Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 154/2004
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I 154/04

Urteil vom 11. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Hofer

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

Klug Krankenversicherung, Gubelstrasse 22, 6300 Zug, Beschwerdegegnerin,

betreffend W.________, 1990, vertreten durch ihre Mutter, R.________

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 12. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Am 16. Mai 1994 meldete R.________ ihre 1990 geborene Tochter unter Hinweis
auf Wahrnehmungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei der IV-Stelle des
Kantons Zürich zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 31. August 1999 wurde
W.________ Psychotherapie nach ärztlicher Verordnung für die Dauer vom 25.
März 1999 bis 31. März 2001 zugesprochen, welche Massnahme mit einer weiteren
Verfügung vom 29. Oktober 2001 bis 31. März 2003 verlängert wurde. Mit
Schreiben vom 19. April 2003 ersuchten Dr. med. S.________ und lic. phil.
B________ namens der Versicherten um Verlängerung der Kostenübernahme der
durchgeführten Therapie. Gestützt auf die Stellungnahme des internen
medizinischen Dienstes wies die IV-Stelle das Gesuch mit Verfügung vom 30.
Mai 2003 ab. Daran hielt sie auf Einsprache der Mutter der Versicherten und
des zuständigen Krankenversicherers von W.________, der Klug
Krankenversicherung, mit Einspracheentscheid vom 16. September 2003 fest.

B.
Die von der Klug Krankenversicherung hiegegen erhobene Beschwerde mit dem
Antrag, die IV-Stelle sei zu verpflichten, die Kosten der Psychotherapie als
medizinische Massnahme zu übernehmen, hiess das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 12. Februar 2004 gut mit der
Feststellung, dass W.________ weiterhin Anspruch auf Kostengutsprache für die
ambulante Psychotherapie habe.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid vom 12. Februar 2004 sei aufzuheben.

Die Klug Krankenversicherung schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während sich die Versicherte nicht vernehmen
lässt. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über den Anspruch von
nichterwerbstätigen Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr auf
psychiatrische Behandlung als medizinische Eingliederungsmassnahme der
Invalidenversicherung (Art. 5 Abs. 2 IVG [in der ab 1. Januar 2003 geltenden
Fassung] in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG und Art. 12 Abs. 1 IVG; BGE 105
V 19 mit Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4.
IVG-Revision sind im hier zu beurteilenden Fall nicht anwendbar, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

1.2  Zu präzisieren ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene ATSG
hinsichtlich des Invaliditätsbegriffs nicht erwerbstätiger Personen vor
vollendetem 20. Altersjahr keine substantiellen Änderungen gegenüber der bis
31. Dezember 2002 gültig gewesenen Normenlage gebracht hat. Die unter der
altrechtlichen Regelung ergangene Judikatur bleibt daher grundsätzlich auch
nach dem In-Kraft-Treten des ATSG und des revidierten Art. 5 Abs. 2 IVG
anwendbar. Im Zusammenhang mit Art. 8 Abs. 2 ATSG wird ausdrücklich
festgehalten, diese Bestimmung lehne sich an die in der bisherigen
Gesetzgebung der Invalidenversicherung enthaltene Umschreibung der
Invalidität von Minderjährigen an (BBl 1991 II 249; Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar, Rz 9 zu Art. 8). Zwar ist der Begriff "voraussichtlich" (vgl.
Art. 8 Abs. 2 ATSG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) an
die Stelle von "wahrscheinlich" (vgl. Art. 5 Abs. 2 in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung) getreten. Dadurch wird betont, dass die
Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit Minderjähriger
aufgrund einer auf die Zukunft ausgerichteten Betrachtungsweise zu beurteilen
ist (Ueli Kieser, a.a.O., Rz 10 zu Art. 8). Dies entspricht der zu Art. 5
Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung ergangenen
Rechtsprechung, wonach bei Minderjährigen die anzunehmende Erwerbsunfähigkeit
nicht zeitlich aktuell gegeben sein muss (vgl. BGE 100 V 103 Erw. 1c; Ulrich
Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 31
f.; Urteil G. vom 11. November 2003, I 457/03).

2.
Geht es um psychische Beeinträchtigungen stellt sich die Frage nach der Natur
des Leidens. Mit Bezug auf Versicherte vor vollendetem 20. Altersjahr ist
zudem zu prüfen, ob ohne die medizinischen Massnahmen eine Heilung mit Defekt
oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung
oder die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt würde, da die medizinischen
Massnahmen bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen
Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters
von der Invalidenversicherung übernommen werden können (BGE 105 V 20, 98 V
215 Erw. 2). Der (fach)ärztliche Bericht ist im allgemeinen eine
unerlässliche Grundlage zur Beurteilung der Anspruchsberechtigung, wobei die
Prüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu erfolgen hat. Hinsichtlich
des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob er für die
streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch
die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und
der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des
Experten begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Die Beurteilung darf sich
somit nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die mögliche Verbesserung oder
Erhaltung von Berufs- und Erwerbsfähigkeit begnügen. Auf weitere Abklärungen
kann selbstverständlich immer dann verzichtet werden, wenn von Vornherein
klar ist, dass die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
5 Abs. 2 IVG und Art. 8 Abs. 2 ATSG nicht erfüllt sind.

3.
Gemäss Bericht des Dr. med. S.________, vom 30. Juni 1999 stand die
Versicherte seit März 1998 in dessen Behandlung wegen Verdacht auf
Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen (Angst- und Panikreaktionen,
Sozialisationsstörung vor allem im Beziehungsbereich mit Abkapselungstendenz
und Distanzlosigkeit sowie mangelndem Körpergefühl). Zudem bestanden
sekundäre Zeichen einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und der
Leistungsfähigkeit mit schwerer Rechtschreibe- und Rechenstörung. Im Verlauf
der ambulanten Psychotherapie waren die Symptome rückläufig. Mit der
Weiterführung der Behandlung sollte indessen eine weitere Regression
vermieden werden. Aufgrund der in der Autismusberatungsstelle durchgeführten
Abklärungen konnte die Diagnose Autismus nicht erhärtet werden. Jedoch wurde
wegen der schweren Ichentwicklungsstörung mit sozialen Problemen und
Leistungsausfällen eine psychotherapeutische Behandung als dringend angezeigt
erachtet (Bericht vom 1. September 1999). Laut Bericht von Dr. med.

S. ________ und lic. phil. B.________ vom 8. Oktober 2001 hat sich der
Zustand
im Verlauf der ambulanten Psychotherapie nach und nach verbessert und
stabilisiert. Infolge der Trennung der Eltern und einer psychotischen
Erkrankung des Vaters mit wiederholten Suizidversuchen tauchte indessen ab
Dezember 2000 eine neue Bedrohung auf mit der Gefahr eines Rückfalls in der
Entwicklungsphase sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Zeit
der Bedrohung und Angst bedeutete für die Versicherte gemäss Bericht von Dr.
med. S.________ und lic. phil. B.________ vom 19. April 2003 eine grosse
Belastung. Ihre kognitiven Fähigkeiten konnten nur mit grosser Mühe aufrecht
erhalten werden. Die schulischen Leistungen verschlechterten sich deutlich,
obwohl sie die fünfte Klasse repetiert hatte. Aufgrund der neuen
Traumatisierungen drohte die Versicherte zu dekompensieren und in frühere
desorganisierte und strukturlose Zustände zurückzufallen. Nach Ansicht der
Therapeuten würde sich eine Regression in der sensiblen Entwicklungsphase der
beginnenden Pubertät ausserordentlich negativ auf die Schulleistungen und die
spätere berufliche Eingliederung auswirken. Laut Bericht von Dr. med.

S. ________ und lic. phil. B.________ vom 21. Juni 2003 hat sich die
Psychotherapie von Beginn weg nicht auf die Behandlung des Leidens an sich
gerichtet, sondern unmittelbar auf die schulische und berufliche
Eingliederung. Die Schulfähigkeit habe dabei wesentlich verbessert werden
können. Seit dem Geschehen um den Vater, der Ungewissheit über dessen
Verbleiben und den damit verbundenen traumatischen Folgen ziele die
Behandlung wegen der Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung
indessen wieder unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur eines stabilen
oder wenigstens relativ stabilisierten Defektzustandes oder
Funktionsausfalles hin. Mit Hilfe der Psychotherapie habe die Störung mit
guter Prognose erfolgreich stabilisiert werden können. Angesichts der
aufflammenden Pubertät und des bevorstehenden Wechsels von der Mittel- in die
Oberstufe müsse die Behandlung indessen noch während mindestens eines Jahres
fortgesetzt werden.

4.
Das kantonale Gericht hat erwogen, die bereits mehrere Jahre andauernde
Behandlung schliesse eine Übernahme durch die Invalidenversicherung nicht
aus. Mit Hilfe der in den vergangenen fünf Jahren durchgeführten ambulanten
Therapie habe die Störung stabilisiert werden können. Da dadurch der Besuch
der Regelklasse habe bewirkt werden können, handle es sich - entgegen der
Auffassung des ärztlichen Dienstes der Verwaltung - nicht um eine Behandlung
des Leidens an sich, sondern um die Verhinderung einer negativen Auswirkung
auf die Berufsausbildung und die künftige Erwerbsfähigkeit. Da die
Veränderung der familiären Situation die bis anhin erzielten Erfolge
erheblich in Frage gestellt hätten, sei eine erneute Therapie mit guter
Prognose notwendig geworden. Eine zeitlich unbegrenzte Behandlung, die im
Sinne einer Dauerbehandlung nicht in den Bereich der Invalidenversicherung
fallen würde, sei aufgrund der Fachberichte auszuschliessen.

5.
Da für die Beurteilung des Anspruchs auf medizinische Massnahmen vor
vollendetem 20. Lebensjahr nicht der Moment massgebend ist, in dem die
beanspruchte Vorkehr durchgeführt wird, sondern der Zeitpunkt, in dem die
versicherte Person voraussichtlich in das Erwerbsleben eintreten wird, haben
Verwaltung und urteilendes Gericht von einer Prognose auszugehen. Diese hat
sich an den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft (vgl. BGE 105 V 20)
und bezogen auf den Einzelfall an der Krankengeschichte (Urteil B. vom 16.
Juli 2004, I 52/04) und den Stellungnahmen von Fachpersonen zu orientieren
(AHI 2000 S. 63). Wesentlich im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist der durch
eine medizinische Massnahme erzielte Nutzeffekt nur dann, wenn er in einer
bestimmten Zeiteinheit einen erheblichen absoluten Grad erreicht, was mit
Blick auf die Besonderheiten des konkreten Falles zu entscheiden ist (vgl.
dazu BGE 115 V 199 Erw. 5a). Im Rahmen der Beweiswürdigung massgebend ist
sodann, ob die Aussagen zur Prognose angesichts des psychischen Leidens und
des bisherigen Krankheitsverlaufs zu überzeugen vermögen. Mit Bezug auf die
Versicherte bezeichneten die behandelnden Therapeuten die Prognose zwar als
günstig. Dies mag für die zur Behandlung anstehende posttraumatische
Belastungsstörung durchaus zutreffen. Der bisherige Verlauf des komplexen
psychischen Leidens zeigt jedoch, dass mit Hilfe der Psychotherapie lediglich
ein stationärer Zustand erreicht werden kann, der bei traumatisch erlebten
Ereignissen zu regredieren droht. So versuchte die Versicherte nach der
familiären Krisensituation dem Zustand vegetativer Übererregtheit mit
Vigilanzsteigerung, übermässiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit zu
entrinnen. Nicht nur die von den Therapeuten erwähnte Entwicklungsphase der
Pubertät und des schulischen Übertritts von der Mittel- in die Oberstufe
stellen heikle Lebensabschnitte dar, die es zu meistern gilt. Das Leiden kann
aufgrund der bisher gemachten Erfahrung nur dank der psychotherapeutischen
Behandlung einigermassen stabil gehalten werden. Da es in einer
Wechselwirkung mit konfliktgeladenen Einflüssen steht, muss angenommen
werden, dass ohne diese Vorkehr in der erforderlichen absehbaren Zeit kein
stabilisierter, die spätere Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Defektzustand
einträte, sondern ein auch auf längere Sicht labiles pathologisches Geschehen
vorliegt. Es fehlt somit am Eingliederungscharakter im Sinne von Art. 12 Abs.
1 IVG, weshalb die IV-Stelle die Kostenübernahme zu Recht abgelehnt hat.

6.
Nach Art. 134 OG darf das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten
auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der
versicherten Personen geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit
stehen. Nach der Rechtsprechung gilt der Grundsatz der Unentgeltlichkeit des
Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht nicht für den Fall,
dass sich zwei Unfallversicherer (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119 V 223 Erw. 4c),
ein Kranken- und ein Unfallversicherer (BGE 126 V 192 Erw. 6, AHI 1998 S.
110), die Invalidenversicherung und ein Unfallversicherer (AHI 2000 S. 206
Erw. 2) oder - wie vorliegend - die Invalidenversicherung und ein
Krankenversicherer (Urteil M. vom 6. Mai 2003, I 16/03) über ihre
Leistungspflicht für einen gemeinsamen Versicherten streiten. Folglich hat
die Klug Krankenversicherung als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. Februar 2004
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 3000.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich, dem Bundesamt für
Sozialversicherung und W.________ zugestellt.

Luzern, 11. August 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: