Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 163/2004
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I 163/04

Urteil vom 30. November 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Ackermann

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

M.________, 1972, Beschwerdegegner, vertreten
durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600
Olten,

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 4. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1972, trat im Frühjahr 2003 freiwillig in die
Psychiatrische Klinik X.________ ein, um sich einem stationären Drogenentzug
zu unterziehen. Er meldete sich am 8. Juli 2003 bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug an, worauf die IV-Stelle des Kantons St. Gallen einen
Bericht der Psychiatrischen Klinik X.________ vom 14. August 2003 einholte.
Mit Verfügung vom 24. September 2003 lehnte die Verwaltung den Anspruch auf
berufliche Eingliederungsmassnahmen ab, da die Arbeitsunfähigkeit vor allem
durch das Abhängigkeitsverhalten begründet sei und somit keine Invalidität im
Sinne des Gesetzes vorliege; dies wurde durch Einspracheentscheid vom 29.
Oktober 2003 bestätigt.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 4. Februar 2004 teilweise gut, bejahte das
Bestehen eines invalidisierenden Gesundheitsschadens und wies die Sache zur
ergänzenden Abklärung und zu neuem Entscheid an die IV-Stelle zurück. Vorher
hatte es einen Bericht der Psychiatrischen Klinik X.________ vom 3. Dezember
2003 sowie des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der Invalidenversicherung
vom 16. Dezember 2003 zu den Akten genommen.

C.
Unter Beilage eines Berichtes des Dr. med. B.________, FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, vom 12. März 2004 führt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den
vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.
M.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während die IV-Stelle deren Gutheissung beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
Weiter prüft das Eidgenössische Versicherungsgericht im Rahmen der
Rechtsanwendung von Amtes wegen nicht nur aufgrund der Parteibehauptungen,
sondern von sich aus, ob die Vorinstanz mit dem angefochtenen Entscheid
Bundesrecht verletzt oder das Ermessen unrichtig ausgeübt hat (vgl. BGE 122 V
36 Erw. 2b mit Hinweisen). Es hat daher sowohl unabhängig von der Begründung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde als auch von den im angefochtenen Entscheid
angeführten Motiven zu prüfen, ob eine Bundesrechtsverletzung vorliegt oder
nicht (RKUV 2003 Nr. U 483 S. 246 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.
2.1 Am 1. Januar 2004 ist die 4. IVG-Revision in Kraft getreten. Weil in
zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die
bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei
der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier: 29. Oktober 2003)
eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b; RKUV 2001 Nr. U
419 S. 101), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2003
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.2 Invalidität ist nach Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende
oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit; diese
Umschreibung entspricht den bisherigen von der Rechtsprechung im
Invalidenversicherungsbereich entwickelten Begriffen und Grundsätzen, weshalb
mit dem In-Kraft-Treten des ATSG keine substanzielle Änderung der früheren
Rechtslage verbunden war (BGE 130 V 347 Erw. 3.3). Als Voraussetzung für
Leistungen der Invalidenversicherung kann die Invalidität Folge von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 Abs. 1 IVG).
Wie in ständiger Rechtsprechung bezüglich der Drogensucht entschieden worden
ist, begründet diese, für sich allein betrachtet, keine Invalidität im Sinne
des Gesetzes. Dagegen wird eine solche Sucht im Rahmen der
Invalidenversicherung bedeutsam, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall
bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die
Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder
wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens
ist, dem Krankheitswert zukommt (AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen).

3.
Streitig ist der Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung und in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, ob
ein invalidisierender Gesundheitsschaden vorliegt.

3.1 Das kantonale Gericht stellt auf die Angaben der Psychiatrischen Klinik
X.________ sowie diejenigen des RAD ab und geht davon aus, dass "kaum
Zweifel" am Vorliegen einer gesundheitlichen Störung mit Krankheitswert
bestünden, welche entweder Folge der Drogensucht oder anderer psychischer
Beeinträchtigungen sei; die Ursache sei allenfalls weiter abzuklären, wenn
dies für die in Frage kommenden beruflichen Massnahmen notwendig sei. Das
Beschwerde führende BSV hält dagegen einen invalidisierenden
Gesundheitsschaden für nicht ausgewiesen und verweist sinngemäss auf die
letztinstanzlich eingereichten Ausführungen des Dr. med. B.________ vom 12.
März 2004.

3.2
3.2.1Der Anamnese des Berichtes der Psychiatrischen Klinik X.________ vom 14.
August 2003 kann entnommen werden, dass der Beschwerdegegner nach seinem
Realschulabschluss eine dreijährige Lehre als Landmaschinenmechaniker
absolvierte, jedoch die Lehrabschlussprüfung nicht bestand und anschliessend
keine Arbeit fand. Nachdem er bereits als Jugendlicher Cannabis konsumiert
hatte, sei er 1992 erstmals mit harten Drogen in Kontakt gekommen, habe
jedoch 1993 die Rekrutenschule absolviert und anschliessend fünf Jahre als
Eisenleger gearbeitet. 1998 habe er sich einer (ersten) Drogenentzugstherapie
unterzogen und im Jahr 2000 die Lehre als Landmaschinenmechaniker wieder
aufgenommen, im Mai 2002 die Abschlussprüfung jedoch erneut nicht bestanden.
Im Frühjahr 2002 habe ein Rückfall in den Drogenkonsum stattgefunden und der
Versicherte habe ab August 2002 wiederum als Eisenleger gearbeitet; im
Frühling 2003 sei er in eine stationäre Entzugstherapie eingetreten.

3.2.2 Die die Entzugstherapie durchführende Psychiatrische Klinik X.________
hat mit Bericht vom 14. August 2003 zuhanden der Invalidenversicherung
folgende Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt:
- Störungen durch multiplen Substanzgebrauch,
Abhängigkeits- syndrom, gegenwärtig abstinent, aber in beschützender
Umgebung (ICD-10 F19.21);
- Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störung mit
Beginn in der Kindheit und Jugend (adoleszentäre Entwick- lungsstörung;
ICD-10 F98.8);
- Negative Kindheitserlebnisse im Zusammenhang mit
emotionaler Vernachlässigung und körperlicher Misshandlung (ICD-10
Z61.8).
Auf die Frage der IV-Stelle nach den Auswirkungen der gesundheitlichen
Störung auf die bisherige Tätigkeit antwortete die Psychiatrische Klinik
X.________ am 14. August 2003, es sei dem Beschwerdegegner "aufgrund der
zugrunde liegenden Störung" nicht gelungen, einen Lehrabschluss zu schaffen.
Daraus resultierten Insuffizienzgefühle, Versagensängste und erhöhter
psychischer Leidensdruck, was wiederum zu einer Destabilisierung der
psychischen Grunderkrankung führe. Die bisherige Tätigkeit als Eisenleger sei
uneingeschränkt zumutbar, jedoch erscheine eine berufliche und soziale
Reintegration "überaus wünschenswert", da dies vor allem einen günstigen
Einfluss auf die prognostische Krankheitsentwicklung hätte. Während des
vorinstanzlichen Verfahrens teilte die Psychiatrische Klinik X.________ der
IV-Stelle mit Schreiben vom 3. Dezember 2003 mit, dass der Bericht vom 14.
August 2003 unter einem Widerspruch leide; trotz der diagnostischen
Beurteilung sei eine volle Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit
angenommen worden. Dem Versicherten sei aber die bisherige Tätigkeit als
Eisenleger nicht mehr zumutbar: Wegen der im Kindesalter begonnenen
emotionalen Störung verfüge der Beschwerdegegner nicht über ein intaktes
Gefühl eines eigenen Wertes, der Drogenkonsum sei als maladaptive
Selbstmedikation zu verstehen. Der Versicherte sei am Arbeitsplatz auf
(wohlwollende) Beziehungskonstanz, eine klar überschaubare Tätigkeit sowie
auf umsichtig und ruhig vermittelte Aufträge angewiesen; als Hilfsarbeiter
auf dem Bau sei ein Rückfall in selbstdestruktives Verhalten absehbar.
Gestützt auf diese Ausführungen hat der RAD in seiner internen Stellungnahme
vom 16. Dezember 2003 eine Invalidität als "ausgewiesen" erachtet und aus
"medizinisch theoretischen Erwägungen" eine sich bereits in der Jugend
entwickelte Störung angenommen.

3.2.3 Die Psychiatrische Klinik X.________ geht im Rahmen der
Diagnosestellung primär von einer Suchtdiagnose aus (ICD-10 F19.21) und führt
sinngemäss als Grunderkrankung eine adoleszentäre Entwicklungsstörung (ICD-10
F98.8; beeinflusst durch negative Kindheitserlebnisse [ICD-10 Z61.8]) an,
welche einen Lehrabschluss verunmöglicht habe. Es wird jedoch weder im
Bericht vom 14. August 2003 noch in der Ergänzung vom 3. Dezember 2003
begründet, weshalb diese Entwicklungsstörung den Lehrabschluss verunmöglicht
haben sollte; dafür können ebenso invaliditätsfremde Gründe (familiäres
Umfeld, Cannabiskonsum, mangelnde Motivation etc.) verantwortlich sein; in
dieser Hinsicht stützt sich die Einschätzung der Psychiatrischen Klinik
X.________ allein auf die Anamnese des Versicherten, weitere medizinische
Akten, etwa aus der Jugend oder vom ersten Drogenentzug 1998, sind nicht
beigezogen worden. Dr. med. B.________ führt in seinem Aktenbericht vom 14.
März 2003 aus, dass gemäss medizinischer Literatur Störungen im Kindes- oder
Jugendlichenalter eine gute Remissionsneigung hätten und - falls sie über
dieses Alter hinaus anhielten - in Angststörungen oder depressive Störungen
übergingen. Diese Problematik wird im Bericht der Psychiatrischen Klinik
X.________ nicht angesprochen. Überdies ist nicht klar, weshalb die bisherige
Tätigkeit als Eisenleger dem Beschwerdegegner nicht zumutbar sein sollte:
Dieser ist nach den Ausführungen der Psychiatrischen Klinik X.________ vom 3.
Dezember 2003 auf (wohlwollende) Beziehungskonstanz, klar überschaubare
Tätigkeiten sowie umsichtig und ruhig vermittelte Aufträge angewiesen;
weshalb diese Voraussetzungen nicht auch bei der - während mehrerer Jahre
ausgeübten - Tätigkeit als Eisenleger gegeben sein sollten, wird nicht
erklärt. Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass der Bericht der
Psychiatrischen Klinik X.________ vom 14. August 2003 stark vom
Rehabilitationsgedanken geprägt ist und es nicht auszuschliessen ist, dass
die erwähnten beruflichen Eingliederungsmassnahmen aus diesem Grund - und
nicht wegen einer Invalidität - empfohlen worden sind. Aus diesen Gründen
kann nicht entscheidwesentlich auf die Einschätzungen der Psychiatrischen
Klinik X.________ abgestellt werden (vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3a). Dasselbe
gilt für die kurze interne Stellungnahme des RAD vom 16. Dezember 2003, da
diese vollständig auf den Bericht der Psychiatrischen Klinik verweist.

3.2.4 Es kann aber auch nicht allein auf den vom BSV letztinstanzlich
eingereichten Bericht des Dr. med. B.________ vom 14. März 2004 abgestellt
werden, denn diese Äusserungen sind - wie auch diejenigen der Psychiatrischen
Klinik X.________ - nicht aufgrund der gesamten medizinischen Unterlagen
ergangen; weiter handelt es sich dabei um einen reinen Aktenbericht, während
für psychiatrische Berichte in der Regel eine persönliche Untersuchung
vorausgesetzt ist (RKUV 2001 Nr. U 438 S. 346).

3.3 Damit erweist sich der rechtserhebliche Sachverhalt als ungenügend
abgeklärt. Die Verwaltung wird zu untersuchen haben, ob ein invalidisierender
Gesundheitsschaden vorliegt oder nicht. Es wird dabei zu berücksichtigen
sein, dass die vom Beschwerdegegner in der Einsprache vom 5. Oktober 2003
geltend gemachten neuen psychischen Störungen im Schreiben der
Psychiatrischen Klinik X.________ vom 3. Dezember 2003 nicht erwähnt sind,
und dass die Rückfallgefahr eines ehemaligen Drogensüchtigen für sich allein
keine drohende Invalidität darstellt (AHI 1996 S. 303 f. Erw. 3).

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Das BSV als obsiegende Behörde hat
keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 OG Verbindung mit Art. 159
Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Februar
2004 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 29.
Oktober 2003 aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen und der Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen zugestellt.
Luzern, 30. November 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: