockenfleisch in Beutel besteht, aufgrund der eingeschränkten
Belastbarkeit der rechten Hand um 15 % eingeschränkt. Demgegenüber besteht
für diese Hand weniger belastende Betätigungen (wie etwa an der Kasse bei
einem Grossverteiler, im Verkauf von Lebensmitteln oder als Kontrolleurin)
eine volle Arbeitsfähigkeit.

In erwerblicher Hinsicht heisst dies zunächst, dass bei einer Weiterführung
des seit 1995 bestehenden Anstellungsverhältnisses selbst dann die für einen
Umschulungsanspruch erforderliche Mindesterwerbseinbusse von 20 %
unterschritten wird, wenn die Arbeitgeberin den Lohn um den vollen
Prozentsatz der aus ärztlicher Sicht verminderten Leistungsfähigkeit im
bisherigen Beruf reduziert.

Aus den Akten geht nicht zweifelsfrei hervor, ob das besagte
Anstellungsverhältnis in dem für die gerichtliche Prüfung massgebenden
Zeitpunkt des Einspracheentscheides vom 14. November 2003 überhaupt noch
Bestand hatte. Wird davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin keine
Erwerbstätigkeit mehr ausübt, können zur Bestimmung des trotz
Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch erzielbaren Einkommens
(Invalideneinkommen) Tabellenlöhne beigezogen werden (BGE 126 V 76 f. Erw.
3b/bb). Ausgehend vom statistischen Bruttolohn von Fr. 3820.- für Tätigkeiten
von Frauen mit Anforderungsniveau 4 (einfache und repetitive Tätigkeiten) im
gesamten privaten Sektor (Die Schweizerische Lohnstrukturerhebung [LSE] 2002,
S. 43 Tabelle TA1) resultiert nach Umrechnung dieses auf einer
Wochenarbeitszeit von 40 Stunden beruhenden Wertes auf die betriebsübliche
wöchentliche Arbeitszeit von 41,7 Stunden (Die Volkswirtschaft, Heft10/2004,
S. 90 Tabelle B9.2) und aufs Jahr gerechnet (x 12) ein Einkommen von Fr.
47'788.-. Selbst wenn aufgrund der eingeschränkten Belastbarkeit der rechten
Hand der Versicherten ein behinderungsbedingter Abzug (vgl. BGE 126 V 75) von
(allerhöchstens) 10 % vorgenommen wird, resultiert noch ein
Invalideneinkommen von Fr. 43'009.- und im Vergleich zum Valideneinkommen von
Fr. 47'150.- ein Minderverdienst unter 10 %. Wie das kantonale Gericht sodann
richtig erkannt hat, wird die für den Anspruch auf die streitige Leistung
vorausgesetzte Mindesterwerbseinbusse von etwa 20 % auch nicht erreicht, wenn
beim Valideneinkommen vom Jahr 2003 ausgegangen und ein der Entwicklung in
den vorhergehenden Jahren entsprechender prozentualer Lohnanstieg auf rund
Fr. 50'000.- berücksichtigt wird, zumal diesfalls auch beim
Invalideneinkommen die statistisch ausgewiesene Lohnsteigerung von 1.4 % (Die
Volkswirtschaft, a.a.O., S. 91 Tabelle B10.2) zu berücksichtigen wäre.

2.5 Wenn das kantonale Gericht den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
Umschulung verneint hat, ist sein Entscheid somit im Ergebnis richtig.

An dieser Betrachtungsweise vermögen die Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern. Dies gilt namentlich auch in
Bezug auf die darin vorgenommene, nicht Gesetz und Praxis entsprechende
Invaliditätsbemessung.

3.
Zu prüfen bleibt der von Verwaltung und Vorinstanz ebenfalls verneinte
Anspruch auf Arbeitsvermittlung.

Gemäss Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG (in der bis Ende 2003 gültig gewesenen
Fassung) wird eingliederungsfähigen invaliden Versicherten nach Möglichkeit
geeignete Arbeit vermittelt. Ist die Arbeitsfähigkeit einzig insofern
vermindert, als - wie vorliegend der Fall (Erw. 2.4.2 hievor) - der
versicherten Person leichte Tätigkeiten vollzeitig zumutbar sind, bedarf
bedarf der Anspruch auf Anspruchsvermittlung zusätzlich einer gesundheitlich
bedingten spezifischen Einschränkung in der Stellensuche (AHI 2003 S. 270 f.
Erw. 2c und d mit Hinweisen; vgl. auch noch nicht in der Amtlichen Sammlung
veröffentlichtes Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03, Erw. 8.2). Eine
solche Beeinträchtigung liegt hier nicht vor, weshalb die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch in diesem Punkt unbegründet ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. Oktober 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: