Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 86/2004
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H 86/04

Urteil vom 20. Juli 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

E.________, Gesuchstellerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Urs Glaus,
Unterstrasse 15, 9000 St. Gallen,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Appenzell A.Rh., Kasernenstrasse 4, 9100 Herisau,
Gesuchsgegnerin

(Urteil vom 30. März 2001)

Sachverhalt:

A.
Am 29. Dezember 1998 klagte die Ausgleichskasse des Kantons Appenzell A.Rh.
u.a. gegen T.________ als ehemaliges Verwaltungsratsmitglied und E.________
als ehemalige Prokuristin der konkursiten Firma X.________ AG auf Bezahlung
von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich
Verwaltungskosten, Verzugszinsen, Mahngebühren und Betreibungskosten) im
Betrag von Fr. 74'606.15 bzw. Fr. 76'024.45. Mit Entscheid vom 7. September
1999 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die
Schadenersatzklage gut und verpflichtete nebst anderen E.________ zur
Bezahlung von Fr. 76'024.45 und T.________ zur Bezahlung von Fr. 74'606.15
(unter solidarischer Haftbarkeit, gegen Abtretung einer allfälligen
Konkursdividende). Die von T.________ und E.________ hierauf erhobene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Eidgenössische Versicherungsgericht
mit Urteil vom 30. März 2001 ab, soweit es darauf eintrat.

B.
Mit Revisionsgesuch vom 3. Mai 2004 lässt E.________ die Aufhebung des
Urteils vom 30. März 2001 und die Reduktion der Schadenersatzforderung auf
Fr. 45'144.05, eventuell Fr. 54'126.70 beantragen. Die Ausgleichskasse
schliesst auf Abweisung des Revisionsgesuches. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das von E.________ mit dem Revisionsgesuch eingereichte Begehren um
Sistierung des Verfahrens hat der Instruktionsrichter mit Verfügung vom 3.
Juni 2004 abgewiesen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Gesuchstellerin beruft sich darauf, nachträglich neue erhebliche
Beweismittel aufgefunden zu haben, die sie im früheren Verfahren nicht habe
beibringen können. Als sie im Februar 2004 das Büro des seit Jahren
demenzkranken ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten der X.________ AG,
M.________, geräumt habe, sei sie im Schreibtisch auf verschiedene Unterlagen
gestossen: auf Kontoauszüge der Ausgleichskasse vom 10. Dezember 1992
(betreffend die Periode vom 10. Juli bis 4. September 1992), vom 12. Februar
1993 (betreffend die Periode vom 8. Juli 1992 bis 12. Februar 1993) und vom
3. Oktober 1994 (betreffend die Periode vom 1. Juli bis 3. Oktober 1994)
sowie auf eine Rechnung der Ausgleichskasse vom 11. April 1994. Diese Akten,
welche von der Ausgleichskasse im gegen sie und T.________ gerichteten
Schadenersatzverfahren nicht eingereicht worden seien, bewiesen, dass die
Schadenersatzforderung unrichtig ermittelt worden sei. Nach Konkurseröffnung
am 24. September 1996 habe sie vernünftigerweise davon ausgehen dürfen, dass
sich sämtliche AHV-Unterlagen beim Konkursamt befänden, sodass sie während
der Dauer des Schadenersatzverfahrens keinen Anlass gehabt habe zur Annahme,
dass M.________, der sich im Übrigen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr
um die geschäftlichen Belange habe kümmern können, über weitere Unterlagen
verfügen könnte.

2.
Nach Art. 137 lit. b in Verbindung mit Art. 135 OG ist die Revision eines
Urteils des Eidgenössischen Versicherungsgerichts u.a. zulässig, wenn der
Gesuchsteller nachträglich neue erhebliche Tatsachen erfährt oder
entscheidende Beweismittel auffindet, die er im früheren Verfahren nicht
beibringen konnte.
Als "neu" gelten Tatsachen, welche sich bis zum Zeitpunkt, da im
Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren,
verwirklicht haben, jedoch der um Revision ersuchenden Person trotz
hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner
erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage
des angefochtenen Urteils zu verändern und bei zutreffender rechtlicher
Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Beweismittel haben entweder
dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem
Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt
gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Person unbewiesen geblieben
sind. Sollen bereits vorgebrachte Tatsachen mit den neuen Mitteln bewiesen
werden, so hat die Person auch darzutun, dass sie die Beweismittel im
früheren Verfahren nicht beibringen konnte. Entscheidend ist ein
Beweismittel, wenn angenommen werden muss, es hätte zu einem andern Urteil
geführt, falls das Gericht im Hauptverfahren hievon Kenntnis gehabt hätte.
Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsermittlung dient. Es genügt
daher beispielsweise nicht, dass ein neues Gutachten den Sachverhalt anders
bewertet; vielmehr bedarf es neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die
Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen. Für die
Revision eines Entscheides genügt es nicht, dass die Gutachterin oder der
Gutachter aus den im Zeitpunkt des Haupturteils bekannten Tatsachen
nachträglich andere Schlussfolgerungen zieht als das Gericht. Auch ist ein
Revisionsgrund nicht schon gegeben, wenn das Gericht bereits im
Hauptverfahren bekannte Tatsachen möglicherweise unrichtig gewürdigt hat.
Notwendig ist vielmehr, dass die unrichtige Würdigung erfolgte, weil für den
Entscheid wesentliche Tatsachen nicht bekannt waren oder unbewiesen blieben
(BGE 127 V 358 Erw. 5b, 110 V 141 Erw. 2, 293 Erw. 2a, 108 V 171 Erw. 1; vgl.
auch BGE 118 II 205).

3.
3.1 Im Urteil H 2/00 vom 30. März 2001 hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht hinsichtlich der Schadenshöhe, deren Korrektur die
Gesuchstellerin revisionsweise beantragt, auf die Feststellungen im
kantonalen Entscheid abgestellt, weil die von E.________ und T.________
erhobenen Einwendungen auf unzulässigen neuen Behauptungen und Beweismitteln
beruhten und Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Ermittlung der
Schadenersatzforderung im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG fehlten. Das kantonale
Gericht seinerseits war hinsichtlich der Schadenshöhe der Darstellung der
Ausgleichskasse gefolgt, welche im kantonalen Verfahren u.a. die
Jahresabrechnungen 1991-1996, die Nachzahlungsverfügungen für die Jahre 1992
bis 1994, eine Beitragsübersicht vom 14. Mai 1999, einen Kontoauszug vom 12.
Mai 1999 (für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis 12. Mai 1999) und eine
Aufstellung über die Zusammensetzung des Schadensbetrages vom 19. November
1998 eingereicht hatte.

3.2 Aus den von ihr mit dem Revisionsgesuch ins Recht gelegten Beweismitteln
(drei Kontoauszüge und eine Rechnung) vermag die Gesuchstellerin nichts zu
ihren Gunsten abzuleiten: Die von ihr eingereichten Kontoauszüge betreffen
jeweils einige wenige Monate und stellen damit einzelne Abschnitte des von
der Ausgleichskasse mit der Schadenersatzklage eingereichten Kontoauszuges
vom 12. Mai 1999 dar, welcher den ganzen vom 1. Januar 1991 bis 12. Mai 1999
reichenden Zeitraum umfasst. Entgegen der Auffassung der Gesuchstellerin kann
diesen "Auszügen aus dem Kontoauszug" denn auch nur entnommen werden, welche
Beiträge in der entsprechenden Zeitspanne in Rechnung gestellt wurden und
welche Zahlungen eingingen, sodass ihre Aussagekraft sehr beschränkt ist. Das
darin angegebene "Gesamttotal" resultiert - wie sich unschwer erkennen lässt
- aus der Gegenüberstellung der Rechnungen und Zahlungen in der angegebenen
Zeitspanne, weshalb es sich dabei - anders als die Gesuchstellerin anzunehmen
scheint - nicht um einen Saldo per jeweiligem Stichtag handelt. Was sodann
die Rechnung vom 11. April 1994 anbelangt, erblickt die Gesuchstellerin darin
zu Unrecht eine Saldobestätigung per Ende 1993 über den Betrag von Fr.
7160.95, ist doch darin einzig aufgeführt, dass für das Jahr 1993 zusätzlich
zu dem bereits in Rechnung gestellten Betrag von Fr. 43'450.40 Beiträge in
der Höhe von Fr. 7160.95 eingefordert werden mussten, was sich im Übrigen
auch dem bei den Akten liegenden Kontoauszug vom 12. Mai 1999 (Position 1994
0005 in Verbindung mit Positionen 1993 0001-0019) entnehmen lässt. Bei
richtiger Lesart der mit dem Revisionsgesuch eingereichten Unterlagen ergibt
sich somit, dass diese keine neuen Tatsachen belegen, welche die
Entscheidungsgrundlagen des Urteils vom 30. März 2001 objektiv als mangelhaft
erscheinen liessen, sondern den dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt
vielmehr stützen.

4.
Das Revisionsverfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario).
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens gehen die Kosten zu Lasten der
Gesuchstellerin (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Das Revisionsgesuch wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3400.- werden der Gesuchstellerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 20. Juli 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: