Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 139/2004
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I 139/04

Urteil vom 20. Oktober 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Lanz

G.________, 1969, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Herbert
Bracher, Hauptgasse 35, 4500 Solothurn,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 30. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1969 geborene türkische Staatsangehörige G.________ reiste im Jahr 1980
in die Schweiz ein und schloss hier die Volksschule ab. Danach war er als
Hilfskraft bei verschiedenen Unternehmungen und zuletzt ab 1988 als
Transporteur in einem metallverarbeitenden Betrieb tätig. Ab November 1997
bestand wegen persistierenden Rückenschmerzen eine Arbeitsunfähigkeit, was
die Arbeitgeberin veranlasste, im Juni 1998 die Kündigung des
Anstellungsverhältnisses per Ende September 1998 auszusprechen. Im Dezember
1998 meldete sich G.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle Bern zog Arztberichte bei und veranlasste einen
Eingliederungsversuch, der erfolglos blieb. Nachdem verschiedene ambulante
und stationäre medizinische Behandlungen nicht zu einer bleibenden Besserung
des somatischen und mittlerweile auch psychischen Leidensbildes geführt
hatten, holte die Verwaltung ein MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2002 ein und
prüfte die Rentenfrage. Gestützt auf die fachärztlichen Feststellungen sprach
sie dem Versicherten mir Verfügungen vom 21. Oktober 2002 Rentenleistungen
zu. Am 25. Oktober 2002 hob die IV-Stelle diese Verwaltungsakte
wiedererwägungsweise auf, und sie entschied neu über die
Anspruchsberechtigung, indem sie G.________ mit einer ersten Verfügung
rückwirkend ab 1. Oktober 2002 eine halbe Invalidenrente nebst Zusatzrente
für die Ehegattin und einer Kinderrente für die Tochter (geb. im Januar
1991), und mit einer zweiten Verfügung eine ab 1. November 1999 laufende
Kinderrente für den Sohn (geb. im November 1999) zusprach. Dies verband sie
mit dem Hinweis, dass über die Berechtigung auf die mit der ersten Verfügung
zugesprochenen Leistungen für den Zeitraum vom 1. November 1998 bis 30.
September 2002 nach Klärung von Dritt- resp. Verrechnungsforderungen zu
befinden sein werde (Verfügungen vom 25. Oktober 2002).

B.
G.________ erhob gegen die Verfügungen vom 25. Oktober 2002 Beschwerde mit
dem Antrag, es sei ihm rückwirkend ab 1. November 1998 eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen.

Während des kantonalen Gerichtsverfahrens verfügte die IV-Stelle am 13. März
2003 die ab 1. Oktober 2002 zugesprochenen Renten auch für den Zeitraum vom
1. November 1998 bis 30. September 2002, wobei sie zugleich - im
zwischenzeitlich erzielten Einvernehmen mit dem Versicherten - über eine
Verrechnung mit geleisteten IV-Taggeldern und die Vergütung eines
Drittanspruches befand. Daran hielt die Verwaltung auf die von G.________ im
Rentenpunkt erhobene Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 5.
September 2003). Hiegegen reichte der Versicherte wiederum Beschwerde ein.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern vereinigte die beiden
Rechtsmittelverfahren und wies die Beschwerden mit Entscheid vom 30. Januar
2004 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und sein
vorinstanzliches Rechtsbegehren auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente
ab 1. November 1998 erneuern.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne
weiter zur Sache Stellung zu nehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat
sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer ab 1. November
1998 Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (nebst Zusatzrente für
die Ehefrau und zwei Kinderrenten, wovon die eine laufend erst ab 1. November
1999) hat. Streitig und zu prüfen ist, ob die Leistungsberechtigung in einer
ganzen anstelle der zugesprochenen halben Invalidenrente (mit den
entsprechenden Auswirkungen auf die akzessorischen Renten) besteht.

2.
2.1 Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 am 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente
der Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen
Regeln heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei einer Änderung der
gesetzlichen Grundlagen - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend
sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts
galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002
auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu
prüfen (noch nicht in der Amtlichen Sammlung publiziertes Urteil M. vom 5.
Juli 2004, I 690/03, Erw. 1 mit Hinweisen). Da rechtsprechungsgemäss der
streitige Verwaltungsakt (hier: Verfügungen vom 25. Oktober 2002 und
Einspracheentscheid vom 5. September 2003) die zeitliche Grenze der
richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 129 V 4 Erw. 1.2; vgl. auch
noch nicht in der Amtlichen Sammlung publiziertes Urteil M. vom 5. Juli 2004,
I 690/03, Erw. 1, je mit Hinweisen), finden demgegenüber die am 1. Januar
2004 im Rahmen der 4. IV-Revision in Kraft getretenen Rechtsänderungen keine
Anwendung (Urteil A. vom 9. September 2004, I 269/04, Erw. 1.1).
2.2 Das kantonale Gericht hat die demnach für die Anspruchsberechtigung bis
31. Dezember 2002 massgebenden Rechtsgrundlagen im angefochtenen Entscheid
zutreffend dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Gesetzesbestimmungen
über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 IVG in der bis Ende 2002 gültig
gewesenen Fassung), die Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine
Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 [in der bis Ende 2003 gültig
gewesenen Fassung] und Abs. 1bis [in Kraft gewesen bis Ende 2003]) und die
Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen (Art. 28 Abs. 2 IVG, in Kraft
gewesen bis Ende 2002) sowie die hiezu von der Rechtsprechung erarbeiteten
Grundsätze. Darauf wird verwiesen.

Was die Rentenberechtigung ab 1. Januar 2003 betrifft, ist in Ergänzung der
vorinstanzlichen Erwägungen festzuhalten, dass sich mit In-Kraft-Treten des
ATSG an den oben dargelegten gesetzlichen Grundlagen inhaltlich nichts
Wesentliches geändert hat und auch die dazu ergangene Rechtsprechung
anwendbar bleibt (noch nicht in der Amtlichen Sammlung publizierte Urteile M.
vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 2, und A. vom 30. April 2004, I 626/03, Erw.
2 und 3).

3.
Verwaltung und Vorinstanz haben den Invaliditätsgrad mittels
Einkommensvergleich bestimmt und sind gestützt auf die Angaben der früheren
Arbeitgeberin davon ausgegangen, dass der Versicherte ohne invalidisierende
Gesundheitsschädigung im Jahr 1998 (Rentenbeginn als massgebender
Vergleichszeitpunkt; vgl. BGE 129 V 222) mutmasslich ein Erwerbseinkommen von
Fr. 62'700.- (Valideneinkommen) erzielt hätte. Hiegegen werden, nach Lage der
Akten zu Recht, keine Einwendungen erhoben.
Streitig ist, welches Einkommen der Beschwerdeführer trotz invalidisierender
Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch erzielen könnte
(Invalideneinkommen) und dabei vorab die Frage, ob und bejahendenfalls in
welchem Umfang aus medizinischer Sicht überhaupt noch die Ausübung einer
Erwerbstätigkeit erwartet werden darf.

4.
4.1 Gemäss MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2002 leidet der Beschwerdeführer an
einem chronischen Lumbovertebralsyndrom bei Discopathie L5/S1 mit
wahrscheinlich radikulärem Reizsyndrom L5 links, an einer depressiven
Entwicklung resp. langanhaltenden mittelgradigen depressiven Episode mit
somatischem Syndrom sowie an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung.
Diese Diagnosen stimmen, auch im Verständnis der Parteien, mit den
Beurteilungen in den übrigen medizinischen Akten weitgehend überein.

4.2 Die MEDAS-Fachärzte sind im Gutachten vom 4. Juni 2002 weiter zum
Ergebnis gelangt, dem Beschwerdeführer seien körperlich anstrengende
Tätigkeiten resp. körperliche Schwerarbeiten gesundheitsbedingt nur noch zu
30 % zumutbar. Eine körperlich adaptierte Arbeit (ohne Zwangshaltungen und
repetitives Lastenheben, mit der Möglichkeit, die Körperposition zu wechseln)
hingegen sei in Anbetracht der nur bescheidenen somatischen Befunde
vollumfänglich möglich. Die funktionelle Leistungsfähigkeit in einer solchen
Betätigung sei aber aufgrund des psychischen Krankheitsbildes um 50 %
eingeschränkt.

4.2.1 Der Versicherte beanstandet die Aussagen der MEDAS-Experten zur
somatisch bedingten Beeinträchtigung - nach Lage der übrigen medizinischen
Akten zu Recht - nicht. Er macht aber geltend, dass unter Berücksichtigung
auch der psychischen Leidenskomponenten insgesamt eine vollumfängliche
Arbeitsunfähigkeit bestehe. Hiebei beruft er sich namentlich auf
entsprechende Stellungnahmen der Klinik L.________, Medizinische Abteilung,
in welchem er sich auf Veranlassung des Hausarztes wiederholt auch zur
stationären Behandlung aufgehalten hat, und des Dr. med. W.________,
Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, welcher den Versicherten
seit April 2000 behandelt.

4.2.2 Dr. med. W.________ begründet im Bericht vom 14. April 2002 seine
Aussage, wonach nebst der bisher ausgeübten Arbeit auch jede andere
Erwerbstätigkeit psychisch nicht zumutbar sein soll, einzig mit der fehlenden
Berufsausbildung des Versicherten und mit gescheiterten
Wiedereingliederungsversuchen. Eine gesundheitsbedingte volle
Arbeitsunfähigkeit ist damit nicht dargetan. Zu beachten ist ferner, dass
Stellungnahmen des Hausarztes mit Blick auf dessen auftragsrechtliche
Vertrauensstellung mit Zurückhaltung zu würdigen sind (vgl. BGE 125 V 353
Erw. 3b/cc mit Hinweisen), was für Berichte des die versicherte Person
behandelnden Spezialarztes gleichermassen gilt (Urteile J. vom 17. Juni 2004,
U 164/03, Erw. 3.3, und R. vom 26. Juni 2003 Erw. 2.2.3, I 460/02).

Die Stellungnahmen seitens der Klinik L.________ (namentlich im
Austrittsbericht vom 20. Dezember 2001) wurden nicht im Rahmen eines
Begutachtungsauftrages eines Sozialversicherungsträgers oder -gerichtes
abgegeben. Es handelt sich dabei im Wesentlichen lediglich um Berichte über
die erfolgte Behandlung des Versicherten. Die Klinikärzte messen zudem der
psychosozialen Belastungssituation eine wesentliche Bedeutung zu, ohne
überzeugend darzutun, dass eine davon zu trennende verselbstständigte
psychische Störung eine volle Arbeitsunfähigkeit zu begründen vermöchte (vgl.
BGE 127 V 299). Zu beachten ist überdies, dass mit der Aussage, der
Beschwerdeführer sei nicht vermittelbar und keinem Arbeitgeber auf dem freien
Arbeitsmarkt zumutbar, bereits eine erwerbsbezogene Wertung vorgenommen wird,
welche im Rahmen der Invaliditätsbemessung nicht dem Arzt obliegt (BGE 125 V
261 Erw. 4).

4.2.3 Zusammenfassend vermögen die Stellungnahmen des Dr. W.________ und der
Klinik L.________ nicht, Zweifel an der auf polydisziplinären Untersuchungen
des Versicherten und der Kenntnis der medizinischen Vorakten beruhenden,
einlässlich erläuterten und auch hinsichtlich der getroffenen
Schlussfolgerungen überzeugenden Beurteilung im MEDAS-Gutachten vom 4. Juni
2002 zu begründen. Die MEDAS-Experten haben dabei den von ihnen ausdrücklich
erwähnten Bericht der Klinik L.________ vom 20. Dezember 2001 mit
berücksichtigt. Sie sahen sich deswegen nicht veranlasst, von der auf einer
nachvollziehbar dargelegten Gesamtwürdigung fussenden Einschätzung zur
Restarbeitsfähigkeit abzuweichen. Wie das kantonale Gericht zudem richtig
erkannt hat, sind - entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneut
vertretenen Auffassung - die Aussagen im MEDAS-Gutachten zu den dem
Versicherten aus ärztlicher Sicht noch zumutbaren Tätigkeiten auch
hinreichend präzise, um die erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitsschadens
ermitteln zu können.

5.
Für die Bemessung des dem Versicherten noch zumutbaren Invalideneinkommens
haben Verwaltung und Vorinstanz mangels erneuter Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit durch den Beschwerdeführer zulässigerweise statistische
Durchschnittslöhne herangezogen (BGE 126 V 76 f. Erw. 3b/bb).

Gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung (LSE) belief sich der monatliche Bruttolohn (Zentralwert
bei einer standardisierten Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) der mit
einfachen und repetitiven Arbeiten (Anforderungsniveau 4) im gesamten
privaten Sektor beschäftigten Männer im Jahr 1998 auf Fr. 4268.- (LSE 1998
Tabelle TA1). Die Umrechnung auf die betriebsübliche Arbeitszeit im Jahr 1998
von 41,9 Wochenstunden (Die Volkswirtschaft, Heft 10/2004, Tabelle B9.2 S.
90) führt bei der noch gegebenen hälftigen Arbeitsfähigkeit aufs Jahr zu
einem Einkommen von Fr. 26'824.- (Fr. 4268.- : 40 x 41,9 : 2 x 12).

Vom anhand von Tabellenlöhnen ermittelten Invalideneinkommen kann unter
bestimmten, von der Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen ein Abzug
vorgenommen werden, wobei dieser für sämtliche in Betracht fallenden Umstände
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre,
Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) gesamthaft zu
schätzen und unter Berücksichtigung aller jeweils in Betracht fallender
Merkmale auf höchstens 25 % zu beschränken ist (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5).

Die Verwaltung hat einen leidensbedingten Abzug von 10 % vorgenommen, was mit
der Vorinstanz als angemessen zu betrachten ist. In der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nichts vorgebracht, was einen höheren
Abzug zu rechtfertigen vermöchte. Das Invalideneinkommen beläuft sich demnach
auf Fr. 24'141.- (90 % von Fr. 26'824.-), was im Vergleich mit dem
Valideneinkommen von Fr. 62'700.- (Erw. 3 hievor) eine invaliditätsbedingte
Erwerbseinbusse von 38'559.-, entsprechend einem Invaliditätsgrad von rund
61.5 %, ergibt. Damit besteht (jedenfalls bis 31. Dezember 2003
[In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision]) Anspruch lediglich auf die
zugesprochene halbe Rente.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 20. Oktober 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: