Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 26/2004
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H 26/04

Urteil vom 19. Juli 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Jancar

R.________, Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse der Wirtschaftskammer Baselland, Viaduktstrasse 42, 4002
Basel, Beschwerdegegnerin,

Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 20. August 2003)

Sachverhalt:

A.
Am 12. Januar 1999 wurde die Firma H.________ AG gegründet. Per 20. Januar
1999 (Tagebucheintrag am 14. Januar 1999) wurden unter anderen R.________ und
B.________ als Mitglieder des Verwaltungsrates sowie G.________ als
Geschäftsführer ins Handelsregister eingetragen. Am 29. September 1999 wurde
das Unternehmen in Firma E.________ AG (nachfolgend Firma) umbenannt. Am 7.
Juli 2000 (Tagebucheintrag vom 3. Juli 2000) erfolgte der
Handelsregistereintrag von R.________ als Verwaltungsratspräsidentin der
Firma. Im Protokoll der ausserordentlichen Generalversammlung vom 18. Januar
2001 wurde die Liquidität der Firma als "verheerend" bezeichnet und die
Konkursgefahr erwähnt. Auf den Zeitpunkt der Generalversammlung vom 5.
Februar 2001 trat B.________ als Verwaltungsrat zurück. Der Geschäftsleiter
G.________ wurde unter anderen neu als Verwaltungsrat gewählt. An dieser
Versammlung wurden Sanierungsmassnahmen beschlossen. In einem
E-Mail-Schreiben vom 13. März 2001 wies G.________ R.________ auf die
angespannte Situation der Firma hin und teilte ihr am 15. Mai 2001
schliesslich mit, er sehe als Ausweg nur noch die Möglichkeit des Konkurses
mit der Gründung einer Auffanggesellschaft. Mit Schreiben vom 29. Mai 2001
informierte die Buchhalterin K.________ die ordentliche Generalversammlung,
dass die Firma sowohl zu Fortführungs- wie auch zu Veräusserungswerten
überschuldet sei. Am 22. Juni 2001 beschloss der Verwaltungsrat auf dem
Zirkulationsweg, wegen Überschuldung der Firma die Bilanz zu deponieren und
den Firmenkonkurs anzumelden, der schliesslich am 12. Juli 2001 eröffnet
wurde. Mit Schreiben vom 7. Februar 2002 informierte die Ausgleichskasse
Wirtschaftskammer 114 (nachfolgend Ausgleichskasse) B.________, G.________
und R.________ über die Folgen, die eine verschuldete Nichtbezahlung der
Sozialversicherungsbeiträge durch den Arbeitgeber bzw. dessen Organe haben
könne. Mit Verfügungen vom 13. Mai 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse
B.________, G.________ und R.________ solidarisch zur Bezahlung von
Schadenersatz im Betrag von Fr. 89'177.65. Die Betroffenen erhoben hiegegen
Einspruch.

B.
Am 12. Juli 2002 reichte die Ausgleichskasse beim Kantonsgericht
Basel-Landschaft Klage ein mit dem Antrag, B.________, G.________ und
R.________ seien solidarisch zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von
Fr. 89'177.65 zu verurteilen. Die Beklagten schlossen auf Klageabweisung. Das
kantonale Gericht führte am 20. August 2003 eine Parteieverhandlung durch und
hiess die Klage gleichentags insoweit teilweise gut, als es in solidarischer
Haftbarkeit B.________ zur Bezahlung von Fr. 18'657.70 sowie R.________ und
G.________ zur Bezahlung von Fr. 76'745.30 verpflichtete.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt R.________, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides sei festzustellen, dass sie der Ausgleichskasse keine
Beiträge zu bezahlen habe; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das
kantonale Gericht zurückzuweisen.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während die als Mitbeteiligte beigeladenen
B.________ und G.________ sowie das Bundesamt für Sozialversicherung auf
Vernehmlassung verzichten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Die Vorinstanz hat die massgebenden Normen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG
in Verbindung mit Art. 34 ff. sowie Art. 81 f. AHVV; Art. 716a Abs. 1, Art.
717 Abs. 1, Art. 754 Abs. 1 und Art. 759 Abs. 1 OR) und die nach der
Rechtsprechung (BGE 123 V 15 Erw. 5b 121 V 243, 119 V 92 Erw. 3, 114 V 213,
111 V 173 Erw. 2, 108 V 202 Erw. 3a; ZAK 1985 S. 52 und 620 Erw. 3b; vgl.
auch BGE 122 V 66 Erw. 4a, 119 V 405 Erw. 2, 112 V 159 Erw. 4, 109 V 90 Erw.
7a, 108 V 186 Erw. 1b, je mit Hinweisen; Nussbaumer, Die Haftung des
Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP 9/96, S. 1071 ff.) für die
Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers und dessen Organe geltenden Regeln
zutreffend dargelegt. Gleiches gilt zu dem im Schadenersatzprozess nach Art.
81 AHVV geltenden Untersuchungsgrundsatz und zu den Mitwirkungspflichten der
Parteien (BGE 122 V 158 Erw. 1a, 108 V 197 Erw. 5). Beizupflichten ist im
Weiteren den Erwägungen der Vorinstanz, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist (BGE
129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegnerin bis zum massgeblichen
Zeitpunkt des Konkurses der Firma E.________ AG am 12. Juli 2001 ein Schaden
in der Höhe von Fr. 76'745.30 erwachsen ist.

3.2 Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdeführerin grobfahrlässig gehandelt hat.

3.2.1 Aus den von ihr selbst eingereichten Unterlagen ergibt sich mit aller
Deutlichkeit, dass der Geschäftsgang der Firma E.________ AG nur im ersten
Jahr (1999) einigermassen zu befriedigen vermochte. An der
Verwaltungsratssitzung vom 23. Februar 2000 wurde festgestellt, dass die
Liquiditätssituation der Firma nach wie vor sehr angespannt sei. Fr.
600'000.- Kreditoren stünden Fr. 300'000.- Debitoren gegenüber. Bis zur
Aktienkapitalerhöhung bestehe ein massives Problem. Es fehlten Fr. 70'000.-,
um die Februarlöhne zu bezahlen. Anlässlich der gleichentags stattfindenden
Generalversammlung äusserte sich der Hauptaktionär unzufrieden über das
Firmenergebnis. An der Verwaltungsratssitzung vom 7. Juni 2000, erstmals von
der Beschwerdeführerin präsidiert, wurde die Liquidität der Firma als
verheerend bezeichnet. An der Sitzung des Verwaltungsrates vom 25. Oktober
2000 wurde die Liquidität weiterhin als beängstigend eng dargestellt. Die
Firma kämpfe ums Überleben. Gleiches wurde an der Sitzung vom 11. Dezember
2000 festgestellt. Der Verwaltungsrat nahm zudem Kenntnis von Ausständen
gegenüber der Beschwerdegegnerin in Höhe von Fr. 80'000.-. Gemäss Protokoll
der Verwaltungsratssitzung vom 18. Januar 2001 war die Liquidität weiter
verheerend. Wenn nicht unmittelbar Geld ins Unternehmen fliesse, müsse der
Konkurs angemeldet werden. Im Schreiben vom 8. Mai 2001 teilte die Firma
S.________ AG der Beschwerdeführerin mit, die Voraussetzungen des Art. 725 OR
(Kapitalverlust und Überschuldung) seien erfüllt. Es bestehe eine Unterbilanz
von Fr. 201'326.-.
3.2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, den Buchhalter immer wieder
angewiesen zu haben, die Sozialversicherungsbeiträge zu begleichen. Der
Geschäftsführer G.________ und der Buchhalter hätten ihr deren Bezahlung
bestätigt. Im Nachhinein habe sich aber herausgestellt, dass G.________ die
vom Buchhalter vorbereiteten Zahlungsanweisungen jeweils eigenständig
abgeändert und für persönliche Zwecke (Bezahlung seiner Auto-Leasingraten und
Handygebühren, Privatbezug für die Gründung einer neuen Firma usw.)
eingesetzt habe. Deshalb seien die Beitragszahlungen entgegen ihren Weisungen
ausgeblieben. Damit habe sie nicht rechnen müssen.

Aufgrund der Aussagen des Buchhalters anlässlich der vorinstanzlichen
Verhandlung ist glaubhaft, dass G.________ die vorbereiteten
Zahlungsanweisungen mehrmals abänderte. Hieraus kann die Beschwerdeführerin
indessen nichts zu ihren Gunsten ableiten. Sie kannte die aufgelaufenen
Beitragsausstände und auch die kritische Lage, in welcher die Firma sich
befand (Erw. 3.2.1 hievor). Unter diesen Umständen war sie zusammen mit den
anderen Verwaltungsräten, ungeachtet der Stellung und des Aufgabenbereiches,
verpflichtet, durch Erteilung weiterer Weisungen an die Geschäftsleitung und
Buchhaltung sowie deren Kontrolle in kurzen Abständen dafür zu sorgen, dass
bei fortgesetzten Lohnzahlungen die darauf ex lege geschuldeten paritätischen
Beiträge abgeliefert und nicht zu anderen Zwecken verwendet würden. Aus
diesem Grund hatte sie sich jeweils nach Ablauf einer Beitragszahlungsperiode
(Art. 34 AHVV) die entsprechenden Zahlungsbelege von der Buchhaltung
vorweisen zu lassen. Dass die Erfüllung der Verbindlichkeiten gegenüber der
Ausgleichskasse nicht der Beschwerdeführerin, sondern dem als Geschäftsführer
und seit 5. Februar 2001 auch als Mitverwaltungsrat fungierenden G.________
oblag, ändert nichts. In ihrer Eigenschaft als Mitglied und später als
Präsidentin des Verwaltungsrates sowie der damit verbundenen gesetzlichen
Pflichten (Art. 716 f. OR) hatte sie sich regelmässig unter anderem über die
Ausstände gegenüber der Ausgleichskasse ins Bild zu setzen und nötigenfalls
Massnahmen für eine fristgerechte Bezahlung der geschuldeten Beiträge in die
Wege zu leiten. Ihr ist somit nicht vorzuwerfen, dass sie sich nicht selber
mit der Buchführung befasst hat, sondern dass sie sich trotz Kenntnis der
angespannten Geschäftslage und der Beitragsausstände nicht über die korrekte
Erfüllung dieser Verbindlichkeiten informiert und nötigenfalls Massnahmen für
eine ordnungsgemässe Bezahlung getroffen hat. Indem sie diesen Pflichten
nicht nachgekommen ist, hat sie den eingetretenen Schaden grobfahrlässig
mitverschuldet, was ihre Schadenersatzpflicht nach sich zieht. Zu bejahen ist
auch der Kausalzusammenhang zwischen dem Verschulden und dem eingetretenen
Schaden (vgl. auch Urteil B. vom 26. September 2001 Erw. 3, H 19/01).

Dass die Beschwerdeführerin sich um eine Sanierung der Firma bemüht und dabei
private Mittel investiert hat, vermag zu keinem anderen Ergebnis zu führen.
Diese Umstände vermögen sie nicht von der Haftung zu befreien, da daraus
allein ein Bemühen, die Beitragszahlungs- und Ablieferungspflicht rechtzeitig
zu erfüllen, nicht ersichtlich ist (Urteil K. vom 27. Januar 2003 Erw. 4, H
110/02). Auch vermag das schwierige wirtschaftliche Umfeld die
Beschwerdeführerin nicht zu entlasten. Nach der Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts darf bei derartigen finanziellen
Schwierigkeiten nur so viel Lohn ausbezahlt werden, als die darauf ex lege
entstandenen Beitragsforderungen gedeckt sind (SVR 1995 AHV Nr. 70 S. 214
Erw. 5; Urteil K. vom 4. März 2004 Erw. 5.2, H 34/02).

Der vorinstanzliche Entscheid erweist sich damit als rechtens.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, B.________, G.________, dem Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. Juli 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: