Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 118/2004
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I 118/04

Urteil vom 13. April 2006

I. Kammer

Pr sidentin Leuzinger, Bundesrichter Ursprung, Sch n, Borella und Seiler;
Gerichtsschreiber Traub

V.________, 1964, Beschwerdef hrer, vertreten durch Rechtsanwalt Ivan
Ljubicic, Luzernerstrasse 60, 6031 Ebikon,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, Luzern

(Entscheid vom 23. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1964 geborene V.________, seit M rz 1987 und bis September 1997 als
Bauarbeiter erwerbst tig, zog sich am 31. Juli 1996 bei einem Verkehrsunfall
eine Kompressionsfraktur des ersten Lendenwirbelk rpers zu. In der Folge
stellte sich im Wesentlichen ein lumbospondylogenes Syndrom mit
mittelschwerer Beweglichkeitseinschr nkung und Irritationssymptomatik der
Lendenwirbels ule ein (Austrittsbericht der Rehabilitationsklinik L.________
vom 12. Februar 1997). Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
sprach V.________ eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunf higkeit von 27 %
sowie eine Integrit tsentsch digung aufgrund einer Einbusse von 20 % zu. Auf
Anmeldung vom 9. Februar 1998 hin pr fte die IV-Stelle Luzern die
medizinischen und erwerblichen Verh ltnisse und stellte mit Verf gung vom 15.
Mai 2002 fest, der Invalidit tsgrad betrage 15 %, weshalb kein Anspruch auf
eine Invalidenrente oder eine Umschulung bestehe. In einer weiteren Verf gung
vom 6. Juni 2002 sprach sie dem Versicherten jedoch Leistungen der
Arbeitsvermittlung zu.

B.
Die gegen die Verf gung vom 15. Mai 2002 erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern ab (Entscheid vom 23. Januar 2004).

C.
V.________ l sst Verwaltungsgerichtsbeschwerde f hren mit den Rechtsbegehren,
es sei ihm, in Aufhebung der strittigen Verf gung und des angefochtenen
kantonalen Entscheids, mit Wirkung ab dem 1. August 1997 eine Invalidenrente
auf der Basis eines Invalidit tsgrades von mindestens 66 2/3 % und ab dem 1.
Januar 2004 auf der Grundlage eines Invalidit tsgrades von mindestens 70 %
zuzusprechen; eventuell seien ihm berufliche Eingliederungsmassnahmen "in
Form einer Umschulung oder Anlehre f r eine seinem Leiden angepasste
berufliche T tigkeit" sowie, bis zum Antritt derselben, ein Wartetaggeld zu
gew hren. Subeventuell sei die Sache zur weiteren Abkl rung und neuen
Verf gung an eine der Vorinstanzen zur ckzuweisen. Ausserdem ersucht er um
Gew hrung der unentgeltlichen Verbeist ndung.

Die IV-Stelle Luzern schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt f r Sozialversicherung enth lt
sich der Stellungnahme.

D.
Mit Eingabe vom 23. M rz 2006 reicht der Beschwerdef hrer die Kopie eines
neuen Leistungsgesuchs ein. Dieses beruht unter anderem auf einem
Austrittsbericht des Psychiatriezentrums S.________ am Spital A.________ vom
19. Januar 2006.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erw gung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz  ber den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten und
auf den 1. Januar 2004 die Bestimmungen gem ss der  nderung des IVG vom 21.
M rz 2003 (4. IV-Revision). Mit beiden Erlassen sind zahlreiche Bestimmungen
im Bereich der Invalidenversicherung ge ndert worden. Weil in zeitlicher
Hinsicht grunds tzlich diejenigen Rechtss tze massgebend sind, die bei der
Erf llung des zu Rechtsfolgen f hrenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V
467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der
Beurteilung eines Falles grunds tzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses
der streitigen Verf gung (hier: vom 15. Mai 2002) eingetretenen Sachverhalt
abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31.
Dezember 2002 g ltigen Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
1.2 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grunds tze zum Begriff der
Invalidit t (Art. 4 Abs. 1 IVG),  ber die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Ermittlung des
Invalidit tsgrades bei erwerbst tigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 104 V 136 Erw. 2a und b)
sowie den Anspruch auf Umschulung (Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 17
IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Die Frage des Rentenanspruchs ist ausschliesslich nach den Verh ltnissen zur
Zeit des Verf gungserlasses (hier: 15. Mai 2002) zu beurteilen. Tatsachen,
die den Sachverhalt seither ver ndert haben, sollen im Normalfall Gegenstand
einer neuen Verwaltungsverf gung bilden (BGE 121 V 366 Erw. 1b; vgl. auch BGE
129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen; vgl. Erw. 4
hienach).

2.1 Das kantonale Gericht ging bei der Bemessung des Invalideneinkommens
gest tzt auf eine zutreffende W rdigung des medizinischen Dossiers davon aus,
der Beschwerdef hrer sei in der Lage, eine leidensangepasste, die Wirbels ule
wenig bis nicht belastende T tigkeit in Wechselposition vollschichtig
auszu ben. Unter Beizug des einschl gigen Tabellenlohns (BGE 126 V 76 Erw.
3b/bb) ermittelte die Vorinstanz ein Invalideneinkommen von Fr. 46'475.-. Im
Vergleich mit einem Valideneinkommen (hypothetischer Verdienst ohne
Invalidit t)  ber Fr. 55'058.- ergab sich ein Invalidit tsgrad von 16 %. Was
den Anspruch auf eine Invalidenrente anbetrifft, erweist sich diese
Invalidit tsbemessung in allen Teilen als zutreffend; hinsichtlich der
einzelnen Elemente kann auf die Begr ndung des kantonalen Gerichts verwiesen
werden, welche s mtlichen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgetragenen
Einwendungen und Bestreitungen standh lt.

2.2 Die G ltigkeit der vorinstanzlichen Schlussfolgerungen wird auch durch
die nachtr glich ins Recht gelegten Belege  ber eine seit Beginn des Jahres
1998 andauernde psychiatrische Behandlung nicht in Frage gestellt. Nach
Ablauf der Rechtsmittelfrist k nnen - ausser im Rahmen eines zweiten
Schriftenwechsels - keine neuen Akten mehr eingebracht werden. Vorzubehalten
ist immerhin der Fall, dass solche Aktenst cke neue erhebliche Tatsachen oder
entscheidende Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG darstellen und als
solche eine Revision des Gerichtsurteils rechtfertigen k nnten (BGE 127 V
353). Derartige massgebende neue Gesichtspunkte sind in den nachtr glich
eingereichten Akten indes nicht enthalten.

3.
3.1 Nach Art. 17 Abs. 1 IVG kann ein Versicherter Umschulung auf eine neue
Erwerbst tigkeit beanspruchen, wenn jene infolge Invalidit t notwendig ist
und dadurch die Erwerbsf higkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich
verbessert werden kann. Als Umschulung gelten laut Art. 6 Abs. 1 IVV
Ausbildungsmassnahmen, die Versicherte nach Abschluss einer erstmaligen
beruflichen Ausbildung oder nach Aufnahme einer Erwerbst tigkeit ohne
vorg ngige berufliche Ausbildung wegen ihrer Invalidit t zur Erhaltung oder
wesentlichen Verbesserung der Erwerbsf higkeit ben tigen. Begrifflich erfasst
werden also berufsbildende Massnahmen, die notwendig und geeignet sind, dem
vor Eintritt der Invalidit t bereits erwerbst tig gewesenen Versicherten eine
seiner fr heren ann hernd gleichwertige Erwerbsm glichkeit zu verschaffen.
Dabei ist nicht in erster Linie ann hernde Gleichwertigkeit des
Ausbildungsniveaus, sondern der nach erfolgter Eingliederung zu erwartenden
Verdienstm glichkeit gemeint. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf die
dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umst nden bestm glichen Vorkehren.
Diese Vorgabe ist Ausdruck des Verh ltnism ssigkeitsprinzips, hier als
Forderung nach einem angemessenen Verh ltnis zwischen Leistungsaufwand und
angestrebtem Eingliederungsziel. Das Erfordernis der Proportionalit t bedingt
im Weitern, dass die zu erwartende Wirkung der Massnahme ein gewisses Mass an
Erheblichkeit aufweist (vgl. BGE 108 V 213 Erw. 1d, 107 V 88 Erw. 2;
Meyer-Blaser, Zum Verh ltnism ssigkeitsgrundsatz im staatlichen
Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 77 ff.). Deswegen kn pft die
Rechtsprechung den Anspruch auf Umschulung daran, dass die versicherte Person
wegen der Art und Schwere des Gesundheitsschadens im bisher ausge bten und in
den f r sie ohne zus tzliche berufliche Ausbildung offen stehenden zumutbaren
Erwerbst tigkeiten eine bleibende oder l ngere Zeit dauernde Erwerbseinbusse
von etwa 20 % erleidet; der Wert entspricht allerdings bloss einer
Richtgr sse (BGE 124 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. BGE 130 V 489 Erw.
4.2; Leuzinger-Naef, Die Ausbildungsziele der beruflichen
Eingliederungsmassnahmen im Lichte der neuen Bundesverfassung, in:
Rechtsfragen der Eingliederung Behinderter, St. Gallen 2000, S. 61 ff.).
Diese Praxis tr gt dem Umstand Rechnung, dass bei wesentlich tieferen
Invalidit tsgraden die mit einer Umschulung verbundenen Kosten die
auszugleichende Erwerbseinbusse regelm ssig um ein Vielfaches  bersteigen
(BGE 130 V 491 Erw. 4.3.2).
3.2 Bei einem Invalidit tsgrad  ber 16 % ist die soeben umschriebene
Erheblichkeitsschwelle von zirka 20 % nicht erreicht. Mit Blick auf den
beruflichen Werdegang des Beschwerdef hrers kann auch nicht im Sinne von BGE
124 V 108 angenommen werden, es m sse auf Seiten des Valideneinkommmens
prognostisch eine besondere Lohnzunahme ber cksichtigt werden. Es besteht
daher kein Umschulungsanspruch.

4.
4.1 Mit Eingabe vom 23. M rz 2006 dokumentierte der Rechtsvertreter des
Beschwerdef hrers eine zwischenzeitlich eingetretene Verschlechterung des
Gesundheitszustandes. Aus dem eingereichten Bericht des Psychiatriezentrums
S.________ am Spital A.________ vom 19. Januar 2006 geht hervor, dass der
Versicherte am 10. November 2005 wegen einer mittelgradig schweren
depressiven Episode mit somatischen Symptomen sowie einer anhaltenden
somatoformen Schmerzst rung (differentialdiagnostisch einer andauernden
Pers nlichkeitsver nderung bei chronischem Schmerzsyndrom) zur station ren
Behandlung eingewiesen wurde, welche bis zum 22. Dezember 2005 dauerte.
Anschliessend blieb er als Tagespatient bis zum 12. Januar 2006
hospitalisiert. Die depressive Symptomatik habe mit Hilfe einer
entsprechenden Medikation weitgehend stabilisiert werden k nnen. Bei einer
Arbeitstherapie unter anderem mit dem Zweck, dem Patienten eine
Tagesstrukturierung zu vermitteln, h tten sich anf nglich noch bescheidene
Wirkungsans tze gezeigt; nunmehr sei indes festzustellen, dass dieser
bescheidene Erfolg nicht weiter habe ausgebaut werden k nnen. Das Ziel einer
ambulanten Arbeitstherapie habe daher fallen gelassen werden m ssen. Der
Patient ben tige gegebenenfalls zur Behandlung der immer mehr in den
Vordergrund tretenden anhaltenden somatoformen Schmerzst rung eine Behandlung
in einer Spezialklinik.

4.2 Nach st ndiger Rechtsprechung beurteilt das Sozialversicherungsgericht -
wie erw hnt (Erw. 2) - die Gesetzm ssigkeit der Verwaltungsverf gungen in der
Regel nach dem Sachverhalt, der zur Zeit des Verf gungserlasses gegeben war.
Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither ver ndert haben, sollen im
Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverf gung sein. Ausnahmsweise
kann das Gericht aus prozess konomischen Gr nden auch die Verh ltnisse nach
Erlass der Verf gung in die richterliche Beurteilung miteinbeziehen und zu
deren Rechtswirkungen  ber den Verf gungszeitpunkt hinaus verbindlich
Stellung beziehen, mithin den das Prozessthema bildenden Streitgegenstand in
zeitlicher Hinsicht ausdehnen. Eine solche Ausdehnung des richterlichen
Beurteilungszeitraums ist indessen - analog zu den Voraussetzungen einer
sachlichen Ausdehnung des Verfahrens auf eine ausserhalb des durch die
Verf gung bestimmten Rechtsverh ltnisses liegende spruchreife Frage (BGE 122
V 36 Erw. 2a; zum Begriff des Anfechtungsgegenstandes vgl. BGE 125 V 414 Erw.
1a) - nur zul ssig, wenn der nach Erlass der Verf gung eingetretene, zu einer
neuen rechtlichen Beurteilung der Streitsache ab jenem Zeitpunkt f hrende
Sachverhalt hinreichend genau abgekl rt ist und die Verfahrensrechte der
Parteien, insbesondere deren Anspruch auf rechtliches Geh r, respektiert
worden sind (BGE 130 V 140 Erw. 2.1).
4.3 Die Voraussetzungen f r eine Ausdehnung des Verfahrensgegenstands in
zeitlicher Hinsicht sind nicht gegeben, so dass an dieser Stelle keine
Ausf hrungen hinsichtlich des Leistungsanspruchs  ber den 15. Mai 2002 hinaus
vonn ten sind. Zudem liess der Beschwerdef hrer am 23. M rz 2006 bereits ein
neues Gesuch bei der Invalidenversicherung einreichen. Aus diesem Grund
er brigt es sich auch, die Akten formell an die IV-Stelle zu  berweisen. Die
Verwaltung wird nach Pr fung des aktualisierten Tatbestands in der Sache ohne
weiteres neu verf gen.

5.
Das Verfahren hat Versicherungsleistungen zum Gegenstand und ist deshalb
kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeist ndung (Art. 152 in
Verbindung mit Art. 135 OG) kann gew hrt werden, da die Bed rftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gew hrung der unentgeltlichen Verbeist ndung wird Rechtsanwalt Ivan
Ljubicic, Ebikon, f r das Verfahren vor dem Eidgen ssischen
Versicherungsgericht eine Entsch digung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
der Ausgleichskasse des Kantons Luzern und dem Bundesamt f r
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. April 2006
Im Namen des Eidgen ssischen Versicherungsgerichts

Die Pr sidentin der I. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: