Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 186/2004
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H 186/04

Urteil vom 14. März 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

D.________, Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 31. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Am 12. Juli 2002 wurde über die X.________ AG der Konkurs eröffnet, welcher
am 11. Februar 2003 mangels Aktiven eingestellt wurde. Am 21. November 2003
erliess die Ausgleichskasse des Kantons Aargau gegen den ehemaligen
Verwaltungsrat der X.________ AG, D.________, eine Verfügung auf Bezahlung
von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 51 204.90 für entgangene
bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge. Die hiegegen erhobene
Einsprache wies sie mit Entscheid vom 4. Februar 2004 ab.

B.
D.________ führte hiegegen Beschwerde und beantragte in prozessualer Hinsicht
die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Mit Entscheid vom 31. August
2004 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ohne
Durchführung einer Verhandlung ab.

C.
D.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung
des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zur
Neubeurteilung zurückzuweisen.

Das kantonale Gericht, die Ausgleichskasse des Kantons Aargau und das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, dass das
kantonale Gericht dem Begehren um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung
nicht stattgegeben hat. Dieser prozessuale Einwand ist vorab zu prüfen.

2.
2.1 Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person das Recht darauf, dass über
Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und
Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von
einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem
fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung stellt ein fundamentales Prinzip
dar, das nicht nur für den Einzelnen wichtig ist, sondern ebenso als
Voraussetzung für das Vertrauen in das Funktionieren der Justiz erscheint.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezieht sich sowohl auf die
Parteiöffentlichkeit als auch auf die Publikums- und Presseöffentlichkeit. Er
umfasst u.a. den Anspruch des Einzelnen, seine Argumente dem Gericht mündlich
in einer öffentlichen Sitzung vortragen zu können. Dagegen gilt das
Öffentlichkeitsprinzip nicht für die Beratung des Gerichts; diese kann unter
Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden. Was die Verkündung des Urteils
betrifft, so ist dem Öffentlichkeitsanspruch Genüge getan, wenn das Urteil in
der Kanzlei des Gerichts von der interessierten Öffentlichkeit eingesehen und
im Bedarfsfall als Kopie verlangt werden kann. Eine mündliche Eröffnung ist
nicht erforderlich (BGE 122 V 51 Erw. 2c; 121 I 35 Erw. 5d; 119 Ia 420 f.
Erw. 5 mit Hinweisen).

2.2 Für den Prozess vor dem kantonalen Versicherungsgericht bestimmt Art. 61
lit. a ATSG, dass das Verfahren in der Regel öffentlich ist. Es wird damit
der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geforderten Öffentlichkeit des Verfahrens
Rechnung getragen (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000,
Zürich 2003, N 26 zu Art. 61), welche primär im erstinstanzlichen
Rechtsmittelverfahren zu gewährleisten ist (BGE 122 V 54 Erw. 3; RKUV 2004
Nr. U 497 S. 155 Erw. 1.2). Nach der Rechtsprechung setzt die Durchführung
einer öffentlichen Verhandlung im Sozialversicherungsprozess grundsätzlich
einen Parteiantrag voraus (BGE 125 V 38 Erw. 2, 122 V 55 Erw. 3a; RKUV 2004
Nr. U 497 S. 155 Erw. 1.2; Urteil K. vom 8. April 2004, I 573/03, Erw. 3.7.1
mit Hinweisen, auszugsweise publiziert in EuGRZ 2004 S. 724 und SZS 2004 S.
421 f.). Fehlt es an einem Antrag, wird ein Verzicht auf eine öffentliche
Verhandlung angenommen, und es lässt sich in der Regel gegen ein
ausschliesslich schriftliches Verfahren nichts einwenden, es sei denn,
wesentliche öffentliche Interessen würden eine mündliche Verhandlung gebieten
(BGE 122 V 55 Erw. 3a; erwähntes Urteil I 573/03, Erw. 3.4 und 3.7.1 je mit
Hinweisen). Der Antrag auf mündliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK muss klar und unmissverständlich vorliegen (BGE 125 V 38 Erw. 2, 122 V
55 Erw. 3a; RKUV 2004 Nr. U 497 S. 155 Erw. 1.2; erwähntes Urteil I 573/03,
Erw. 3.7.1). Verlangt eine Partei beispielsweise lediglich eine persönliche
Anhörung oder Befragung, ein Parteiverhör, eine Zeugeneinvernahme oder einen
Augenschein, liegt bloss ein Beweisantrag vor, aufgrund dessen noch nicht auf
den Wunsch auf eine konventionskonforme Verhandlung mit Publikums- und
Presseanwesenheit zu schliessen ist (BGE 125 V 38 Erw. 2, 122 V 55 Erw. 3a).

2.3 Die EMRK sieht in Satz 2 von Art. 6 Ziff. 1 gewisse, hier nicht näher
interessierende Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens vor
(vgl. hiezu BGE 122 V 52 Erw. 2c in fine mit Hinweisen). Darüber hinaus kann
auch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren (auf Besonderheiten des
zweitinstanzlichen Gerichtsverfahrens braucht nicht eingegangen zu werden)
selbst dann, wenn die berechtigte Person nicht auf eine öffentliche
Verhandlung verzichtet hat - insbesondere wenn sie einen ausdrücklichen
Antrag auf Durchführung einer solchen gestellt hat -, bei Vorliegen
besonderer Umstände von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung
abgesehen werden (erwähntes Urteil I 573/03, Erw. 3.4 mit Hinweisen).

2.4 Nach der Rechtsprechung fällt der Sozialversicherungsprozess sowohl bei
Leistungs- als auch bei Abgabestreitigkeiten und Schadenersatzverfahren nach
Art. 52 AHVG unter Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 122 V 50 Erw. 2a mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer hatte somit im vorinstanzlichen Verfahren gestützt auf
Art. 61 lit. a ATSG und Art. 6 Ziff. 1 EMRK grundsätzlich Anspruch auf eine
öffentliche und mündliche Verhandlung. Diese hatte er in der vorinstanzlichen
Beschwerdeschrift ausdrücklich beantragt. Liegt ein Antrag vor, ist eine
öffentliche und mündliche Verhandlung grundsätzlich anzuordnen. Davon darf
nur ausnahmsweise abgesehen werden (BGE 122 V 55 Erw. 3b mit Hinweisen). Zu
prüfen ist im Folgenden, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Durchführung
einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung verzichtet hat.

3.
3.1 Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
(zusammengefasst in den Urteilen K. vom 8. April 2004 [I 573/03], und J. vom
17. September 2004 [U 210/03]) stellen folgende Situationen besondere
Umstände dar, unter denen im erstinstanzlichen Sozialversicherungsprozess
trotz Nichterfüllung der im zweiten Satz von Art. 6 Ziff. 1 EMRK aufgezählten
Ausnahmetatbestände und trotz Vorliegens eines Gesuchs um Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung von der Anordnung einer solchen abgesehen werden
kann: Der Antrag wurde nicht frühzeitig genug gestellt; der Antrag erscheint
als schikanös oder lässt auf eine Verzögerungstaktik schliessen und läuft
damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider oder
ist gar rechtsmissbräuchlich; es lässt sich auch ohne öffentliche Verhandlung
mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen, dass eine Beschwerde
offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist; es steht eine Materie
hochtechnischen Charakters zur Diskussion (dazu Urteil K. vom 26. Juli 2004,
U 311/03); das Gericht gelangt auch ohne öffentliche Verhandlung schon allein
aufgrund der Akten zum Schluss, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die
Verhandlung beantragenden Partei zu entsprechen ist (BGE 122 V 55 - 58 Erw.
3b; SVR 1996 KV Nr. 85 S. 271 Erw. 4c). Auch nach der Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts fällt zu Gunsten der Durchführung einer
mündlichen Verhandlung ins Gewicht, wenn eine solche geeignet ist, zur
Klärung allfälliger noch streitiger Punkte beizutragen (vgl. BGE 122 V 59
Erw. 4c und Urteil H. vom 13. Februar 2001, I 264/99, Erw. 2b). Das
Eidgenössische Versicherungsgericht hat im erwähnten Urteil I 573/03, Erw.
3.10, offen gelassen, ob seine Praxis in allen Teilen mit der Rechtsprechung
des EGMR vereinbar ist.

3.2 Das kantonale Gericht begründete den Verzicht auf Durchführung einer
öffentlichen und mündlichen Verhandlung damit, der Beschwerdeführer habe im
Einspracheverfahren vor der Ausgleichskasse in aller Ausführlichkeit
dargelegt, warum ihn seiner Meinung nach kein Verschulden und damit keine
persönliche Haftbarkeit gemäss Art. 52 AHVG treffe. Seine Darlegungen seien
allein auf Grund der Aktenlage auch für das Versicherungsgericht genügend
nachvollziehbar und vermittelten diesem alle notwendigen Informationen, die
es zur Urteilsfällung benötige. Es sei nicht zu erwarten, dass der
Beschwerdeführer anlässlich einer mündlichen Verhandlung zusätzliche
Sachverhaltspunkte vorbringen könnte, welche die sich aus den Akten ergebende
Sachlage in einem anderen Licht erscheinen lassen würde. Die wesentlichen und
für das vorliegende Verfahren relevanten Tatfragen ergäben sich ohne weiteres
aus den vorliegenden Akten. Selbst bei Durchführung einer mündlichen
Verhandlung seien keine relevanten Informationen mehr zu erwarten.
Insbesondere sei darauf hinzuweisen, dass es dem Beschwerdeführer offenbar
nur darum gehe, seine "Exkulpationsgründe" noch einmal vor Gericht
darzulegen. Zudem ergebe sich die Unbegründetheit seiner Beschwerde schon
allein und zweifelsfrei aus den eingereichten Akten und seinen Ausführungen.
Wenn der Beschwerdeführer in der Beschwerde in Aussicht stelle, weitere
Ausführungen und Beweise für sein fehlendes Verschulden an der mündlichen
Verhandlung vorzubringen, so könne auf die entsprechenden Beweisanträge und
auf weitere Beweisabnahmen im Sinne einer antizipierten Beweiswürdigung
verzichtet werden (Hinweis auf BGE 127 V 494 Erw. 1b, 122 V 162 Erw. 1d; SVR
2003 AHV Nr. 4 S. 11 Erw. 4.2.1 mit Hinweisen).

3.3 Wie bereits erwähnt, hat der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 61 lit. a
ATSG und Art. 6 Ziff. 1 EMRK grundsätzlich Anspruch auf die Durchführung
einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung. Namentlich stellt nunmehr Art.
61 lit. a ATSG die Mündlichkeit im Sozialversicherungsprozess als Regelfall
dar, auch wenn bereits im vorgeschalteten Administrativ- und
Einspracheverfahren die Partei umfassend Gelegenheit hatte, sich zur Sache zu
äussern. Mit diesem Argument kann die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht abgelehnt werden.
Auch der Einwand, es sei nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer
anlässlich einer mündlichen Verhandlung zusätzliche Sachverhaltspunkte
vorbringen könnte, welche die sich aus den Akten ergebende Sachlage in einem
anderen Licht erscheinen lasse, ist unbehelflich. Zum einen ist es angesichts
der umfassenden Kognition des erstinstanzlichen Sozialversicherungsgerichts
ohne weiteres möglich, dass ein Beschwerdeführer zusätzliche
Sachverhaltselemente oder rechtliche Gesichtspunkte im mündlichen Verfahren
einbringt. Zum andern bestimmt Art. 61 lit. a ATSG trotz vorangehendem
Einspracheverfahren und einer schriftlichen Beschwerdeschrift als Regelfall
die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Schliesslich ist auch das
Argument, die Unbegründetheit seiner Beschwerde ergebe sich schon allein und
zweifelsfrei aus den eingereichten Akten und seinen Ausführungen, nicht
stichhaltig. Das kantonale Gericht bezeichnet denn auch die vorinstanzliche
Beschwerde nicht als offensichtlich unbegründet. Es kann daher auch im
vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob die Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts in allen Teilen - insbesondere in Bezug
auf das Kriterium der offensichtlichen Unbegründetheit - mit jener des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vereinbar ist (vgl. erwähntes
Urteil I 573/03).

3.4 Nach dem Gesagten bestand somit kein ausreichender Grund, um
ausnahmsweise von einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung abzusehen.
Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache zur
Durchführung einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

4.
Ausgangsgemäss hat die Ausgleichskasse als unterliegende Partei die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 OG). Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege nach Art. 152 Abs. 1 OG ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der vorinstanzliche
Entscheid vom 31. August 2004 aufgehoben und die Sache zur Durchführung einer
öffentlichen und mündlichen Verhandlung und zu neuem Entscheid an das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Ausgleichskasse des Kantons
Aargau auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: