Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 140/2004
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I 140/04

Urteil vom 25. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Ackermann

C.________, 1953, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Carlo Köhl,
Bahnhofstrasse 8, 7000 Chur,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 13. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
C. ________, geboren 1953, arbeitete ab März 2000 bis zu seiner Entlassung
wegen massiven Auftragseinbruchs per Ende November 2002 als Hilfsarbeiter für
die Firma Q.________ AG. Wegen chronischer Rückenschmerzen meldete er sich am
20. Dezember 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf
die IV-Stelle des Kantons Graubünden je einen Bericht der ehemaligen
Arbeitgeberin vom 15. Januar 2003 und des Dr. med. B.________, Facharzt FMH
für Innere Medizin, speziell Rheumatologie, vom 22. Januar 2003 (mit Bericht
der Klinik X.________ vom 17. Dezember 2002) einholte. Im Weiteren zog die
Verwaltung die Akten der Arbeitslosen- und Taggeldversicherung bei; Letztere
hatte C.________ im Verlauf des Jahres 2002 mehrmals Leistungen ausgerichtet.
Mit Verfügung vom 7. Mai 2003 lehnte die IV-Stelle den Anspruch auf Rente und
berufliche Massnahmen mangels Bestehens einer Invalidität ab, da C.________
für leichte und mittelschwere Tätigkeiten vollständig arbeitsfähig sei. Die
mit Bericht des Dr. med. B.________ vom 6. Juni 2003 erhobene Einsprache
wurde mit Einspracheentscheid vom 29. September 2003 abgewiesen.
Nachdem sich C.________ auch bei der Arbeitslosenversicherung angemeldet und
diese ab Januar 2003 Taggeldleistungen erbracht hatte, verneinte das Amt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit des Kantons Graubünden (KIGA) mit Verfügung vom
18. September 2003 die Vermittlungsfähigkeit des C.________ und lehnte ab dem
19. August 2003 den Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung ab.
Eine dagegen erhobene Einsprache ist zur Zeit noch hängig.

B.
Die gegen den Einspracheentscheid der IV-Stelle erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 13. Januar 2004
ab, nachdem es je einen von der Arbeitslosenversicherung veranlassten
Abklärungsbericht der Institution I.________ vom 17. Juli 2003 und einen
Arztbericht der A.________, AG für medizinische und versicherungstechnische
Abklärungen, vom 21. August 2003 zu den Akten genommen hatte.

C.
C.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides sei
die Sache an die Verwaltung zur weiteren Abklärung und zur Neubeurteilung der
Ansprüche auf Rente und berufliche Massnahmen zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 ATSG sowie
BGE 125 V 195 Erw. 2) und den zeitlich massgebenden Sachverhalt (RKUV 2001
Nr. 419 S. 101) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Am 1. Januar 2004 ist die 4. IVG-Revision in Kraft getreten. Weil in
zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die
bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben
(BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei
der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (September 2003) eingetretenen
Sachverhalt abstellt (RKUV 2001 Nr. 419 S. 101), sind im vorliegenden Fall
die bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Streitig ist der Anspruch auf Rente sowie berufliche Massnahmen der
Invalidenversicherung und in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage des
Vorliegens einer Invalidität resp. die Frage, ob sich der Gesundheitszustand
zwischen Verfügungserlass im Mai 2003 und dem Einspracheentscheid Ende
September 2003 geändert hat.

2.1 Das kantonale Gericht stellt auf die Berichte der Klinik X.________  von
Dezember 2002 und des Dr. med. B.________ von Januar 2003 ab, die durch die
weiteren in den Akten liegenden Berichte nicht entkräftet würden; so sei
insbesondere die geklagte Symptomausweitung nicht belegt. Der
Beschwerdeführer ist demgegenüber der Auffassung, aus dem Bericht des Dr.
med. B.________ von Juni 2003 und dem auf konkreten Abklärungen beruhenden
Bericht der Institution I.________ von Juli 2003 ergäben sich Anhaltspunkte
für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes, die zu weiteren
Abklärungen hätten führen müssen; aufgrund der geklagten Symptomausweitung
sei insbesondere eine psychiatrische Abklärung durchzuführen. Im Weiteren
habe die Arbeitslosenversicherung gestützt auf die Berichte der Institution
I.________ und der A.________ AG von August 2003 die Vermittlungsfähigkeit
verneint; es könne jedoch nicht sein, dass betreffend des gleichen
hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarktes gleichzeitig eine vollständige
Arbeitsfähigkeit (Invalidenversicherung) und eine ganze Arbeitsunfähigkeit
(Arbeitslosenversicherung) bestehe.

2.2 Im Bericht vom 17. Dezember 2002 kommt die Klinik X.________  aufgrund
eines einmonatigen Aufenthaltes des Versicherten klar zum Ergebnis, dass für
leichte bis mittelschwere Tätigkeiten eine vollständige Arbeitsfähigkeit
vorliege. Dr. med. B.________ verweist im Bericht vom 22. Januar 2003 auf
diese Einschätzung; zudem weist er darauf hin, dass in den letzten Monaten
eine Verschlechterung stattgefunden habe und die Situation "eher noch
unstabil" sei. Jedoch fällt auf, dass der Arzt im gleichen Bericht eine
ergänzende medizinische Abklärung für nicht angezeigt erachtet.
Nach Verfügungserlass im Mai 2003 wird im Bericht des Dr. med. B.________ vom
6. Juni 2003 zwar eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes geltend
gemacht, jedoch handelt es sich dabei offensichtlich nur um eine Wiedergabe
der Aussagen des Versicherten; entgegen der Auffassung in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird dadurch eine Veränderung nicht medizinisch
belegt. Für die Arbeitslosenversicherung hat die A.________ AG eine
vertrauensärztliche Beurteilung und Untersuchung durchgeführt und im Bericht
vom 21. August 2003 festgehalten, dass im "Laufe dieses Jahres ... weitere
Beschwerden mit unklaren Schmerzen in verschiedenen Gelenken hinzugekommen"
seien, die jedoch gemäss Hausarzt keinem rheumatologischen Leiden zugeordnet
werden könnten; es sei von einer Symptomausweitung auszugehen. In der
Beurteilung hält die A.________ AG fest, dass infolge der Symptomausweitung
"eine erhebliche Diskrepanz zwischen den objektiv zu erhebenden Befunden und
dem Beschwerdebild" bestehe und "rein theoretisch" von einer vollständigen
Arbeitsfähigkeit für leidensangepasste Tätigkeiten (wechselnd
sitzend/stehend/gehend, manuelle Arbeit ohne Heben von Lasten über zehn
Kilogramm) auszugehen sei. "Aufgrund der ... bereits eingetretenen
Symptomausweitung" sei ein solcher Einsatz jedoch kaum zu realisieren. Damit
ist davon auszugehen, dass eine Symptomausweitung ärztlich nachgewiesen ist,
wobei jedoch nicht klar ist, ob die von der A.________ AG berichtete
Symptomausweitung allenfalls auf einem psychischen Gesundheitsschaden mit
Krankheitswert beruht, welche die Verwertung der theoretischen
Restarbeitsfähigkeit verunmöglicht, oder ob eine als nicht relevant geltende
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit vorliegt, die der Versicherte bei
Aufbietung allen guten Willens zu vermeiden vermöchte (wobei das Mass des
Forderbaren weitgehend objektiv zu bestimmen ist; BGE 102 V 165, AHI 2001 S.
228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine). Wegen
der von der A.________ AG angenommenen und in ihrer Berurteilung der
Arbeitsfähigkeit berücksichtigten, aber nicht weiter erläuterten
Symptomausweitung besteht hier Anlass, diese Frage im Rahmen des
Untersuchungsgrundsatzes abzuklären. Die Sache ist deshalb an die Verwaltung
zurückzuweisen, damit sie die ihr in dieser Hinsicht notwendig erscheinenden
Vorkehren treffe und anschliessend neu verfüge.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen
Verfahrens entsprechend steht dem obsiegenden Versicherten eine
Parteientschädigung zu (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 13. Januar 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 29. September
2003 aufgehoben, und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden, der Ausgleichskasse für Gewerbe, Handel und Industrie in
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 25. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: