Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 107/2004
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I 107/04

Urteil vom 13. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Hadorn

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

K.________, 2000, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Eltern, und dieser
vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002
Zürich,

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 20. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
K.  ________ (geb. 2000) leidet an mehreren Geburtsgebrechen und erhielt von
der Invalidenversicherung verschiedene Leistungen zugesprochen, darunter als
Sonderschulmassnahme stationäre heilpädagogische Früherziehung im
Heilpädagogischen Kinderheim W.________ für die Zeitspanne vom 28. September
2001 bis Ende Dezember 2002. Ein Gesuch um Verlängerung der stationären
Früherziehung lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 3.
Juli 2003 ab. Diese Verfügung bestätigte die IV-Stelle mit
Einspracheentscheid vom 22. September 2003.

B.
Die von K.________, vertreten durch seine Eltern, hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid
vom 20. Januar 2004 gut. Es verpflichtete die Invalidenversicherung,
Kostengutsprache für stationäre heilpädagogische Früherziehung ab 1. Januar
2003 bis zum Eintritt in den Kindergarten zu leisten.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei
aufzuheben.
Während K.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum
Anspruch auf medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 Abs. 1 IVG) und
bei Geburtsgebrechen im Besonderen (Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 3 Abs. 4
ATSG), auf Sonderschulung (Art. 19 Abs. 1-3 IVG; Art. 10 IVV), auf
Pflegebeiträge für minderjährige Versicherte (Art. 20 IVG) und auf
Hilfsmittel (Art. 21 IVG) sowie die Rechtsprechung zur Abgrenzung
medizinischer von pädagogisch-therapeutischen Massnahmen (BGE 122 V 210 Erw.
3a) richtig dargelegt. Zutreffend sind auch die Erwägungen zur Anwendbarkeit
von ATSG und ATSV. Sodann ist korrekt, dass heilpädagogische Früherziehung
nicht nur ambulant, sondern auch stationär im Rahmen einer darauf
spezialisierten Einrichtung durchgeführt wird (BGE 126 V 282 Erw. 4b mit
Hinweisen), weshalb die Invalidenversicherung gegebenenfalls auch die Kosten
eines entsprechenden stationären Aufenthaltes zu übernehmen hat (BGE 126 V
283 Erw. 4c). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die am 1. Januar
2004 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung vom 21. März 2003 sowie der Verordnung über die
Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 keine Anwendung finden (BGE 129 V 4
Erw. 1.2).

2.
Der Versicherte hatte bereits mit Verfügung vom 28. September 2001 stationäre
heilpädagogische Früherziehung im Kinderheim W.________ bis Ende 2002
zugesprochen erhalten. Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte
Anspruch auf Verlängerung der stationären Früherziehung in diesem Institut
hat.
Die massgeblichen medizinischen und heilpädagogischen Berichte ergeben
folgendes Bild:
2.1 Nach telefonischer Aussage des Heimleiters vom 29. August 2003 sei der
Versicherte weiterhin in allen Lebensbereichen schwerst behindert und auf
Hilfe angewiesen. Er benötige einen Mehraufwand von über 8 Stunden im Tag. Im
Heim sei eine Betreuerin täglich neun Stunden ausschliesslich mit ihm allein
beschäftigt. Seine ständige Förderung müsse in den Tagesablauf integriert und
andauernd durchgeführt werden. Es sei wichtig, dass er während des Tages
stets durchbewegt werde, da alle seine Muskeln und Glieder bewegt werden
müssten. Nachts brauche er dauernde Überwachung, da nicht vorauszusehen sei,
ob er einen neuen Anfall bekomme.

2.2  Laut Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 10. November 2003
könne der Versicherte, obwohl er nach Angaben der Mutter "ganz kleine
Fortschritte" gemacht habe, weder sitzen noch stehen oder den Kopf selber
heben. In der Fortbewegung sei er völlig hilflos. Beim An- und Auskleiden sei
keinerlei Mithilfe des Kindes möglich. Es nehme nur pürierte Nahrung zu sich.
Wegen Erstickungsgefahr müsse der Versicherte beim Essen überwacht werden und
brauche vermehrte Mahlzeiten. Beim Baden sei er auf die Unterstützung von
zwei Personen angewiesen und benötige überdies dauernde
medizinisch-pflegerische Hilfe. Trotz der Medikamente habe er immer wieder
Absenzen und leichte Anfälle, weshalb er nicht längere Zeit allein gelassen
werden dürfe.

2.3  Gemäss Bericht des Kinderspitals Z.________ vom 21. März 2003 leide der
Versicherte an einer schweren symptomatischen Epilepsie. Daneben zeige er
eine schwere cerebrale Bewegungs- und Tonusstörung, die sich auf die Grob-
und Feinmotorik sowie auf das Essverhalten auswirke. Um seine Fähigkeiten zu
fördern, seien intensive therapeutische Massnahmen erforderlich. Diese
umfassten heilpädagogische Heilförderung zweimal pro Woche, Physiotherapie
zweimal pro Woche, Esstherapie durch eine Logopädin, regelmässige
Seh-Frühförderung und Kontrolle, daneben regelmässige medizinische Betreuung
einschliesslich EEG-Kontrollen. Das Kinderheim W.________ könne das intensive
Behandlungsprogramm abdecken, weshalb die Förderung des Kindes in dieser
Institution ärztlicherseits sehr unterstützt werde.

2.4  Dem Bericht des Heilpädagogischen Kinderheims vom 4. April 2003 ist zu
entnehmen, dass der Versicherte auf eine dauernde, in den Tagesablauf
integrierte Förderung, Pflege und Betreuung angeweisen sei, welche nicht
durch ambulante Angebote abgedeckt werden könne. Wegen des labilen
Gesundheitszustandes seien immer wieder medikamentöse Neueinstellungen
notwendig. Die Überwachung müsse auch in der Nacht sichergestellt sein.
Laut Jahresbericht 2003 des Heimes über die Periode von Juli 2002 bis März
2003, hatte der Versicherte oft Probleme mit hartnäckigen Erkältungen. Er
müsse Schleim abhusten, auch wenn er nicht erkältet sei. Seine
Nasenschleimhäute seien sehr trocken und müssten mehrmals täglich mit
Natriumchlorid befeuchtet und mit Nasensalbe behandelt werden. Im letzten
Jahr habe er achtmal ohne ersichtlichen Grund hohes Fieber bis 39,8 Grad
gehabt. Da dies epileptische Anfälle auslösen könne, habe er intensiv
überwacht werden müssen. Nach langer Medikamenteneinstellung seien die Nächte
massiv besser geworden. Bei nahender Essenszeit werde der Versicherte häufig
sehr unruhig. Er esse nur pürierte Kost. Der erste Löffel, der ihm in den
Mund geschoben werde, löse oft einen Würgereflex aus. Sein Mundbereich müsse
mit einer Mundmassage desensibilisiert werden, ehe er essen könne. Bezüglich
des Würgens seien Fortschritte zu beobachten. Es sei schwierig, ihm genügend
Flüssigkeit zu verabreichen. Er nehme die Flüssigkeit eingedickt mit
Nestargel aus einem kleinen Becher zu sich, was oft bis zu vierzig Minuten
dauere. Er stuhle nur selten spontan, weshalb er entsprechende Medikamente
erhalte. Zur Körperpflege brauche er eine gute Vorbereitung. Gegenwärtig
trage er auf dem linken Auge acht Stunden täglich ein Augenpflaster.

2.5  Gemäss Bericht der heilpädagogischen Einzelförderung sei im März 2003
anhand eines so genannten Fröhlichbogens eine Standortbestimmung durchgeführt
worden. Die Testauswertung habe bei einem effektiven Alter von 32 Monaten in
sämtlichen Bereichen ein Entwicklungsniveau entsprechend einem Kleinkind im
Alter von 1 Monat (Grobmotorik) bis 5 bzw. unter 6 Monaten (sozialemotionale
Entwicklung bzw. Reaktion auf Sprache) ergeben. Diese Resultate zeigten
deutlich, dass der Versicherte in allen Lebensbereichen auf intensive und
permanente Förderung angewiesen sei. Deshalb sei eine stationäre
Früherziehung ideal, da die Förderung im Heim W.________ integriert im Alltag
stattfinde.

3.
Das Bundesamt vertritt die Auffassung, der Versicherte sei zweimal
wöchentlich auf heilpädagogische Frühförderung, Physiotherapie sowie
Esstherapie und Seh-Frühförderung angewiesen. Der grösste Teil des
Mehraufwandes betreffe die Essenseinnahme, welche eine Erzieherin mittels
Mundmassage gewährleiste. Dies begründe keinen stationären Aufenthalt. Die
Eltern könnten eine Hilfskraft zu Hause anstellen, welche diesen Mehraufwand
abdecke.

3.1  Zwar ist dem BSV insoweit beizupflichten, als die je zwei wöchentlichen
Termine für Physiotherapie und heilpädagogische Frühförderung sowie die
Seh-Frühförderung mit Kontrolle für sich allein keinen stationären Aufenthalt
rechtfertigen würden. Indessen verkennt das Bundesamt die gesamte Situation
des Versicherten. Es ist zu beachten, dass seine Entwicklung gemäss
Fröhlichbogen in vielen Bereichen derjenigen eines schwer behinderten
Säuglings entspricht. Deshalb benötigt der Versicherte nicht nur die
erwähnten Therapien, sondern eine ganztägige Betreuung. Dabei wird jede
Gelegenheit genutzt, seine Bewegungen zu stimulieren. Die Förderung findet
nicht nur in den erwähnten Physiotherapie- und heilpädagogischen Stunden
statt, sondern im gesamten Alltag. Dementsprechend steht denn auch an neun
Stunden im Tag eine Person ausschliesslich für ihn zur Verfügung. Besonders
zeitaufwändig sind Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Neben der dem Essen
vorangehenden Mundtherapie ist eine langdauernde Verabreichungsphase
notwendig. Die Flüssigkeitsaufnahme ist ungenügend und hat mehrmals täglich
in bis zu vierzigminütigen Sitzungen zu erfolgen. Die Epilepsieanfälle haben
sich zwar gebessert, doch sind die häufigen Fieberschübe mit den möglichen
Folgen weiterhin problematisch. Damit kann auch die nächtliche Kontrolle
nicht gänzlich unterbleiben.

3.2  Bei der Entscheidung, ob medizinische und pädagogisch-therapeutische
Massnahmen ambulant oder im Rahmen einer entsprechenden Institution stationär
durchgeführt werden sollen, sind die persönlichen Verhältnisse des
Versicherten in billiger Weise zu berücksichtigen (Urteil U. vom 10. April
2002, I 284/01; vgl. Art. 14 Abs. 3 IVG). Vorliegend fällt ins Gewicht, dass
die Mutter des Versicherten, die neben ihm zwei weitere Kinder betreuen muss,
wegen Rückenproblemen nicht voll leistungsfähig ist. Es kann von ihr auf
Dauer nicht verlangt werden, dass sie ähnlich der für den Versicherten allein
eingesetzten Betreuerin im Heim W.________ rund neun Stunden am Tag bei allen
Gelegenheiten darauf achtet, Bewegungen zu stimulieren, mehrmals täglich die
vierzig Minuten dauernde Getränkeeinnahme sowie die ebenfalls zeitraubende
Essenseingabe vorzunehmen und den Versicherten auch sonst nahezu rund um die
Uhr zu betreuen. Das Kinderspital Z.________ befürwortet denn auch eine
stationäre Behandlung. Unter Berücksichtigung aller Umstände erscheint eine
solche in der Tat weiterhin angezeigt.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der obsiegende, durch den
Rechtsdienst für Behinderte vertretene Versicherte hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 OG; SVR 1997 IV Nr. 110 S. 341).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwerdegegner für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und der IV-Stelle des Kantons Aargau zugestellt.
Luzern, 13. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: