Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 161/2004
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I 161/04

Urteil vom 7. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

D.________, 1947, Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 19. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1947 geborene D.________ litt unter beidseitigem Keratokonus. Die
Invalidenversicherung übernahm die Keratoplastik (Hornhautübertragung) vom
26. Januar 2001 am rechten Auge einschliesslich Nachbehandlung als
medizinische Eingliederungsmassnahme. Mit Schreiben vom 28. Januar 2003
ersuchte die Versicherte die IV-Stelle Zürich um Übernahme desselben, links
am 2. April 2003 durchgeführten Eingriffs. Nach Einholung je eines Berichtes
des operierenden Augenarztes Dr. med. S.________, vom 10. April 2003 und der
behandelnden Augenärztin Dr. med. G.________ vom 14. April 2003 lehnte die
IV-Stelle das Leistungsgesuch mit Verfügung vom 21. Mai 2003 ab, weil es sich
bei der Hornhautproblematik am linken Auge um labiles Geschehen handle und
somit die Voraussetzungen für eine Übernahme durch die Invalidenversicherung
nicht erfüllt seien. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 15. Juli
2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der D.________ hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 19. Februar
2004 in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache
zur weiteren Abklärung im Sinne der Erwägungen sowie anschliessender
Neuverfügung an die Verwaltung zurück wies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet D.________ auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über die Voraussetzungen des
Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG in
der bis Ende 2003 unverändert gültig gewesenen Fassung; nachfolgend ist ohne
anderslautenden Hinweis stets diese Fassung gemeint) und den Anspruch auf
medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend
dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Rechtsprechung, wonach die
Invalidenversicherung grundsätzlich nur solche medizinische Vorkehren
übernimmt, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder
wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle
hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Dauerhaftigkeit des angestrebten
Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a
mit Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2). Darauf wird verwiesen.

1.2  Zu ergänzen ist, dass die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in
Kraft getretenen 4. IVG-Revision (AS 2003 3837) nicht anwendbar sind, da nach
dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
(hier: vom 15. Juli 2003) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

2.
Streitig ist, ob die Invalidenversicherung die Keratoplastik am linken Auge
als medizinische Eingliederungsmassnahme zu übernehmen hat. Dabei ist zu
prüfen, ob diese Frage bei gegebener Aktenlage beantwortet werden kann.
Während die Verwaltung gestützt auf den Bericht der behandelnden Augenärztin
vom 14. April 2003 das Leistungsgesuch ablehnte, weil es sich bei der
Hornhautproblematik am linken Auge um labiles Geschehen handle, geht die
Vorinstanz davon aus, dass diese Frage erst nach ergänzenden medizinischen
Abklärungen zu beantworten sei, da aus den sich gegenseitig widersprechenden
Angaben der Dres. med. G.________ und S.________ keine eindeutigen Schlüsse
gezogen werden könnten.

2.1  Nach der Rechtsprechung stellt der Keratokonus grundsätzlich labiles
pathologisches Geschehen dar, weshalb eine wegen dieses Leidens erforderliche
Hornhautübertragung nicht als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG zu
Lasten der Invalidenversicherung geht. Die Leistungspflicht der
Invalidenversicherung fällt namentlich dann ausser Betracht, wenn die
Keratoplastik durchgeführt wird, um einer in absehbarer Zeit drohenden
Perforation der Hornhaut zuvorzukommen oder wenn damit eine frische
Verletzung der Hornhaut angegangen wird. Die Keratoplastik gilt nur dann als
eine medizinischen Massnahmen nach Art. 12 IVG zugänglicher Eingriff, wenn
damit eine narbig veränderte Hornhaut oder eine getrübte Keratokonusspitze
ersetzt wird. In diesen Fällen rechtfertigt sich die Annahme eines stabilen
oder relativ stabilisierten Defektzustandes, weshalb sie grundsätzlich eine
medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG bilden kann (BGE 100 V 97 und Urteil
G. vom 21. November 2003, I 348/03, Erw. 2, je mit Hinweisen).

2.2  Auf die Frage der Verwaltung hin, ob durch Keratoplastik am linken Auge
"eine narbig veränderte Hornhaut oder eine getrübte Keratokonusspitze"
ersetzt worden sei, antwortete der Operateur Dr. med. S.________ am 10. April
2003 abschliessend:
"Es handelt sich um den stabilen Endzustand eines Keratokonus am linken Auge
mit narbig veränderter Cornea und nicht mehr Korrigierbarkeit mit Brille oder
Kontaktlinse. Beginnende soziale Erblindung an diesem Auge.  -  Die Operation
ist bereits erfolgt."
Er verzichtete auf Angaben zur Behandlungsdauer und Anamnese sowie zu
angegebenen Beschwerden, erhobenen Befunden und gestellten Diagnosen.
Demgegenüber ist dem ausführlichen Bericht der die Versicherte seit 1989
behandelnden Augenärztin Dr. med. G.________ vom 14. April 2003 unter anderem
zu entnehmen, dass sie nebst einem Status nach Keratoplastik am rechten Auge
vom 26. Januar 2001 einen Keratokonus am linken Auge "mit
Keratokonusspitzen-Trübungen und androhendem Ulcus der Hornhaut wegen offener
Hornhaut" diagnostizierte. Weiter berichtete die Augenärztin zur Anamnese,
dass die Versicherte Kontaktlinsen immer schlechter toleriert habe, weil
immer häufiger Komplikationen ("Hornhauttrübungen, offene Hornhaut, drohendes
Hornhautgeschwür") aufgetreten seien. Am linken Auge erhob sie anlässlich der
Untersuchung vom 3. Dezember 2002 unter anderem folgende Befunde:
"Bindehaut gereizt, Hornhaut mit sehr ausgeprägten Spitzentrübungen,
Fluo-positive Trübungen, der Befund kann sich jederzeit verschlechtern."
2.3 Unter pflichtgemässer Würdigung der medizinischen Unterlagen hat die
IV-Stelle gestützt auf den Bericht der Frau Dr. med. G.________ zu Recht
erkannt, dass angesichts eines drohenden Hornhautgeschwürs, einer offenen
Hornhaut und einer jederzeit möglichen Verschlechterung der erhobenen Befunde
mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit
Hinweisen) auf ein labiles pathologisches Geschehen zu schliessen ist,
welches die am linken Auge durchgeführte Hornhautübertragung erforderlich
werden liess. Demgegenüber vermögen die ohne nachvollziehbare Begründung
geäusserten gegenteiligen Einschätzungen des Dr. med. S.________ nicht zu
überzeugen. Zutreffend weist das BSV in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
darauf hin, dass an diesem Ergebnis  -  entgegen dem vorinstanzlichen
Entscheid  -  auch weitere medizinische Abklärungen in antizipierter
Beweiswürdigung (SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b mit Hinweisen auf BGE 124 V
94 Erw. 4b und 122 V 162 Erw. 1d) nichts zu ändern vermögen.

3.
Steht demnach fest, dass bei dem Keratokonus am linken Auge der Versicherten
kein stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter Defektzustand vorlag,
hat die IV-Stelle die Übernahme der Keratoplastik von anfangs April 2003 als
medizinische Eingliederungsmassnahme nach Art. 12 IVG zu Recht abgelehnt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Februar 2004
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der IV-Stelle des Kantons Zürich und der Ausgleichskasse des Kantons
Zürich zugestellt.

Luzern, 7. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: