Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 136/2004
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I 136/04

Urteil vom 22. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Fessler

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1945, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Marcus
Andreas Sartorius, Rudenz 12, 3860 Meiringen

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 16. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
A.a Der 1945 geborene S.________ bezog ab 1. Januar 1994 für die erwerblichen
Folgen einer sekundären Coxarthrose links (Status nach zweimaliger
endoprothetischer Versorgung) eine halbe Härtefallrente der
Invalidenversicherung samt Zusatzrente für die Ehefrau sowie zwei
Kinderrenten (Verfügung vom 3. November 1998).

Mit Schreiben vom 11. Juli 2000 beantragte S.________ eine ganze
Invalidenrente. Er machte geltend, nach der dritten Hüftgelenksoperation 1997
habe sich sein Gesundheitszustand massiv verschlechtert. Die IV-Stelle Bern
klärte die gesundheitlichen Verhältnisse ab. Unter anderem liess sie den
Versicherten vom Rheumatologen Dr. med. R.________ begutachten (Expertise vom
15. November 2000). Mit Vorbescheid vom 30. August 2001 teilte die IV-Stelle
S.________ mit, das Revisionsbegehren müsse abgelehnt werden.

A.b Ende Oktober 2001 reichte der Orthopäde Dr. med. N.________, bei welchem
S.________ seit 1979 wegen des Hüftleidens in Behandlung steht, der IV-Stelle
ein ärztliches Zeugnis ein. Der Facharzt wies darauf hin, es bestehe (auch)
eine Coxarthrose rechts mit ausgedehnter Limbusläsion. Auf Grund des
Beschwerdebildes und der Behinderung sowie des Alters habe er eine
Hüftgelenks-Totalendoprothese (TP) vorgeschlagen. Der Patient sei für einen
operativen Eingriff noch nicht bereit. Er möchte eine andere Behandlungsform
zumindest nicht unversucht lassen. Dazu führte Dr. med. R.________ im Bericht
vom 7. Februar 2002 aus, mit einer zumutbaren und erfolgversprechenden
Operation liesse sich eine allfällige Arbeitsunfähigkeit, soweit sie durch
das Hüftleiden rechts bedingt sei, erheblich vermindern. Mit Schreiben vom
17. April 2002 teilte die IV-Stelle dem Rechtsvertreter von S.________,
Fürsprecher Marcus Andreas Sartorius, mit, sie könne zum Leistungsbegehren
nicht abschliessend Stellung nehmen, bevor nicht die medizinischen
Möglichkeiten zur Verbesserung der Erwerbsfähigkeit vollends ausgeschöpft
seien. Die Abklärungen hätten ergeben, dass durch eine Hüftgelenks-TP rechts
die Beschwerden deutlich nachliessen oder verschwänden. Eine Verbesserung und
Stabilisierung des Gesundheitszustandes und der Erwerbsfähigkeit könnten
erwartet werden. Der Versicherte solle sich an seinen Arzt wenden, damit
dieser die nötigen Schritte für den Eingriff einleiten könne. Bei
Nichtbefolgung der Aufforderung werde die Rente vorübergehend oder dauernd
verweigert oder entzogen. Am 30. September 2002 reichte Fürsprecher Sartorius
ein ärztliches Zeugnis des Dr. med. B.________ vom 25. September 2002 ein.
Darin führte der Hausarzt u.a. aus, die vermehrten Hüftschmerzen rechts
hätten bisher mit NSAR einigermassen beherrscht werden können. Bei wachsendem
Leidensdruck zeichne sich jedoch auch hier die Notwendigkeit einer
TP-Implantation ab. Mit Schreiben vom 26. März 2003 bestritt der
Rechtsvertreter von S.________ die medizinische Indikation einer
Hüftgelenks-TP rechts.

Mit Verfügung vom 8. Juli 2003 stellte die IV-Stelle die Rentenzahlungen
wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht auf Ende des Monats ein. Gleichzeitig
entzog sie einer allfälligen Einsprache die aufschiebende Wirkung. Mit
Einspracheentscheid vom 2. Oktober 2003 hielt die Verwaltung an ihrem
Standpunkt fest, wobei sie weder über das Begehren um Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung entschied noch einer allfälligen Beschwerde die
aufschiebende Wirkung entzog.

B.
S.________ liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde
einreichen und beantragen, Einspracheentscheid und Verfügung seien aufzuheben
und die IV-Stelle sei zu verpflichten, unverzüglich die Rentenleistungen
wieder zu bezahlen sowie das Revisionsgesuch vom 11. Juli 2000 zu prüfen;
eventualiter sei ihm eine ganze Invalidenrente rückwirkend ab 1. Juli 2000
zuzusprechen.

Die IV-Stelle schloss in der Vernehmlassung auf Abweisung des Rechtsmittels.

Mit Verfügung vom 5. Dezember 2003 stellte das Gericht fest, die Beschwerde
habe aufschiebende Wirkung. Die bisherige Rente sei weiter auszurichten. Am
17. Dezember 2003 teilte die IV-Stelle die Weiterausrichtung der Rente ab 1.
August 2003 mit.

Mit Entscheid vom 16. Februar 2004 hiess das bernische Verwaltungsgericht die
Beschwerde gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 2. Oktober 2003 auf und
wies die Sache an die IV-Stelle zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen
zurück.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei in Bezug auf die Anordnung der Vornahme
medizinischer Abklärungen aufzuheben.

S. ________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Entzieht oder widersetzt sich eine versicherte Person einer zumutbaren
Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben, die eine wesentliche
Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine neue Erwerbsmöglichkeit
verspricht, oder trägt sie nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu
bei, so können ihr die Leistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder
verweigert werden. Sie muss vorher schriftlich gewarnt und auf Rechtsfolgen
hingewiesen werden; ihr ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen.
Behandlungs- oder Eingliederungsmassnahmen, die eine Gefahr für Leben und
Gesundheit darstellen, sind nicht zumutbar (Art. 21 Abs. 4 ATSG).

Art. 21 Abs. 4 ATSG ist auch im Bereich der Invalidenversicherung anwendbar
(Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG). Er stimmt inhaltlich weitgehend mit der
Regelung von alt Art. 10 Abs. 2 IVG und alt Art. 31 IVG (je in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2002) überein. Die hiezu ergangene Rechtsprechung
ist somit zu beachten (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, S. 225 ff. mit
Hinweisen auf die Materialien).

1.2 Die IV-Stelle hat gestützt auf Art. 21 Abs. 4 ATSG die Rentenleistungen
ab 1. August 2003 eingestellt. Der Versicherte habe trotz Ermahnung und
Hinweis auf seine Schadenminderungspflicht die von Dr. med. N.________
empfohlene Hüftoperation rechts abgelehnt. Dabei handle es sich um eine
geeignete und zumutbare medizinische Massnahme zur Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit. Dies werde von Dr. med. R.________ bestätigt
(Einspracheentscheid vom 2. Oktober 2003).

2.
2.1 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist die absolute Notwendigkeit der
TP-Operation an der rechten Hüfte nach den vorliegenden medizinischen
Unterlagen nicht ausgewiesen. Daraus ergebe sich nicht, dass der Eingriff mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Besserung des Leidens resp.
der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit brächte oder unabdingbar für deren Erhalt
sei. Unter diesen Umständen sei überhaupt fraglich, ob von einer eigentlichen
Weigerung zur Vornahme der Operation gesprochen werden könne. Abgesehen davon
sei nicht ersichtlich, wie durch diese Massnahme die Beschwerden an der linke
Hüfte hätten beeinflusst werden können. Ein Kausalzusammenhang zwischen der
allfälligen Weigerung und der Ausrichtung der Rente sei aber allemal nicht
anzunehmen (Erw. 3.2 und 3.3 erster Abschnitt des angefochtenen Entscheides).

Weiter hat das kantonale Gericht ausgeführt, die IV-Stelle habe es
unterlassen, umfassende medizinische Abklärungen durchzuführen, die eine
zuverlässige Beurteilung des Gesundheitszustandes des Versicherten erlaubten
und Auskunft darüber gäben, ob und wenn ja, welche medizinischen Massnahmen
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Besserung der
gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit sich brächten. Dies werde sie
nachzuholen haben. Die Akten gingen zurück an die Verwaltung zur materiellen
Beurteilung des Gesuchs vom 11. Juli 2000 um Ausrichtung einer höheren Rente.
Nach erfolgter umfassender medizinischer Abklärung unter Berücksichtigung
aller Leiden werde die IV-Stelle sodann neu zu verfügen haben (Erw. 3.3
zweiter Abschnitt und Erw. 4 des angefochtenen Entscheides).

2.2 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde führende IV-Stelle rügt die Anordnung
der Vornahme umfassender medizinischer Abklärungen. Sie beantragt die
Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides in Bezug auf die ihr auferlegte
Vorgehensweise. Zur Begründung bringt die Verwaltung vor, auf Grund der
medizinischen Unterlagen sei die Hüftgelenks-TP rechts zur Schadenminderung
klar indiziert, wobei für die Prüfung deren Verletzung die mögliche
Gesamtarbeitsfähigkeit zum Massstab zu nehmen sei.

3.
3.1 Es kann offen bleiben, ob gestützt auf Art. 21 Abs. 4 ATSG die als Folge
des Hüftleidens links zugesprochene halbe Härtefallrente mit der Begründung
verweigert werden kann, der Versicherte habe auch nach Durchführung des Mahn-
und Bedenkzeitverfahrens eine zumutbare totalendoprothetische Versorgung der
Hüfte rechts abgelehnt (vgl. immerhin Kieser a.a.O. S. 230 Rz 72). Ebenfalls
braucht nicht abschliessend beurteilt zu werden, ob aus medizinischer Sicht
eine Hüftgelenks-TP rechts indiziert ist, wie die IV-Stelle geltend macht.
Selbst wenn es sich so verhielte, genügte dies nicht, um die Zumutbarkeit des
Eingriffs nach Art. 21 Abs. 4 ATSG zu bejahen. Danach muss die medizinische
Massnahme eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine neue
Erwerbsmöglichkeit versprechen, oder sie muss geeignet sein, die
Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 12 Abs.
1 IVG; vgl. auch Kieser a.a.O. S. 228 f. Rz 64). Ob dies zutrifft, kann
aufgrund der Akten nicht gesagt werden. Es fehlt schon an einer schlüssigen
fachärztlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ohne endoprothetische
Versorgung der Hüfte rechts. Ebenso fehlt es an ärztlichen Aussagen, ob die
Hüftoperation rechts die Erwerbsfähigkeit gesamthaft verbessert. Bereits aus
diesem Grund ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unbegründet.

3.2 Dem Gesagten ist Folgendes beizufügen: Erwägung 3.3 zweiter Abschnitt
sowie Erwägung 4 des angefochtenen Entscheides (vgl. Erw. 2.1 hievor) haben
insofern Bezug zum Streitgegenstand (Einstellung der Rentenleistungen der
Invalidenversicherung ab 1. August 2003), als mit der Sanktion auch die
beantragte revisionsweise Erhöhung der halben Härtefallrente auf eine ganze
Rente verweigert wird. Ob, und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt Anspruch
auf eine ganze Rente besteht, kann auf Grund der Akten indessen nicht gesagt
werden. Die Sache ist insofern nicht spruchreif, wie auch die Vorinstanz
richtig festhält. Dies wird denn auch zu Recht nicht bestritten. In diesem
Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Entstehung eines
Rentenanspruches oder die revisionsweise Erhöhung der Rente möglich ist, so
lange das Mahn-und Bedenkzeitverfahren nicht durchgeführt wurde (vgl. AHI
1997 S. 41 Erw. 5a; vgl. auch BGE 126 V 157).

3.3 Der angefochtene Entscheid ist somit im Ergebnis rechtens.

4.
Der Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 OG
in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 22. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: