Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 66/2004
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H 66/04

Urteil vom 9. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Jancar

E.________, 1932, Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes, Brunnmattstrasse 45, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 26. Februar 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 29. Mai 1997 verneinte die Ausgleichskasse des
Schweizerischen Gewerbes den Anspruch der 1932 geborenen E.________ auf eine
Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), was
vom Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit in Rechtskraft
erwachsenem Entscheid vom 29. September 1998 bestätigt wurde. Zur Begründung
wurde ausgeführt, die Versicherte sei einzig im Bereich Fortbewegung und
Kontaktnahme auf regelmässige erhebliche Dritthilfe angewiesen und bedürfe
darüber hinaus einer persönlichen Überwachung. Die erforderliche
mittelschwere Hilflosigkeit liege demnach nicht vor.

Am 11. Oktober 2002 meldete sich die Versicherte erneut zum Bezug einer
Hilflosenentschädigung der AHV an. Frau Dr. med. T.________, diagnostizierte
am 22. Oktober 2002 eine invalidisierende Agoraphobie mit Panikstörung,
zeitweise generalisierte Angst (ICD-10: F40.01). Am 24. März 2003 teilte die
Versicherte der Ausgleichskasse mit, seit Dezember 2002 habe sich ihre
Situation drastisch verschlechtert, da ihr Ehemann, der sie bisher betreut
habe, ernsthaft erkrankt sei. Mit Verfügung vom 26. März 2003 verneinte die
Ausgleichskasse unter Verweis auf den Beschluss vom 3. Februar 2003 den
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV. Gleichentags forderte sie
die Versicherte auf, ein neues Anmeldeformular auszufüllen, was diese am 18.
April 2003 tat. Gegen die Verfügung vom 26. März 2003 erhob die Versicherte
keine Einsprache. Am 30. April 2003 gab Frau Dr. med. T.________ an, der
Gesundheitszustand der Versicherten sei stationär; wegen der Erkrankung des
Ehemannes habe sich die Situation extrem zugespitzt. Mit Verfügung vom 18.
August 2003 verneinte die Ausgleichskasse bezugnehmend auf die Anmeldung vom
15. (recte 11.) Oktober 2002 und den Beschluss vom 3. Februar 2003 erneut den
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV. Die gegen diese Verfügung
erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 22. Oktober 2003 ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 26. Februar 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte die Zusprechung
einer Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen zum Begriff der
Hilflosenentschädigung und zu deren Anspruchsgrundlagen (Art. 9 ATSG; Art.
43bis Abs. 1 und 5 AHVG; Art. 42 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 36 Abs. 2
IVV je in der bis 31. Dezember 2003 geltenden, hier anwendbaren Fassung; BGE
129 V 356 Erw. 1) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der
Beurteilung einer Neuanmeldung bei vorgängiger Ablehnung eines Anspruchs
wegen fehlender Hilflosigkeit (Art. 66bis Abs. 2 AHVV in Verbindung mit Art.
87 Abs. 3 und 4 IVV; BGE 130 V 64, 71). Darauf wird verwiesen.

2.
2.1 Im angefochtenen Entscheid wird die vorliegend auf Grund von Art. 2 ATSG
in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 AHVG grundsätzlich zu berücksichtigende
ATSG-Norm zur Hilflosigkeit (Art. 9) zitiert. Danach gilt als hilflos eine
Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche
Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen
Überwachung bedarf. Abweichungen von diesem Begriff sind im AHVG und im IVG
nicht vorgesehen, so dass er, sofern im Gesetz konkret verwendet oder auf ihn
verwiesen wird, zur Anwendung gelangt. Wie das Gericht in dem zur Publikation
in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil A. vom 30. April 2004, I
626/03, erkannt hat, handelt es sich bei den in Art. 3 - 13 ATSG enthaltenen
Legaldefinitionen in aller Regel um eine formellgesetzliche Fassung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung. Damit ergibt sich inhaltlich keine
Änderung, was zur Folge hat, dass die zu den erwähnten Begriffen entwickelte
Rechtsprechung übernommen und weitergeführt werden kann (Urteil L. vom 2.
Juni 2004 Erw. 2.1, I 127/04).

2.2  Der Gesetzgeber wollte auch in Art. 9 ATSG die bisherige Definition
übernehmen (vgl. BBl 1991 II 249). Die Bestimmung weicht von der bisherigen
Umschreibung in Art. 42 Abs. 2 aIVG allerdings dahingehend ab, dass anstelle
der "Invalidität" von einer "Beeinträchtigung der Gesundheit" ausgegangen
wird, was einerseits eine gewisse Ausweitung darstellt (Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Rz 3 zu Art. 9). Andererseits drückt der
Wortlaut der Bestimmung nur aus, was schon nach altem Recht gegolten hatte.
Der Terminus "Invalidität" in Art. 42 Abs. 2 aIVG wollte die
Anspruchsberechtigung für eine Hilflosenentschädigung nicht auf Invalide im
Sinne von Art. 4 aIVG, das heisst auf Versicherte, die infolge eines
geistigen oder körperlichen Gesundheitsschadens in ihrer Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigt waren, beschränken. Vielmehr hat das Wort "Invalidität" dort
nicht eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern diejenige der körperlichen und
oder geistigen Behinderung. Gerade körperlich Behinderte - exemplarisch sei
an Rollstuhlfahrer erinnert -, die dank einer guten Eingliederung wegen ihres
Gesundheitsschadens keine Erwerbseinbusse erleiden, hingegen in den
alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter angewiesen
sind, waren schon bisher anspruchsberechtigt. Das ATSG hat demnach mit der
neuen Formulierung von Art. 9 insbesondere einen redaktionellen Fehler
eliminiert (Urteil L. vom 2. Juni 2004 Erw. 2.2.1, I 127/04).

Die Voraussetzungen, unter welchem bei Vorliegen einer Hilflosigkeit eine
Entschädigung ausgerichtet wird, werden durch die Einzelgesetze bestimmt.
Diesbezüglich hat das ATSG keine Änderung gebracht. Die in Art. 9 ATSG
enthaltene, geringfügig offenere Umschreibung der Hilflosigkeit wirkt sich
mithin im geltenden Recht nicht aus (Urteile L. vom 2. Juni 2004 Erw. 2.2.2,
I 127/04, und D. vom 1. April 2004 Erw. 1, I 815/03).

3.
3.1 Tritt die Verwaltung auf eine Neuanmeldung ein, so hat sie zu prüfen, ob
die von der versicherten Person glaubhaft gemachte Veränderung der
Hilflosigkeit in einer für den Anspruch erheblichen Weise tatsächlich
eingetreten ist. Die von der Rechtsprechung zu Art. 41 aIVG (in der bis 31.
Dezember 2002 gestandenen, nunmehr aufgehobenen Fassung; seit 1. Januar 2003:
Art. 17 Abs. 1 ATSG) entwickelten Rechtsgrundsätze (BGE 130 V 71), die analog
auch bei erneutem Gesuch um Zusprechung einer Hilflosenentschädigung gelten
(BGE 117 V 198 Erw. 3a), sind unter der Herrschaft des ATSG weiterhin
anwendbar (vgl. auch noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes
Urteil A. vom 30. April 2004 Erw. 3.5.4 und 4, I 626/03; Urteil S. vom 14.
Juni 2004 Erw. 1.3, I 705/03).

3.2  Streitig ist, ob die für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
der
AHV mindestens erforderliche Hilflosigkeit mittelschweren Grades (Art. 43bis
Abs. 1 AHVG) gegeben ist.

Die Vorinstanz hat korrekt erwogen, dass Ausgangspunkt des vorliegenden
Verfahrens das Leistungsgesuch der Versicherten vom 11. Oktober 2002 ist, und
dass die Ablehnungsverfügung vom 26. März 2003 sowie die Neuanmeldung der
Versicherten vom 18. April 2003 nach Treu und Glauben bei der Beurteilung
nicht zu berücksichtigen sind. Dies ist denn auch unbestritten, weshalb es
diesbezüglich sein Bewenden hat.

Zu prüfen ist demnach, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse bezüglich des
Anspruchs auf Hilflosenentschädigung zwischen der Ablehnungsverfügung vom 29.
Mai 1997 und dem Einspracheentscheid vom 22. Oktober 2003 in erheblicher
Weise geändert haben (BGE 130 V 77 Erw. 3.2.3).

4.
Nach ständiger Gerichtspraxis zählen zu den alltäglichen Lebensverrichtungen
im Rahmen des Begriffs der Hilflosigkeit Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen,
Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft;
Fortbewegung (im oder ausser Haus), Kontaktaufnahme (BGE 127 V 97 Erw. 3c mit
Hinweisen; Kieser, a.a.O., Rz 6 zu Art. 9). Hilflosigkeit mittelschweren
Grades nach Art. 36 Abs. 2 lit. a IVV setzt eine Hilfsbedürftigkeit in
mindestens vier alltäglichen Lebensverrichtungen voraus (BGE 121 V 90 Erw.
3b).
Die benötigte Hilfe kann praxisgemäss nicht nur in direkter Dritthilfe,
sondern auch bloss in Form einer Überwachung der versicherten Person bei
Vornahme der relevanten Lebensverrichtungen bestehen, indem etwa die
Drittperson sie auffordert, eine Lebensverrichtung vorzunehmen, die sie wegen
ihres psychischen Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht vornehmen würde
(so genannte indirekte Dritthilfe; BGE 121 V 91 Erw. 3c, 107 V 149 Erw. 1c
und 139 Erw. 1b, 106 V 157 f., 105 V 56 Erw. 4a; Urteil R. vom 15. Dezember
2003 Erw. 1.1, I 104/01).
Das Erfordernis der dauernden persönlichen Überwachung als zusätzliche
Anspruchsvoraussetzung gemäss Art. 36 Abs. 2 lit. b IVV bezieht sich nicht
auf die alltäglichen Lebensverrichtungen und ist deshalb von der indirekten
Dritthilfe zu unterscheiden (ZAK 1984 S. 357 Erw. 2c). Es handelt sich
vielmehr um eine Art medizinischer oder pflegerischer Hilfeleistung, welche
infolge des physischen, geistigen oder psychischen Zustandes der versicherten
Person notwendig ist (BGE 107 V 139 Erw. 1b mit Hinweisen; ZAK 1990 S. 46
Erw. 2c; Urteil D. vom 1. April 2004 Erw. 1, I 815/03). Die Notwendigkeit der
persönlichen Überwachung ist beispielsweise dann gegeben, wenn eine
versicherte Person wegen geistiger Absenzen nicht während des ganzen Tages
allein gelassen werden kann (BGE 107 V 139, 106 V 158, 105 V 56 Erw. 4; ZAK
1990 S. 46 Erw. 2c; Urteil S. vom 3. September 2003 Erw. 1.2, I 214/03).

5.
5.1 Gemäss den Angaben der Frau Dr. med. T.________ leidet die Versicherte an
einer Angst-Panikerkrankung mit zeitweiser generalisierter Angst (Berichte
vom 30. April 2003 und 22. Oktober 2002). Unbestritten ist, dass sie deswegen
einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf.

5.2  Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, sie benötige Dritthilfe im
Bereich Fortbewegung ausser Haus/Kontaktaufnahme (z.B. beim Gang zum Arzt
oder zur Rückenmassage, Einkaufen, Schwimmen, Spazierengehen und Besuch einer
kulturellen Veranstaltung). Indessen wird die Hilflosigkeit auch in diesem
Bereich mit der Notwendigkeit der Überwachung begründet, die sich in der
allgemeinen Überwachungsbedürftigkeit nach Erw. 5.1 hievor erschöpft. Würde
die allgemeine Überwachungsbedürftigkeit mit derjenigen im Bereich
Fortbewegung/Kontaktaufnahme kombiniert, würde sie doppelt berücksichtigt,
was dem Sinn von Art. 36 IVV widerspräche (unzulässige Kumulation; vgl. auch
Urteil D. vom 1. April 2004 Erw. 2, I 815/03).

5.3  Die Versicherte macht geltend, es sei zu prüfen, ob es gesetzeskonform
sei, dass Art. 36 Abs. 2 lit. b IVV für das Vorliegen mittelschwerer
Hilflosigkeit neben einer dauernden persönlichen Überwachung die Dritthilfe
in zwei Lebensverrichtungen voraussetze. Angesichts des Ausmasses der
Überwachungsbedürftigkeit in ihrem Fall müsse diese allein zur Annahme einer
mittelschweren Hilflosigkeit genügen. Nach dem Gesetzeswortlaut reiche der
persönliche Überwachungsbedarf zur Annahme von Hilflosigkeit aus; er stehe
gleichbedeutend neben der Dritthilfe.

Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in langjähriger Praxis (nebst
anderen nicht publ. Erw. 4.1 des Urteils BGE 130 V 61; BGE 121 V 90 Erw. 3b,
107 V 145 ff.; AHI 2000 S. 318 Erw. 1; Urteil D. vom 1. April 2004 Erw. 1, I
815/03) die Gesetzes- und Verfassungskonformität von Art. 36 Abs. 2 lit. b
IVV in keiner Weise in Frage gestellt. Stichhaltige Gründe für eine
Praxisänderung (BGE 129 V 292 Erw. 3.2 mit Hinweisen) sind nicht ersichtlich.

Die dauernde persönliche Überwachungsbedürftigkeit für sich allein begründet
somit lediglich eine Hilflosigkeit leichten Grades (Art. 36 Abs. 3 lit. b
IVV), was keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung zur AHV ergibt
(Art. 43bis Abs. 1 AHVG). Der angefochtene Entscheid erweist sich demnach als
rechtens.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 9. August 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: