Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 198/2004
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H 198/04
H 199/04

Urteil vom 10. Juni 2005
IV. Kammer

Bundesrichter Meyer, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Grünvogel

H 198/04
N.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt André Schlatter,
Oberer Graben 26, 9000 St. Gallen,

und

H 199/04
V.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt André Schlatter,
Oberer Graben 26, 9000 St. Gallen,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8501 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin,

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheide vom 17. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Am 20. Januar 2003 wurde über die Firma J.________ AG der Konkurs eröffnet,
welcher mit Verfügung des Konkursrichters des Bezirksgerichts X.________ vom
2. Dezember 2004 nunmehr geschlossen worden ist. Bereits am 27. August 2003
hatte die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau gegen die ehemaligen
Verwaltungsräte der Firma, N.________ und V.________, eine Verfügung auf
solidarische Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 62'546.- für
entgangene bundes- und kantonalrechtliche Sozialversicherungsbeiträge
erlassen. Mit Einsprachentscheiden vom 20. und 21. Januar 2004 hielt sie an
den Schadenersatzverfügungen fest.

B.
Dagegen erhoben N.________ und V.________ gemeinsam Beschwerde. Die
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau trennte die Verfahren (Nr.
92/2004 und 93/2004) und erliess alsdann am 17. September 2004 zwei separate
Entscheide. Dabei wies sie die Beschwerde(n) ab (Dispositiv-Ziffer 1).
Zugleich wurde die Ausgleichskasse angehalten, N.________ und V.________ eine
allfällige Konkursdividende abzutreten (Dispositiv-Ziffer 2).

C.
N.________ und V.________ lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerden führen mit
den Anträgen auf Aufhebung von Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheides und
sinngemäss auch des ganzen Einspracheentscheids.

Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung, während sich N.________ und V.________ zu den
Verwaltungsgerichtsbeschwerden des jeweils anderen noch speziell äussern.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerden richten sich gegen zwei formell getrennte
Entscheide der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau. Indessen sind die
vorinstanzlich festgestellten tatsächlichen wie auch die rechtserheblichen
Verhältnisse im Fall der beiden Beschwerdeführer praktisch identisch und ihre
letztinstanzlichen Eingaben zudem weitgehend deckungsgleich, weshalb es sich
rechtfertigt, die Verfahren zu vereinigen und ein Urteil zu erlassen (vgl.
BGE 128 V 194 Erw. 1, 126 Erw. 1 mit Hinweisen).

2.
Den verfügten, durch Einsprache- und vorinstanzliche Entscheide bestätigten
Schadenersatzforderungen liegen auch entgangene Beiträge an die kantonale
Familienausgleichskasse zu Grunde. Insofern ist auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerden nicht einzutreten (Art. 128 OG).

3.
Da es sich bei den angefochtenen Verfügungen nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

4.
Von den Haftungsvoraussetzungen, welche nach der Rechtsprechung zu Art. 52
AHVG erfüllt sein müssen, damit eine Person für ausgefallene
Sozialversicherungsbeiträge ersatzpflichtig wird (Schaden;
Widerrechtlichkeit; Kausalität; qualifiziertes Verschulden; Arbeitgeber
[Organ]Stellung; Verwirkungs- und nun [vgl. die auf den 1. Januar 2003 in
Kraft getretenen Abs. 3 und 4 des Art. 52 ATSG] Verjährungsfristwahrung) ist
auf Grund der beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden einzig der Vorwurf
grobfahrlässiger Sorgfaltspflichtverletzung zu prüfen. Die übrigen
Haftungsvoraussetzungen wie auch das Massliche der bundesrechtlichen
Schadenersatzpflicht sind weder auf Grund der Parteivorbringen noch nach der
Aktenlage im Lichte des auch im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG geltenden
Untersuchungsgrundsatzes (BGE 97 V 137 Erw. 1) näher zu prüfen (BGE 110 V 53
Erw. 4a). Auch kann unter Hinweis auf die in den angefochtenen Entscheiden
von der kantonalen Rekurskommission korrekt wiedergebene Rechtsprechung zum
grobfahrlässigen Verschulden (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 202 Erw. 3a; vgl. auch
BGE 123 V 15 Erw. 5b, 121 V 244 Erw. 4b) darauf verzichtet werden, diese
letztinstanzlich zu wiederholen.

5.
Die von den Beschwerdeführern - formell - verwaltete Gesellschaft wurde am
23. Juli 2001 gegründet und hatte von Anfang an wirtschaftliche
Schwierigkeiten, insbesondere auch Mühe, die wiederholt betreibungsrechtlich
eingeforderten AHV-Beiträge zu zahlen. Spätestens anlässlich der
Verwaltungsratssitzung vom 7. November 2002 hatten die Beschwerdeführer
Kenntnis davon, dass sämtliche Bankkonten des bereits vorgängig
Geldleistungen in die Firma einschiessenden Alleinaktionärs Y.________
untersuchungsrichterlich blockiert worden waren. Am 21. November 2002 folgte
alsdann die Sperrung der Firmenkonten, ehe die Gesellschaft am 20. Januar
2003 in Konkurs fiel. Die Beschwerdeführer hatten noch kurz davor auf den 11.
Dezember 2003 als Verwaltungsräte demissioniert. Die von der Ausgleichskasse
eingeforderten Ausstände beschlagen von der Firma unbezahlt gebliebene
Sozialversicherungsbeiträge für das Jahr 2001, den April, Oktober und
November 2002.

6.
Basis der Zusammenarbeit mit Y.________ bildete der Mandats- und
Treuhandvertrag je vom 20. Juli 2001, in welchem N.________, V.________ und
F.________ sich als Treuhänder verpflichteten, für den Treugeber (Y.________)
treuhänderisch eine Aktiengesellschaft zu gründen und nach seinen Weisungen
zu verwalten. Soweit die Beschwerdeführer sich darauf berufen, dass sie sich
ihrer gesetzlichen Befugnisse auf Grund dieses Treuhandvertrages begeben und
in der Firma faktisch nichts zu sagen gehabt hätten, muss ihnen die ständige
Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, entgegengehalten werden, wonach die
auf der Grundlage eines solchen Treuhandvertrages zu Stande gekommene
Verwaltungsratsstellung nicht als Entlastungs- oder Entschuldigungsgrund
angeführt werden kann (HAVE 2003 S. 251; Urteil F., S. und B. vom 4. Dezember
2003, H 173/03, Erw. 4.3.2 mit Hinweisen). Dass die Ausgleichskasse
Y.________, welcher nach der Aktenlage durchaus als faktisches Organ
erscheint, bisher - aus welchen Gründen auch immer - nicht
schadenersatzrechtlich belangt hat (was auch gegenüber faktischen Organen
zulässig ist; BGE 119 V 87 Erw. 5a mit Hinweisen; SVR 2003 AHV Nr. 5 S. 13
Erw. 4.2), hilft den Beschwerdeführern ebenfalls nicht weiter.

7.
Entscheidend für die Schadenersatzpflicht spricht folgender Umstand.

In beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden wird ausgeführt:
"Der Alleinaktionär und Hauptgeldgeber, Y.________, welcher die
Liquiditätsmittel bereitzustellen hatte und auch tat, wurde vom
Beschwerdeführer am 26. August 2002 ausdrücklich auf die Liquiditätsengpässe
hingewiesen (act. 2 [Verwaltungsratssitzungsrapport vom 26. August 2002]). Im
gleichen Schreiben wurde dieser sogar vor die Entscheidung gestellt, entweder
die Unternehmung zu schliessen oder neue Mittel sofort einfliessen zu lassen.
Es gilt in diesem Zusammenhang zu beachten, dass gemäss der Verfügung der AHV
Thurgau vom 27. August 2003 die Beiträge für die Monate August und September
2002 geleistet wurden. Hätte der Hauptaktionär nach dem 26. August 2002
gehandelt und die Gesellschaft damals aufgelöst oder das versprochene Kapital
in die Unternehmung eingebracht, was alleine und einzig in seiner Kompetenz
lag, dann wäre der AHV Thurgau auch kein Schaden entstanden. Y.________ hatte
entschieden, die Unternehmung weiterzuführen und rasch finanzielle Mittel
bereitzustellen, daher behielt der Beschwerdeführer das Mandat.

(...) Das Vertrauen des Beschwerdeführers auf die zugesagten Zuschüsse war
berechtigt, da die Gelder bisher immer flossen."
Und in den Stellungnahmen zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde des jeweils
anderen wird vorgebracht:
"Einerseits haben die Beschwerdeführer im Vorfeld alles unternommen, um vom
Hauptaktionär und faktischen Organ flüssige Mittel bzw. mindestens eine
Zusage, dass die 'Finanzspritzen' von Y.________ zur rechten Zeit in das
Unternehmen eingebracht würden, zu erhalten. Dank den zahlreichen
Interventionen der Beschwerdeführer sind sowohl tatsächlich finanzielle
Mittel vom Hauptaktionär, Y.________, in die Firma J.________ AG geflossen,
um damit insbesondere offene AHV-Beiträge zu bezahlen, als auch die konkrete
Mittelzusage und darüber hinaus sogar eine vielversprechende
Unternehmensvision von Y.________ an die Beschwerdeführer abgegeben worden."
Diese Ausführungen zeigen mit aller Deutlichkeit, dass sich die
Beschwerdeführer auf Grund des erwähnten Treuhandvertrages auf ein
Unternehmen einliessen, welches wirtschaftlich gesehen schon kurze Zeit nach
dessen Gründung nicht aus eigener Kraft lebensfähig war. Vielmehr bedurfte es
ausserordentlicher, d.h. nicht aus dem laufenden Betriebsertrag fliessender
Aufwendungen, um überhaupt die Löhne (und damit auch die Lohnnebenkosten)
bezahlen zu können. Ob das Verhalten des Y.________ geeignet war, in den
beiden Beschwerdeführern berechtigtes Vertrauen in die Annahme zu wecken, er
würde wie bereits früher weiterhin à-fonds-perdu-Beiträge leisten, ist eine
Frage, welche im internen zivilrechtlichen Verhältnis der Vertragspartner
unter Umständen erheblich sein kann, nicht aber gegenüber der Ausgleichskasse
als aussenstehendem Dritten, welche von vornherein keinen Einblick in solche
Vorgänge hat. Dementsprechend erübrigen sich die beantragten Abklärungen in
diese Richtung. Die Zahlung der Löhne und der darauf geschuldeten
Sozialversicherungsbeiträge hing nicht vom - kraft Verwaltungsratsstellung
überblickbaren - Erfolg oder Misserfolg des Geschäftsganges ab, sondern
vielmehr nach den gegebenen Umständen einzig von der Bereitschaft des
Y.________, sich weiterhin finanziell zu engagieren. Angesichts der seit
längerer Zeit bekannten angespannten finanziellen Situation der Firma hätte
es eindeutig Sache der Beschwerdeführer sein müssen, dafür besorgt zu sein,
dass einerseits keine weiteren Löhne ohne das Abführen der
Sozialversicherungsbeiträge ausbezahlt und andererseits bereits fällige
Beiträge ausgeglichen werden. Darauf hat bereits die Vorinstanz verwiesen.
Die Tatsache, dass die Beschwerdeführer dies unterlassen und sich statt
dessen auf die Zusicherungen von Y.________, weitere Gelder einzuschiessen
oder erhältlich zu machen, verlassen haben, begründet,
sozialversicherungsrechtlich betrachtet, den Vorwurf qualifizierter
Sorgfaltspflichtverletzung. Denn in einer wirtschaftlich so katastrophalen
Situation, wie sie aus dem Rapport über die Sitzung vom 26. August 2002
hervorgeht, konnte nicht mit dem Einschiessen weiterer beträchtlicher Mittel
durch Y.________ gerechnet werden. Ein Erfolg versprechendes, nachhaltiges
Sanierungskonzept, welches unter Umständen einen zeitweiligen Aufschub der
fälligen Sozialversicherungsabgaben hätte rechtfertigen können, lag  nicht
vor (vgl. BGE 108 V 186 Erw. 1b und 193 Erw. 2b; ZAK 1985 S. 576 Erw. 2 und
619 Erw. 3a; Urteil G. vom 2. Februar 2005, H 86/02, Erw. 5.4.2.1 mit
Hinweisen), zumal bei zwei bis drei Jahren, die es für den erhofften
Markterfolg durch Lancierung einer neuen Marke bedurfte, nicht mehr von einem
vorübergehenden Liquiditätsengpass im Sinne dieser Praxis gesprochen werden
kann.

8.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend gehen die Kosten zu Lasten der Beschwerdeführer
(Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verfahren H 198/04 und H 199/04 werden vereinigt.

2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerden werden abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 4000.- werden den Beschwerdeführern je zur Hälfte
auferlegt. Sie sind durch die geleisteten Kostenvorschüsse von je Fr. 4000.-
gedeckt; die Differenzbeträge von je Fr. 2000.- werden zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 10. Juni 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Vorsitzende der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: