Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 19/2004
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H 19/04

Urteil vom 21. April 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

1.F.________,
2.R.________,

Beschwerdeführer, beide vertreten durch Fürsprecher Rudolf Zinniker,
Frey-Herosé-Strasse 20, 5001 Aarau,

gegen

Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber, Siewerdtstrasse 9, 8050 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 18. November 2003)

Sachverhalt:

A.
F. ________ war bis 13. April 1999 Verwaltungsratspräsident und R.________
bis zum selben Datum Delegierter des Verwaltungsrats der seit ..... im
Handelsregister eingetragenen Firma W.________ AG. Mit Verfügung des
Präsidenten des Bezirksgerichtes Z.________ vom 29. März 1999 wurde der Firma
W.________ AG eine Nachlassstundung von sechs Monaten gewährt. Nach der
Gläubigerversammlung vom 29. November 1999 wurde den Gläubigern mit Schreiben
vom 30. November 1999 mitgeteilt, das Gericht habe einer weiteren
Nachlassstundung von sechs Monaten, d.h. bis 29. März 2000, zugestimmt, und
es sei ein Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung vorgesehen. Auf ihre
Anfrage vom 18. Januar 2000 teilte die Sachwalterin der Firma W.________ AG,
die Firma A.________ AG, der Ausgleichskasse Textil (deren Rechte und
Pflichten seit der Liquidation per 31. Dezember 2000 von der Ausgleichskasse
Zürcher Arbeitgeber wahrgenommen werden) mit, dass mit einer Dividende von
5,13 % zu rechnen sei. Daraufhin machte die Ausgleichskasse mit Verfügung vom
15. Februar 2000 gegenüber F.________ und R.________ eine
Schadenersatzforderung in der Höhe von Fr. 340'096.65 geltend (entsprechend
den ausstehenden AHV/IV/EO- und ALV-Beiträgen sowie den Beiträgen an die
Familienausgleichskasse für die Zeit von November 1998 bis März 1999
zuzüglich Kosten und Verzugszinsen). Hiegegen erhoben sowohl F.________ als
auch R.________ Einspruch.

B.
Die Ausgleichskasse Textil erhob gegen F.________ und R.________ Klage mit
dem Rechtsbegehren, die Beklagten seien zu verpflichten, ihr insgesamt Fr.
319'719.20 an entgangenen Beiträgen sowie Fr. 14'741.- an Verzugszinsen,
Verwaltungskosten, Mahngebühren sowie Betreibungs- und Veranlagungskosten,
insgesamt Fr. 334'460.20 zu bezahlen (nach Reduktion um die Forderung
gegenüber der Familienausgleichskasse von Fr. 5'636.45). In teilweiser
Gutheissung der Klage verpflichtete das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau F.________ und R.________ unter solidarischer Haftbarkeit, der
(nunmehr zuständigen) Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber Schadenersatz in
der Höhe von Fr. 230'303.15 (Forderung gemäss Klage abzüglich ausbezahlter
Nachlassdividende von Fr. 30'948.80, Märzpauschale von Fr. 72'761.75 und
Checkunkosten von Fr. 446.50) zu bezahlen (Entscheid vom 18. November 2003).

C.
F.________ und R.________ erheben Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Klage
abzuweisen; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie weitere Beweise abnehme (insbesondere verschiedene Zeugen
einvernehme).

Während die Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die Rechtsgrundlagen zur subsidiären
Haftung der Organe einer juristischen Person nach Art. 52 AHVG in der bis 31.
Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung (BGE 123 V 15 Erw. 5b mit Hinweisen)
zutreffend dargelegt. Zu erwähnen sind insbesondere die Rechtsprechung zum
Begriff der Grobfahrlässigkeit (BGE 108 V 186 Erw. 1b und 202 Erw. 3a; vgl.
auch BGE 121 V 244 Erw. 4b) und zum Erfordernis des adäquaten
Kausalzusammenhanges zwischen der Missachtung von Vorschriften über die
Beitragsabrechnungs- und die Beitragszahlungspflicht (Art. 14 Abs. 1 AHVG
Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV in der bis 31. Dezember 2000 gültig gewesenen
Fassung) und dem eingetretenen Schaden (BGE 119 V 406 Erw. 4a mit Hinweisen).
Ebenfalls richtig ist der Hinweis, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG), mit welchem zahlreiche Bestimmungen im
Bereich der Alters- und Hinterlassenenversicherung, unter anderem auch Art.
52 AHVG geändert worden sind, vorliegend keine Anwendung findet (vgl. auch
BGE 130 V 1). Darauf wird verwiesen.

2.
Bei der hier streitigen Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG (in der bis
31. Dezember 2002 geltenden Fassung) geht es nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob der angefochtene Entscheid
Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 OG in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
OG sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Gegenstand der Schadenersatzforderung bilden nicht entrichtete
Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit von November 1998 bis Februar 1999,
einschliesslich Verwaltungskostenbeiträge, Mahngebühren, Betreibungskosten
und Verzugszinsen. Die Beschwerdeführer waren während der fraglichen Zeit
Mitglieder des Verwaltungsrates und hatten damit formelle und materielle
Organstellung im Sinne von Art. 52 AHVG und der Rechtsprechung (BGE 114 V 79
Erw. 3 und 213 ff.). Sie unterliegen daher der subsidiären Organhaftung nach
der Rechtsprechung zu Art. 52 AHVG.

4.
Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, ein "Schaden bezüglich der
Monatspauschale Februar 1999" bestehe nicht, weil die entsprechende Rechnung
sich nicht in den Akten befinde und stattdessen bloss eine Mahnung vorliege,
übersehen sie, dass weder Abrechnungspflicht, Beitragsschuld noch Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge von der Zustellung einer Rechnung, einer
Veranlagungs- oder Nachzahlungsverfügung seitens der Ausgleichskasse abhängig
sind, sondern die Beitragsschuld vielmehr im Zeitpunkt der Lohnzahlung von
Gesetzes wegen entsteht (Art. 14 Abs. 1 und Art. 51 AHVG; BGE 110 V 227 Erw.
3a) und mit Ablauf der Zahlungsperiode fällig wird (Art. 34 Abs. 4 AHVV in
der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung).

Was sodann ihren Einwand anbelangt, wonach die Rechnung für die
Novemberpauschale 1998 (vom 9. November 1998) gemäss den Akten am 17. März
1999 bezahlt worden sei, handelt es sich dabei um eine blosse Teilzahlung im
Betrage von Fr. 36'950.-, welche in dem von der Ausgleichskasse ermittelten
und von der Vorinstanz bestätigten Schadensbetrag bereits berücksichtigt
worden ist (Restbetrag von Fr. 37'389.95 statt Fr. 74'339.95).

5.
Im angefochtenen Entscheid wird ein grobfahrlässiges Verhalten der beiden
Beschwerdeführer bejaht mit der Begründung, ihren Überwachungspflichten seien
sie nur ungenügend nachgekommen, hätten sich doch sowohl F.________ als auch
R.________ mit den Angaben des Finanzchefs zufrieden gegeben und die
Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge pflichtwidrig in keiner Weise
kontrolliert. Zu Unrecht bringen die Beschwerdeführer - wie bereits im
kantonalen Verfahren - vor, sie hätten aufgrund der Jahresabrechnung per 31.
Dezember 1998, insbesondere aufgrund des Hinweises auf den Ausgleich des
Kontos nach Bezahlung des angegebenen Betrages, in guten Treuen davon
ausgehen dürfen, dass die Firma der Ausgleichskasse nach Begleichung dieser
Rechnung nichts mehr schulde. Denn von einem Verwaltungsrat darf erwartet
werden, dass er vom System der monatlichen Pauschalen und dem Ausgleich am
Ende des Kalenderjahres mittels Jahresrechnung Kenntnis hat, dies um so mehr
als die Gesellschaft im Vorjahr (1997) auf dieselbe Weise ihre Beiträge
abgerechnet hatte. Da von der im kantonalen Verfahren in diesem Zusammenhang
beantragten Einvernahme des Finanzchefs als Zeugen keine neuen
entscheidwesentlichen Ergebnisse zu erwarten waren, durfte die Vorinstanz von
dessen Befragung absehen, ohne das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 1 BV) zu
verletzen (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 95 Erw. 5b, 122 V 162 Erw.
1d, je mit Hinweisen).

Zu Recht wird im angefochtenen Entscheid das Vorliegen von Gründen, welche
die Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge als erlaubt oder nicht
schuldhaft erscheinen lassen, verneint. Namentlich vermögen die
Beschwerdeführer aus der Stundung der Monatspauschalen für Dezember 1998 und
Januar 1999 (recte wohl: November und Dezember 1998) durch die Kasse nichts
zu ihren Gunsten abzuleiten. Denn selbst wenn die von der Kasse am 24.
Februar 1999 versandte Mahnung mit Nachfristansetzung für die für November
und Dezember 1998 geschuldeten Beiträge als Zahlungsaufschub mit Tilgungsplan
im Sinne der Rechtsprechung gemäss BGE 124 V 253 betrachtet wird, lässt die
Berücksichtigung dieser Zahlungsvereinbarung das Verschulden der
Beschwerdeführer - anders als in dem in BGE 124 V 253 beurteilten Sachverhalt
- nicht in einem milderen Licht erscheinen. Anders als in dem diesem Urteil
zugrunde liegenden Sachverhalt, in welchem der Konkurs über die Firma
eröffnet worden war, bevor die erste Zahlung gemäss Tilgungsplan fällig war,
sodass dem Verwaltungsrat nicht angelastet werden konnte, nicht für die
Einhaltung des Tilgungsplanes gesorgt zu haben, ist den Beschwerdeführern die
fehlende Einhaltung der gesetzten Termine sehr wohl vorzuwerfen. Bereits die
am 12. März 1999 (und damit mehr als zwei Wochen vor der Nachlassstundung)
endende Nachfrist für die für November 1998 geschuldeten Beiträge liessen sie
unbenützt verstreichen, ebenso wie diejenige für die für Dezember 1998
geschuldeten Beiträge, welche am 30. März 1999 und damit praktisch
gleichzeitig mit der Nachlassstundung ablief, ganz abgesehen davon, dass die
Nachlassstundung das Verfügungsrecht des Schuldners über sein Vermögen nur
einschränkt, aber - anders als der Konkurs - nicht aufhebt.

Schliesslich wird im angefochtenen Entscheid auch zutreffend festgehalten,
dass der Fortbestand des Unternehmens nicht von einem vorübergehenden
Nichtbezahlen der Sozialversicherungsbeiträge abhing und die verantwortlichen
Organe angesichts der Geschäftsentwicklung, der finanziellen Situation der
Gesellschaft und des wirtschaftlichen Umfeldes (Rezession in der
Textilindustrie) sowie des hohen Mittelbedarfs nicht davon ausgehen durften,
dass es sich um bloss vorübergehende Zahlungsschwierigkeiten handelte, welche
durch das Nichtbezahlen der Sozialversicherungsbeiträge überbrückt werden
könnten (BGE 108 V 183 ff.). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von
den Beschwerdeführern eingereichten, durch die Firma A.________ AG
erstellten Situationsanalyse vom 1. Oktober 1998, welche als Fazit
unmissverständlich festhält, dass die Firma W.________ AG in einer
schwierigen Situation steckte und Mühe hatte, existenzsichernde
Deckungsbeiträge zu erreichen. Sodann ergibt sich aus der Tatsache, dass der
Personalfürsorgefonds bzw. das Amt für berufliche Vorsorge um eine Erhöhung
des bereits gewährten Darlehens angefragt wurde, dass eine Weiterführung des
Unternehmens nur mit einer weiteren Verschuldung möglich gewesen wäre. Dass
die Vorinstanz unter diesen Umständen in antizipierter Beweiswürdigung von
der in diesem Zusammenhang beantragten Einvernahme der Zeugen B.________ und
S.________ abgesehen hat, ist nicht zu beanstanden.

Andere Gründe, welche die Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge als
erlaubt oder nicht schuldhaft erscheinen liessen, sind nicht ersichtlich.

6.
Ein Mitverschulden der Ausgleichskasse hat die Vorinstanz mit zutreffender
Begründung, auf welche verwiesen wird, ausgeschlossen. Die dagegen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwände sind nicht geeignet, zu
einem abweichenden Ergebnis zu führen.

7.
Was schliesslich die Verlegung der Parteientschädigung im vorinstanzlichen
Verfahren anbelangt, machen die Beschwerdeführer mit Blick auf die in Frage
stehende Solidarhaftung zu Unrecht geltend, der Streitwert habe Fr.
668'920.40 betragen, weil die Ausgleichskasse von ihnen beiden je Fr.
334'460.20 gefordert habe. Hingegen beanstanden sie zu Recht, dass das
Obsiegen der Ausgleichskasse im vorinstanzlichen Verfahren mit drei Vierteln
gewertet wurde, weil der zugesprochene Schadenersatz von Fr. 230'303.15 nur
etwas mehr als zwei Drittel von Fr. 334'460.20 entspricht. Insoweit ist die
Feststellung im vorinstanzlichen Entscheid offensichtlich unrichtig und zu
korrigieren, sodass die Parteientschädigung für den kantonalen Prozess auf
Fr. 3'758.10 (statt Fr. 2'818.60) festzusetzen ist (1/3 von Fr. 11'274.35).

Da die Beschwerdeführer nur in einem Nebenpunkt von untergeordneter Bedeutung
obsiegen, in der Hauptsache aber unterliegen, haben sie die Gerichtskosten zu
tragen und können sie keine Parteientschädigung beanspruchen (Art. 159 Abs. 1
OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird insoweit teilweise gutgeheissen, als
Dispositiv-Ziffer 3 des Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons
Aargau vom 18. November 2003 aufgehoben wird und die Parteientschädigung für
das kantonale Verfahren auf Fr. 3'758.10 festgesetzt wird. Im Übrigen wird
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7'000.- werden je zur Hälfte (je Fr. 3'500.-) den
Beschwerdeführern auferlegt. Sie sind durch die geleisteten Kostenvorschüsse
von je Fr. 7'000.- gedeckt; der Differenzbetrag von Fr. 7'000.- wird den
Beschwerdeführern je hälftig (je Fr. 3'500.-) zurückerstattet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 21. April 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: